Was mich eine 83-Jährige über die Liebe gelehrt hat
Alle Fotos: Hakki Topcu

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Liebe

Was mich eine 83-Jährige über die Liebe gelehrt hat

Rentnerin Ingeborg war nie verheiratet. Ich greife bei Männern dauernd ins Klo. Zeit, mich einer Angst zu stellen: "einsam sterben".

Manchmal überkommt mich eine Vision: Ich, Ende 80, weiße Haare, gehe mit Rollator einkaufen. Ich komme nach Hause in eine leere Wohnung, meine Freundinnen sind verstorben oder auf Besuch bei ihren Enkeln. Wenn ich abends ins Bett gehe, wartet dort niemand, weil ich nie jemanden fand, um mein Leben zu teilen.

Unsere Generation tut sich schwer mit Beziehungen. Ein deutscher Autor bezeichnete uns sogar als "Generation Beziehungsunfähig" und landete damit einen Bestseller. Auch die Zahlen geben ihm recht: Über 72 Prozent der jungen Deutschen zwischen 18 und 35 Jahren sind Single. In der Gesamtbevölkerung sind es lediglich 29 Prozent. Als Kind dachte ich immer, mit 28 wäre ich verheiratet, würde ein Haus bauen und hätte das erste Kind – wie meine Mutter mich damals.

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Stattdessen bin ich Anfang 30, Single und habe nicht mal Lust zu daten. Meine Studienfreundinnen schulen gerade ihre Kinder ein, mir läuft langsam die Zeit davon, wenn ich noch welche kriegen will. Aber Tinder spuckt mir nur Restposten aus. Werde ich alleine sterben? Und: Wäre das überhaupt so schrecklich, wie ich es mir gerade ausmale? Ich habe Fragen. Und ich brauche Rat, von jemandem, der schon mehr Leben gelebt hat als ich, jemand aus einer anderen Generation. Da meine Großeltern verstorben sind, suche ich im Bekannten- und Freundeskreis nach einer "Ersatz-Oma". Ich finde sie schließlich in Brandenburg.


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Ein paar Holzmöbel und ein Fernseher: Die Zimmer im Altenheim in Blankenfelde-Mahlow sind einfach eingerichtet. Aber als ich Ingeborg Klemmt zum Gespräch treffe, fühle ich mich direkt heimisch. In einer Vitrine reiht sich Erinnerungsstücke aus mehreren Jahrzehnten neben Eulen, sehr vielen Eulen. Eulen aus Porzellan. Eulen als Schmuck. Eulen als Kalender. Eulen auf Bildern, die neben Fotos von Ingeborg und ihrer Schwester stehen. Ein Hochzeitsfoto, Fotos von Kindern oder Enkeln sucht man jedoch vergebens. Die 83-Jährige war nie verheiratet. Vielleicht kann ich im Gespräch mit ihr verstehen, was dazu geführt hat, dass sie Single blieb. Sind irgendwann einfach alle möglichen Partner vom Markt und hat sie Lehren für mich, wie ich dem entgehe? Oder hat sie sich gar bewusst gegen eine Ehe entschieden, und wenn ja, warum?

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Ingeborg wurde 1934 als jüngere von zwei Töchtern geboren. Sie besuchte eine Mädchenschule und durfte sogar Abitur machen – eher unüblich zur damaligen Zeit. Für ihre Mutter war es ausgeschlossen, zu arbeiten und die Familie finanziell zu unterstützen, der Vater war arbeitslos. Ingeborg und ihre Schwester mussten sich um ihre Eltern kümmern; es war klar, dass die beiden auch als junge Frauen bei ihnen wohnen würden. Das bedeutete aber auch, dass keine der beiden Schwestern eine eigene Familie gründen würde. "Wir konnten nie frei entscheiden", erzählt Ingeborg, "wir hatten immer die Eltern."

Ein Erinnerungsstück in Ingeborgs Zimmer und die Rentnerin im Gespräch

Als diese schließlich beide innerhalb eines Jahres versterben, ist Ingeborg Anfang 30 – mein Alter und eine Phase, in der die meisten jungen Frauen ihrer Generation längst verheiratete Mütter sind. Stattdessen beginnt Ingeborg zu reisen und geht in ihrer Arbeit auf. "Ich habe als Bürohilfe angefangen und als Prokuristin aufgehört", erinnert sie sich nicht ohne Stolz. Als Prokuristin besaß sie Handlungsvollmachten und war Stellvertreterin der Geschäftsführung. Auf einen Mann war sie weder privat noch beruflich angewiesen. "Ich bin mit meiner Firma verheiratet gewesen."

Wo lerne ich am besten jemanden kennen?

Mit der Karriere verheiratet: Das klingt eher nach einem Satz, den ich sagen würde, als nach etwas, das ich von einer über 80-Jährigen erwarten würde. Ich bin überrascht, vielleicht auch voreingenommen, wie selbstbewusst Ingeborg für eine Frau ihrer Generation durchs Leben schritt. "Ich bin ein sehr rigoroser Mensch", wirft sie gleich mehrmals ein. "Ich würde verrückt werden, wenn ein Mann nicht zu Potte kommt. Ich bin dafür, Sachen zu machen. Auch wenn's schief geht. Das ist dann eine Erfahrung." Einfach machen – das hat die Rentnerin ihr Leben lang durchgezogen, beruflich wie privat. Mit ihrer Schwester verschlug es sie mehrmals quer über den Globus. Als ich frage, wo man gut jemanden kennenlernen könnte, antwortet sie sofort: auf Reisen.

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"Man ist zum Teil im Alltag, und zum Teil nicht. Das ist immer das Beste, um herauszufinden, wie ein Mensch tickt." Was, wenn man nicht reisen kann? Von Tinder hält Ingeborg wenig – man gebe online zu viel von sich preis, das man dann nicht mehr zurücknehmen könne. Über drei Millionen Deutsche nutzen Angebote im Internet trotzdem mindestens "gelegentlich" zum Daten. Aber auch Zeitungsannoncen, das Tinder ihrer Generation, fand die Rentnerin als junge Frau lächerlich: "Einmal hat da ein Globetrotter 'ne Bekannte gesucht. Der hieß bei uns nicht Globetrotter, sondern Trottel. Wir haben sowas nie ernst genommen." Bleibt wohl doch nur das klassische Kennenlernen. Denn je länger wir sprechen, umso mehr wird mir bewusst: Mit Dating, also dem unverbindlichen Zusammensein, kann Ingeborg so gar nichts anfangen.

Führen mich Dating und Casual Sex zum Ziel?

Sich auszuprobieren, verschiedene Menschen zu daten, die Beziehung zu beenden oder nur Casual Sex zu haben, ist für sie nur schwer vorstellbar. Als ich sie frage, wie man die leidige "Sind wir jetzt zusammen"-Diskussion am besten führt, fällt es ihr schwer, die Frage zu verstehen. Wenn man sich getroffen hat, allein, zu zweit, war man früher meistens ein Paar, erklärt sie mir. "Dieses nur miteinander Schlafen wäre damals nie möglich gewesen", sagt sie. Findet es die Rentnerin schade, dass sie diese Möglichkeit nie hatte? "Jein." Man öffne sich der anderen Person beim Sex dann eben doch, meint Ingeborg, und wo keine Verbindlichkeit ist, fehle Sicherheit. Intimität, so scheint es, ist für die Generation der Rentnerin etwas besonderes. Das letzte bisschen Selbst, das man sich in einem Alltag voller Verpflichtungen bewahrte.

Die 83-Jährige und die Autorin im Zimmer der Rentnerin in Brandenburg

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Gleichzeitig ist sie dankbar für moderne Errungenschaften wie die Pille oder Kondome. "Das hätte ich auf jeden Fall benutzt. Bloß gab es das damals nicht", lacht sie. "Wir mussten selber aufpassen." Unverheiratet schwanger zu werden war laut der 83-Jährigen zur damaligen Zeit "unmöglich", entsprechend groß war die Angst davor. "Daher war da immer eine Sperre, wo man sich als Frau dann doch zurückzieht", erklärt sie mir. Ich überlege: Wenn ich mich zurückziehe, dann nur, weil ich keine Lust habe oder die andere Person nicht so nah an mich lassen möchte. Verhütung war da nie Thema – oder eben immer, glücklicherweise. Genau wie für die meisten Deutschen auch: 74 Prozent benutzen laut einer Umfrage immer oder häufig ein Kondom.

Sollte ich für eine Beziehung mehr Kompromisse eingehen?

Muss meine Generation bei der Partnerwahl kompromissbereiter werden? Ingeborg antwortet ohne zu Zögern: "Auf jeden Fall." Ihr eigenes Leben war gezeichnet von finanziellen Sorgen. Wenn sie dann etwas genießen konnte, ausgehen konnte, lebte sie im Augenblick. "Wenn ich manchmal höre, was die jüngere Generation so für Probleme hat: Die verstehe ich gar nicht, wissen Sie?" Klingt ziemlich pragmatisch. Andererseits ist meine Generation die erste Generation seit 1945, der es schlechter geht als ihren Eltern. Befristete Verträge, Nebenjobs, Bafög-Rückzahlungen und überteuerter Wohnraum – rosig sieht anders aus. Vielleicht sind Ingeborgs und meine Generation doch näher aneinander, als ich zuvor angenommen hatte. Nur, dass ich mir keine Gedanken um ungewollte Schwangerschaften machen muss. Ich kann daten, testen, wie das Herz begehrt. Männer, Frauen, nicht-binäre Menschen– theoretisch kann ich lieben, wen ich will.

Ingeborg hat lange Eulen gesammelt und liest jeden Tag Zeitung

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Warum verliebe ich mich nur in Arschlöcher?

Kann die Rentnerin mir vielleicht erklären, warum ich mich immer nur in Arschlöcher verliebe? Ingeborg denkt kurz nach, würde mir wirklich gern helfen, aber: "Ich weiß nicht, woran das liegt", sagt sie mit Bedauern, "ich hab ja auch nicht den Richtigen gefunden." Sie habe zwar viele Menschen kennengelernt und mit einigen selbst heute noch Kontakt, für immer aber war nichts. Das kommt mir bekannt vor. Es mangelt bei mir – und vielen anderen – nicht daran, Menschen zu treffen, sondern eher daran, den "Richtigen" auszuwählen. Die eine große Liebe, die ein Leben lang hält: Das klingt wie überholter Kitsch. Und trotzdem glauben 74 Prozent der Deutschen an die Liebe fürs Leben. Aber wie finden? Ingeborg sagt mir, es sei beim ersten Treffen wichtig, auf das Gegenüber einzugehen. "Man sollte immer versuchen herauszufinden, was für einen Mensch man da trifft", rät sie mir. "Vielleicht ein bisschen bohren. Wenn Sie zu sehr warten, dass von selbst was kommt, warten Sie wahrscheinlich vergebens."

Die 83-Jährige findet, man müsse dem eigenen Bauchgefühl vertrauen. "Das geht mir auch heute noch so, dass ich sage: Die ist aber nett. Oder: Der ist aber nett. Doch woran man das merkt, weiß ich nicht." Ich bin enttäuscht. Natürlich war mir klar, dass es niemandem mit Geheimrezept für die perfekte Partnerwahl gibt. Aber je länger ich mich der alten Frau spreche, desto mehr erkenne ich mich in ihr wieder. Ich bin ähnlich "rigoros" wie Ingeborg. Wie sie auch, sage ich, wenn mir was nicht passt. Bin ungeduldig, habe aber gleichzeitig diese Vorstellung eines durch dick und dünn gehenden Paars im Kopf. "Jeder Streit ist zu viel Streit", sagt die Rentnerin irgendwann, und mir entflieht ein "Awww". Gleichzeitig liebe ich meinen Beruf, möchte reisen, Freundinnen sehen, mich selbst verwirklichen. Kultur und Medien haben mir jahrelang gesagt, dass ich das kann – und soll. Dass dafür vielleicht die Liebe auf der Strecke bleibt, hat mir niemand gesagt.

Aufgewühlt setze ich mich schließlich an diesen Text. "Was mich eine 83-Jährige über die Liebe gelehrt hat" sollte der Titel heißen, vielleicht sollte ich ihn umbenennen in "Was mich eine 83-Jährige über mich selbst gelehrt hat". Denn je länger ich darüber nachdenke, desto mehr merke ich: Es ist mir egal, wenn ich so "ende" wie Ingeborg. Die Frau hat die Welt bereist, ist belesen und informiert. #MeToo kennt sie genauso gut wie die Debatte um Paragraphen 219a. Sie hat Karriere gemacht und pflegt verschiedene Freundschaften, einige hielten über sechs Jahrzehnte (und damit länger als viele Ehen). Wäre es wirklich so schlimm, meinen Lebensabend in einem Einzel- statt Doppelzimmer im Altenheim zu verbringen? Wahrscheinlich nicht. Im Bett schlafe ich sowieso lieber quer.

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