Abgebrannte Busse in Hongkong
Abgebrannte Busse in Hongkong | Foto: IMAGO / Marcel Lorenz
Politik

Diese deutsche Austauschstudentin will trotz der Proteste in Hongkong bleiben

"Ich bin zu neugierig, um Angst zu haben."

Seit Monaten bestimmen Massenproteste das Leben in Hongkong. Schon im August demonstrierten mehr als eine Million Menschen gegen eine geplante Justizreform der pro-chinesischen Regierung. Von Tag zu Tag werden die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrierenden heftiger.

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Zuletzt verschanzten sich mehrere hundert Studierende in der polytechnischen Universität. Aus Angst vor der Polizei harrten sie tagelang auf dem Campus aus. Vielerorts brennt es, Tränengas liegt in der Luft, Molotow-Cocktails fliegen.

Als Jasmine ihr Auslandssemester in Hongkong plante, hatte sie sich das irgendwie anders vorgestellt. Die angehende Wirtschaftsingenieurin dachte an das Leben in einer riesigen Metropole und an Reisen durch Asien. Ein Austausch in die USA klang für Jasmine zu gewöhnlich.

Jetzt lebt die 22-Jährige mitten im Chaos. Viele deutsche Studierende haben die chinesische Sonderverwaltungszone bereits verlassen. Sie hörten auf ihre Heimat-Universitäten, die ihnen die Abreise dringend empfohlen hatte, ihre besorgten Eltern und vielleicht auch auf ihr Bauchgefühl. Jasmine will vorerst bleiben. Um zu vermeiden, dass Jasmine Probleme mit ihrem Visum bekommt, haben wir ihren Namen geändert.

VICE: Du bist seit August in Hongkong. Wie war die Situation zu Beginn Deines Auslandssemesters?
Jasmine: Ich kam in Hongkong an, als die Demonstranten gerade den Flughafen belagerten. Da wurden zwar alle Flüge gestrichen, in der Stadt war es damals noch ruhig. Richtig los ging es erst mit den Zusammenstößen am chinesischen Nationalfeiertag im Oktober.

Gegen das, was in den letzten fünf Tagen los war, war selbst das ein Klacks. Die Lage ist komplett eskaliert. Wenn du heute in die Stadt gehst, kriegst du hundertprozentig Tränengas ab und Polizeieinsätze und Straßenschlachten mit. Ich gehe nicht mehr ohne meine Maske aus dem Haus, weil ich selbst schon Tränengas abbekommen habe.

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"Dann kam der Schuss vom Tränengas."

Weil du dich an Protesten beteiligt hast?
Du musst die Proteste gar nicht mehr suchen, die Proteste finden dich. Gestern war ich mit einem Kumpel unterwegs. Wir wollten auf einen Markt gehen, um ein paar Souvenirs einzukaufen. Als wir zurück in die Uni fahren wollten, haben wir eine Menschenansammlung vor der Metro gesehen, viele Leute mit schwarzen Atemschutz-Masken und lose Ziegelsteine auf der Straße.

Auf einmal schrien die Leute und sind gerannt. Aus einer Kurzschlussreaktion sind wir natürlich mitgerannt. Dann kam der Schuss vom Tränengas. Fünf Sekunden später kam der Nebel. Wir hatten Glück, dass eine Shopping-Mall ihre Rollläden noch nicht runtergelassen hatte. Wir sind da rein und haben gewartet, bis das Tränengas verflogen ist.

Wie wird dein Leben als Austauschstudentin von den Ausschreitungen beeinflusst?
Die größten Einschränkungen für mich gibt es bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, manche Metro-Stationen haben gebrannt oder sind eingeschlagen worden. Die Uni sagt uns regelmäßig: "Bleibt bitte am Campus. Es ist nicht sicher in der Stadt." Aber gezwungen werden wir natürlich nicht. An einigen Tagen haben alle Restaurants zu. Es gibt dann nur noch einen Laden, wo du Lebensmittel kaufen kannst.

Warum gehen die Menschen in Hongkong überhaupt auf die Straße?
Die Unabhängigkeit von China ist das Ziel. Man weiß ja, wie viele Einschränkungen es dort gibt, was das Internet oder die Berichterstattung angeht. Überall in der Stadt sieht man die "Five Demands" der Demonstranten, also die fünf Forderungen. Dabei geht es zum Beispiel um das Auslieferungsgesetz mit China.

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Mein Eindruck ist aber mittlerweile, dass gerade die Jugendlichen und Studenten die Situation ausnutzen, um generell ihren Frust rauszulassen. Wenn ich einen beschissenen Tage habe, gehe ich nachts randalieren. Nicht immer gibt es einen politischen Hintergrund.

In den letzten Tagen belagerte die Polizei die polytechnische Universität, wo Hunderte Protestierende Zuflucht gesucht haben. Warum führen Studierende den Protest an?
Ich denke, dass sie Angst um ihre Zukunft haben. Die alten Leute leben schon immer mit China zusammen. Die kennen nichts anderes. Die jungen Leute wissen, dass es möglich ist, freier zu leben. An meiner Universität hat jeder einen Local Buddy, der einem die Stadt zeigen soll. Ich war letztens mit meinem Buddy unterwegs und habe versucht, über die Demonstrationen zu sprechen.

Da hat sie mich direkt unterbrochen und zu flüstern begonnen: "In der Area hier sollten wir das Thema besser nicht bereden, weil hier viele pro-chinesische Leute leben." Sie will einfach keine Probleme haben. Einige Locals haben Angst, angegriffen zu werden, wenn sie offen über die Lage reden.

Straße in Hongkong nach Protesten

Foto: imago images | Marcel Lorenz

Hast du eigentlich überhaupt keine Angst?
Ich weiß, dass viele Angst haben. Mein Buddy geht gar nicht mehr aus dem Haus, die hat richtig Panik. Sobald irgendwer auf der Straße schreit, schaut sie sich nervös um. Viele Austauschstudierende sind noch an dem Tag abgereist, als das Semester endete.

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Ich bin zu neugierig, um Angst zu haben. Am Anfang, als noch nicht jeden Tag Tränengas geschossen wurde, habe ich die Proteste schon aktiv gesucht. In letzter Zeit, wenn ich in der Demonstration stehe und die Schüsse vom Tränengas höre, denke ich mir: "Oh, jetzt bin ich vielleicht ein bisschen zu weit gegangen."

Wirklich geschockt hat mich das Video eines Kumpels. Von dem Fenster seiner Unterkunft hat er gefilmt, wie zwei kleine Minibusse explodieren. Wir fahren täglich damit. Du kannst dir nirgendwo hundert Prozent sicher sein.

"Ein Student meiner Uni ist bei den Protesten gestorben."

Gab es auch Momente, in denen du überlegt hast, mit deinen Hongkonger Kommilitonen zu protestieren?
Das einzige Mal, wo ich mich aktiv beteiligt habe, war vor zwei Wochen. Ein Student meiner Uni ist bei den Protesten gestorben. Er ist wegen des Tränengases von einem Parkhaus gestürzt und hat sich am Kopf verletzt.

Wäre der Krankenwagen rechtzeitig aufgetaucht, würde er vielleicht noch leben. Die Polizeibusse haben die Krankenwagen blockiert. In der Wartezeit ist er ins Koma gefallen und nach drei Tagen verstorben.

Es gab eine inoffizielle Trauerfeier für ihn. Es wurden schwarze Masken verteilt, das Symbol der Protestierenden. Wir haben alle Poster von dem Studenten bekommen und sind zum Büro unseres Präsidenten marschiert. Wir haben verlangt, dass er uns Studenten besser beschützen soll.

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Mittlerweile droht die Polizei, mit scharfer Munition zu schießen. Die Demonstrierenden setzen Steinschleudern und Molotov-Cocktails ein. Wer ist für die Eskalation verantwortlich?

Auch wenn die Leute aus der Ferne vielleicht wie Randalierer aussehen, ich würde im Notfall eher zu den Protestanten gehen als zu der Polizei. Ich habe auch noch keinen getroffen, der gesagt hat: "Es ist schon gut, dass die Polizei eingreift". Bei meinem ersten Protest bin ich einem Polizisten begegnet, der mich richtig aggressiv angeguckt hat. Er hat auf sein Schutzschild geklopft, als wolle er mich vertreiben. Da war mir klar: Du kannst der Polizei hier kein Stück vertrauen.

Viele Hongkonger haben Angst, dass bald sogar chinesisches Militär zum Einsatz kommt, um die Proteste niederzuschlagen. Wie geht es weiter?
Am Sonntag sind Wahlen. Ich bin mir nicht sicher, wie sich die Situation danach entwickelt. Meine Professoren sagen, sie wissen auch nicht, wie lange es noch gehen wird. Sie sehen kein Ende, man lebt eher von Tag zu Tag.

Bleibst du denn noch in Hongkong oder reist du ab, um der gefährlichen Lage zu entkommen?
Natürlich wollen meine Eltern, dass ich heim komme. Als ich ihnen die Situation hier geschildert habe, wollten sie direkt einen Flug buchen. Aber so schnell kann ich das nicht loslassen. Ich habe die Stadt sehr ins Herz geschlossen. Ich bleibe noch mindestens zwei Wochen. Es sei denn, es wird noch schlimmer.

Manche Freunde sind so schnell abgereist, dass ich ihnen gar nicht mehr Tschüss sagen konnte. Aber für mich ist das hier noch nicht abgeschlossen. Hongkong ist wie eine Heimat für mich. Die kannst du auch nicht so in einer Stunde verlassen.

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