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Amnesie

Wie es ist, wenn du von heute auf morgen all deine Erinnerungen verlierst

"Ich war geschockt, als ich zum ersten Mal vom Holocaust hörte, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass Menschen zu sowas fähig waren", sagt Max Rinneberg.
Illustration: imago | Ikon Images

Wer schon einmal zu viel Spaß mit Alkohol hatte, weiß vermutlich, was ein Filmriss ist. Die Erinnerung daran, wie du die halbe Bar Tequila aus deinem Bauchnabel hast trinken lassen, fehlt genauso wie die Telefonnummer, die du davor abgegriffen hast. Auch wenn du nicht mehr weißt, wie genau du in dein Bett gekommen bist und wer da neben dir schnarcht, erinnerst du dich wenigstens noch an deinen Namen – und dass du in einer halben Stunde deine Mutter zum Brunch treffen sollst.

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Aber was wäre, wenn du aufwachst und dich nicht mal an deinen eigenen Namen erinnerst? Oder an deine Eltern und Freunde, deine Kindheit? Wie es sich anfühlt, seine Identität zu verlieren, weiß der 27 Jahre alte Max Rinneberg aus Kleinostheim bei Aschaffenburg. Er arbeitet heute als stellvertretender Restaurantleiter und Weinsommelier. Vor zehn Jahren stürzte er von einer Treppe und zog sich beim Aufprall ein schweres Schädel-Hirn-Trauma zu. Als er nach kurzer Bewusstlosigkeit im Krankenhaus erwachte, war es, als wäre er an den Strand eines fremden Landes gespült worden. Er war umgegeben von Unbekannten. Wir haben ihn gefragt, wie es war, in dieser unbekannten Welt aufzuwachen.

VICE: Wie war der Moment, als du gemerkt hast, dass du nicht weißt, wer du bist?
Max Rinneberg: Nach meinem Treppensturz kam ich kurz zu mir und habe schnell gemerkt, dass mir etwas fehlt. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Es war fruchtbar irritierend. Es fühlte sich so an, als würde man nicht mehr wissen, wo oben und unten ist, eine völlige Orientierungslosigkeit. Ich wusste nicht, was passiert war und wieso, wer ich bin oder auch nur wo ich bin.

Sind deine alten Erinnerungen für immer weg?
Da gibt es in der Medizin geteilte Meinungen. Viele Ärzte sagen, die Erinnerung seien noch da, wenn auch nicht alle. Aber der Zugriff würde fehlen, bei meinem Sturz seien zu viele Synapsen kaputt gegangen. Andere sind der Ansicht, dass die Erinnerungen einfach komplett ausgelöscht wurden, wie wenn man auf eine Festplatte mit dem Hammer draufschlägt.

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Was hast du alles vergessen?
Es ist einfacher aufzuzählen, was ich nicht vergessen hatte. Sprechen, lesen und schreiben konnte ich noch. Aber nur Deutsch. Alle Fremdsprachen, Englisch und Spanisch, waren weg. Eigentlich alles, was ich in der Schule gelernt hatte. Ich wusste zum Beispiel nicht mehr, dass es einen Zweiten Weltkrieg geben hatte oder wie unsere Welt überhaupt funktioniert. Das war alles weg.


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Wie ist es, wenn man als Erwachsener Mensch zum ersten Mal vom Holocaust erfährt?
Ich war geschockt, als ich zum ersten Mal vom Holocaust hörte, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass Menschen zu sowas fähig waren. Und dann waren das ja nicht nur einzelne, die am Holocaust beteiligt waren, sondern so viele. Das hat mich sehr entsetzt.

Wann hast du gemerkt, dass du keine Fremdsprachen mehr sprichst?
Beim Musikhören wurde mir das erste Mal bewusst, dass ich kein Englisch mehr verstehe. Noch deutlicher wurde es, als ich mit meiner Familie in London war. Da habe ich einfach gar nichts verstanden, die Sprache, die Eindrücke, die Geräusche, das war wie eine Lawine, die auf mir niederging. Und die hat mich komplett fertig gemacht. Sich ausdrücken zu können, ist ja etwas ganz Elementares. Das war schon traurig, aber gleichzeitig war ich auch dankbar, dass mir wenigstens die deutsche Sprache geblieben ist.

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"Heute sagt meine Familie, dass ich ein ganz anderer Mensch bin. Meine Mutter spricht immer davon, dass sie zwei Söhne hat. Wenn ich das höre, muss ich schon schlucken. Ich kenne den anderen Sohn ja nicht"

Und wie war es, als du zum ersten Mal einen Song gehört hast, den du früher geliebt hast?
Ich bin mir sicher, dass ich meinen damaligen Lieblingssong schon einige Male gehört habe. Aber eben nicht in dem Bewusstsein, dass das mal mein Lieblingslied war – ich kenne es ja nicht mehr. Aber das ist auch nicht wichtig. Ich höre heute andere Sachen als vor meinem Unfall. In meiner Plattensammlung von früher habe ich viel Robbie Williams und James Blunt gefunden. Heute höre ich eher Michael Bublé oder Patricia Kaas.

Was ist das Schlimmste an deinem Erinnerungsverlust?
Dass mir meine Kindheit fehlt. Ich frage mich, was ich gespielt habe, wie es im Kindergarten war. Wie hat sich diese Unbeschwertheit angefühlt? Dieses Gefühl und diese Erinnerungen nicht mehr zu haben, das ist ein sehr schmerzhafter Verlust.

Max auf einem aktuellen Foto. Auf Bildern aus der Zeit vor seinem Sturz erkennt er sich nicht | Foto: Max Rinneberg

Erkennst du dich auf Fotos, die vor deinem Sturz gemacht wurden?
Auf Bildern sehe ich zwar, dass ich das bin. Aber ich erkenne mich nicht wieder. Ich kann das Bild nicht als einen Teil von mir wahrnehmen. Das tut schon sehr weh. Deswegen schaue ich auch keine Bilder mehr von damals an. Auch Spielzeug oder Kuscheltiere aus meiner Kindheit habe ich mir bis heute nicht wieder angeschaut, auch wenn es sie noch gibt. Die gehören der Person Max Rinneberg, aber nicht mehr mir. Ich kann damit nichts mehr anfangen. Das ist wie fremdes Eigentum, das nimmt man nicht einfach.

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Hattest du sofort Vertrauen zu deinen Eltern, als du aufgewacht bist?
Nein, das war auch weg, ich musste es komplett neu aufbauen. Als mir ein fremder Mann und eine fremde Frau sagten, sie sind meine Eltern, da haben die beiden einen großen Vertrauensvorschuss von mir bekommen. Aber es war ja auch kein anderer da, ich war froh, dass sich überhaupt jemand meiner angenommen hat. Und meine Eltern haben sich wirklich großartig um mich gekümmert. Meine Familie hat schnell gemerkt, dass ich nicht mehr der Gleiche bin wie vor dem Sturz. Damit mussten sie erstmal zurecht kommen und das akzeptieren. Heute sagt meine Familie, dass ich ein ganz anderer Mensch bin. Meine Mutter spricht immer davon, dass sie zwei Söhne hat. Wenn ich das höre, muss ich schon schlucken. Ich kenne den anderen Sohn ja nicht.

"Mit Freunden von damals kann ich heute nichts mehr anfangen, wir haben keinen Kontakt mehr"

Wie hat es sich angefühlt, als dir eine für dich fremde Frau gesagt hat: "Ich bin deine Mutter."?
Ich wusste nur, dass jeder eine Mutter haben muss. Dann ist mir aufgefallen, dass ich mich an meine Mutter nicht erinnern kann. Der wichtigste Mensch der Welt, der immer für dich da ist, war weg. Das war der schlimmste Moment in meinem Leben.

Hattest du vor deinem Sturz eine Beziehung?
Ich weiß es nicht mehr. Im Krankenhaus hat mich kein Mädchen besucht und auch in den Wochen danach nicht. Meine Freunde erzählten mir, dass es wohl jemanden gegeben hatte, mit der sich vielleicht eine Beziehung anbahnte.

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Sind die Freunde von damals auch heute noch deine Freunde?
Nein, mit denen kann ich heute nichts mehr anfangen, wir haben keinen Kontakt mehr. Ich bin ihnen unheimlich dankbar und wir waren auch eine sehr lange Zeit befreundet. Aber ich habe irgendwann gemerkt, dass ich andere Interessen habe und mich andere Themen beschäftigen.

Misstraust du Menschen, die sagen, dass ihr euch schon lange kennt?
Da reagiere ich relativ gelassen und sage, schön, dann kennst du mich ja eigentlich nicht mehr. Dann gucken die meistens verstört. Aber es ist einfach so: Den, den sie früher gekannt haben, gibt es leider nicht mehr. Ich kenne ihn ja selbst nicht.

Ist dir der Mensch von früher fremd, als den dich andere beschreiben?
Ja. Das war ein sportbegeisterter Typ, der jeden Tag joggen war, der in seiner kleinen Welt hier bei Aschaffenburg völlig zufrieden und glücklich war. Ich habe mir die Trainingspläne und Aufzeichnungen von damals angesehen. Das ist schon heftig, was der Typ früher gemacht hat. Manchmal erschrecke ich, wenn ich sehe, wie krass unterschiedlich diese Leben eigentlich sind. Ich rauche heute gerne Zigarre, trinke gerne guten Wein, spiele Golf und würde nicht mal die 500 Meter zum nächsten Bäcker zu Fuß gehen. Da nehme ich lieber das Auto.

Viele Menschen wünschen sich die Möglichkeit für einen Neuanfang. Was sagst du diesen Leuten?
Das sollten sie sich nicht wünschen. Auf lange Sicht brauchen wir die beschissenen Erfahrungen genauso wie die guten. Ich vermisse die Scheiß-Momente von damals. Den ersten Korb bekommen, die erste große Liebe, aus der nichts wird, die Momente, von denen ich damals wahrscheinlich dachte, sie seien die schlimmsten überhaupt. An die würde ich mich gerne erinnern, weil die uns mehr prägen als die guten Erinnerungen. Sie zeigen uns, dass es danach weitergegangen ist.

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Bist du immer noch Fan von deinem Lieblings-Fußballverein?
Tatsächlich habe ich mich bewusst entschieden, nicht mehr Fan des FC Bayern zu sein, sondern Dortmund-Fan und Vereinsmitglied zu werden. Solche Entscheidungen haben früher vielleicht andere für mich getroffen. Ich glaube nicht, dass ein Fünfjähriger bewusst entscheiden kann, welche Mannschaft er gut findet. Ich kann das jetzt aber schon.

Wie lange hast du gebraucht, deine neue Identität zu akzeptieren?
Ich lebe jetzt seit fast zehn Jahren hier auf dieser Welt und glaube, ich habe gute acht oder neun Jahre davon gebraucht, um zu dem Punkt zu kommen, an dem ich heute bin. Es hat alleine zwei bis zweieinhalb Jahre gedauert, bis ich überhaupt akzeptieren konnte, dass der alte Max einfach nicht mehr da ist. Ein echtes Bewusstsein dafür, wo ich gerade bin und wer ich eigentlich bin, kam mir beim Schreiben meines Buches.

Hast du Angst davor, dass die Erinnerungen eines Tages zurückkommen?
Nicht unbedingt Angst. Eher so eine Sorge, dass ich schizophren werde. Dass ich dann zwei verschiedene Max in meinem Kopf habe.

Was hat dir am meisten geholfen, deinen Erinnerungsverlust zu verarbeiten?
Beim Schreiben meines Buches musste ich mich komplett mit mir auseinandersetzen. Einerseits mit der Frage "Was ist mir wann wie passiert?". Andererseits musste ich das dann in Worte fassen. Das im Detail hervorzuholen, hat gut getan. Und dann haben mir natürlich auch meine Familie und Freunde geholfen. Generell brauchen Menschen, die ohne Erinnerung aufwachen, erstmal Zeit und Ruhe. Man sollte ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie einem vertrauen können und man sollte gelassen sein. Das ist das Wichtigste. Falsch wäre es, zu schnell zu viel zu fordern und Druck aufzubauen.

Wie viel von dem, was du einmal wusstest, hast du wieder gelernt?
Ich habe eigentlich nur neu gelernt, was ich heute brauche. Und dann das, was mich interessierte. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das reicht mir, damit bin ich zufrieden. Klar wäre es schön, das ganze Allgemeinwissen aus der Schule noch zu haben. Zum Beispiel Pflanzenwachstum. Ich weiß, dass es etwas mit Fotosynthese zu tun hat, aber wie es genau funktioniert, weiß ich nicht mehr.

Gibt es Dinge, die du ganz bewusst nicht neu gelernt hast?
Ja, Chemie und Physik. Mir ist es egal, wie ein Automotor funktioniert, das interessiert mich einfach nicht. Ich erkenne einen, wenn ich ihn vor mir habe, das reicht. Da bin ich froh, dass ich jetzt Platz für anderes habe.

Fragst du dich noch immer, wer du bist?
Ja, die Frage stelle ich mir immer noch. Eine richtig zufriedenstellende Antwort habe ich noch nicht gefunden, da werde ich auch noch ein bisschen dafür brauchen.

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