Meinung

Spätis bleiben sonntags zu: Das ist das Ende der Berliner Freiheit

Ein neues Urteil bestärkt das Ladenöffnungsverbot für Spätis am Sonntag. Das ist das Ende eines Lebensgefühls, findet unser Autor.
Spätshop mit Leuchtreklame in Berlin
Foto: imago | Winfried Rothermel

Letzte Nacht war gut. Du willst dem Menschen, der gerade neben dir aufwacht, sagen, dass du ihm keine Liebe geben kannst, dafür eine Abschiedskippe und eine Portion Kaiserschmarrn, so als Dankeschön. Du schlurfst in die Küche und merkst: Du hast keine Zigaretten, kein Mehl und keine Milch. Das einzige, was du hast, ist die Scham, die in dir hochkriecht. Du eilst die Treppen runter, schnell zum Späti, dein mit Leuchtreklamen behangener Retter, der dich schon an so manchem verzweifeltem Sonntag gerettet hat. Aber: Der Späti hat zu. Nicht, weil der Besitzer kurz weg ist. Sondern weil Sonntag ist. Er darf nicht mehr aufmachen.

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Was wie eine Dystopie aus Black Mirror klingt, ist bereits Realität geworden, zumindest, wenn du in Berlin wohnst. Das Berliner Verwaltungsgericht hat am Mittwoch geurteilt, dass Spätis sonntags geschlossen bleiben müssen. Eine Kioskbesitzerin aus Berlin-Charlottenburg verkaufte in ihrem Laden sonntags Souvenirs, Postkarten, aber auch kalte Drinks und Küchenzutaten wie Toastbrot und Milch. Das Gericht verbot ihr den Verkauf und drohte mit Zwangsgeld bis zu 1.500 Euro, sollte sie sich nicht daran halten. Eigentlich verbietet das Ladenöffnungsgesetz bereits seit 2006, dass Späti-Betreibende sonntags öffnen dürfen. Aber für sie ist der Sonntag der umsatzstärkste Tag der Woche. Sie sind die einzigen, die dich mit den Dingen versorgen, die dein verballertes Ich am Samstag vergessen hat, einzukaufen: mit Klopapier, kalten Drinks, Nudeln. Doch dafür riskieren sie hohe Bußgeldstrafen.

Dazu kommt noch die sonntägliche Angst, vom Ordnungsamt erwischt zu werden, erzählt mir eine Besitzerin. Mittlerweile haben viele Betreiber ihre eigenen Tricks, um den Fängen der Beamtinnen und Beamten zu entgehen: Sie öffnen dir, wenn du ein bestimmtes Klopfzeichen machst. Du flüsterst die Bestellung durch den Türspalt, schiebst einen Zehner hinterher und nimmst dann die Ware entgegen. Und in der Sonnenallee in Neukölln warnen sich Späti-Betreibende gegenseitig per Walkie-Talkie, sobald das Ordnungsamt seine Runde fährt.

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Dass dieses Verbot so nah an biodeutscher Spießigkeit kratzt, zeigt der Fall, weshalb das Thema überhaupt wieder aufgerollt wurde, die Kioskbetreiberin aus Charlottenburg. Die Frau berief sich auf die Ausnahme des Gesetzes: Demnach dürfe sie sonntags verkaufen, wenn ihre Waren den "Bedarf von Touristen" decken und "zum sofortigen Verzehr" geeignet sind. Dem Gericht war ihr Sortiment aber zu breit, es ziele nicht auf den "spezifischen Bedarf von Touristen" ab. Mit anderen Worten: Weil die Frau nicht nur Fernsehtürme aus Plastik und Bockwürste verkaufte, sondern unter anderem auch Honig und Toastbrot, darf sie sonntags ihren Laden nicht öffnen.

Dabei richtet sich das Späti-Verbot nicht nur gegen ihre Besitzer – sondern auch gegen uns Kunden. Spätis sind die Antwort auf die gelallten Fragen des Wochenendes: Wohin gehst du, wenn der Club zu voll ist? Zum Späti. Wer versorgt dich mit Billigbier, wenn die Drinks zu teuer sind? Der Späti. Welchen Ort schlägst du als erstes Date vor, wenn Vapiano zu lame und "nEtFLix aNd cHilL?!" zu offensichtlich ist? Den Späti.

Die Bedeutung und Tragweite, die Spätis für die Kunden haben, scheint vielen Verantwortlichen gar nicht bewusst zu sein. "Der Späti ist für mich nicht das Freiheitssymbol der westlichen Welt", sagte der Berliner Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel dem Tagesspiegel. Doch, verdammt, das ist er.

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Freiheit ist, dass man sonntags in diesen zu engen Laden marschiert und dieses zu teure Stück Butter für den Sonntagsbrunch kauft. Freiheit ist ein verstaubter Dornfelder für 14,99, der im Supermarkt nebenan die Hälfte kostet. Freiheit ist mit dieser Stadt verbunden, seit 1989 die Mauer fiel. Und die Euphorie, die die Menschen damals gefühlt haben müssen, erahne ich, wenn ich sonntags das letzte gekühlte Sternburger abgreife – weil ich es WILL.

Eigentlich soll das Öffnungsverbot am Sonntag Arbeitnehmer schützen. Den Kioskbetreibern soll ein freier Sonntag garantiert werden. Das ist sehr nett. Aber sie wollen ihn nicht haben. Die Sonntagsruhe ist ja ein sehr christlich-deutsches Ding: Sechs Tage werkelte Gott an der Welt und am siebten hatte er keine Lust mehr. Und wenn Gott prokrastiniert, dann wird der deutsche Mensch einen Teufel tun und das Gegenteil machen. Seitdem wird die Sonntagsruhe in den Köpfen und zwischen den Hauswänden unerbittlicher verteidigt als Sitzplätze im Biergarten.

Kämpft nicht gegen Spätis, sondern für eine Revision des Urteils. Diese Läden sind mehr als nur ein Getränkelager: Sie sind der Rettungsanker für all die Gestrandeten, die nicht im Strom der Wochenend-Prepper mitschwimmen wollen.

Er ist für dich da, wenn deine Lunge nach Nikotin schreit, der Weg zum Edeka aber zu weit ist. Für die Einsamen ist er der Leuchtturm voller Gleichgesinnter, für die Feiernden ein nie versiegender Quell, der, je nach Vorliebe, nach Augustiner oder Paulaner Spezi schmeckt. Wenn du willst auch gleichzeitig.

Spätis sind die Rettung in der Nacht und die Reanimation am Morgen. Sie sind notwendig. Vor allem sonntags.

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