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Abschiebung

Warum die Abschiebung von Bivsi nichts Außergewöhnliches ist

Auch wenn du dein ganzes Leben in Deutschland verbracht hast und hier geboren wurdest, können morgens Leute in deine Schule kommen und dich abschieben.
Foto: Privat

Die 14-jährige Bivsi Rana sitzt am Montagmorgen im Unterricht und hört dem Lehrer zu. Sie hat keine Ahnung, dass die Stelle für Flugabschiebungen in Bielefeld ihre Abschiebung für den Nachmittag eingeplant hat. Zwei Mitarbeiter der Ausländerbehörde betreten die Schule und bitten den Schulleiter, das Mädchen aus der Klasse zu holen. Bivsi reagiert verstört und überfordert: "Wie weg, wohin soll ich denn?"

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Sie wird nach Hause gebracht, hat wenige Minuten Zeit, um einen einzigen Koffer zu packen, und wird mit ihren Eltern zum Flughafen nach Frankfurt am Main gebracht. Dort wird sie den Bundesbehörden übergeben. Ihr Abschiebeflug nach Nepal hebt um 17:00 Uhr ab.


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Die Abschiebung hinterlässt eine verstörte Schulklasse. Die Mitschüler von Bivsi Rana werden von einem alarmierten Notarzt und einem Religionslehrer betreut, die sich in Traumatherapie üben. Der Schulleiter Ralf Buchthal ist verärgert über die Vorgehensweise der Behörden: "Schule muss ein Schutzraum für Kinder sein! Niemand darf hier solch ein emotionales Trümmerfeld anrichten", zitiert WAZ den Schulleiter.

Bivsis Eltern kamen 1998 aus Nepal nach Deutschland und stellten einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Dass die Familie seit 19 Jahren in Deutschland lebt und bestens integriert ist, war für die Härtefall-Kommision des Landes NRW kein Grund, nicht abzuschieben.

Rein juristisch lief alles korrekt ab. Menschlich ist es eine Katastrophe, die in Deutschland System hat. Den Preis für den zynischsten und dümmsten Kommentar im Fall Bivsi hat sich die Pressesprecherin der Stadt Duisburg verdient. Anja Kopka sagte gegenüber der Welt, dass sich Bivsi wenigstens noch von ihren Mitschülern verabschieden konnte: "Hätten wir in den Sommerferien abgeschoben, wäre es dazu nicht mehr gekommen."

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"Sie durfte sich nicht verabschieden"

Die Mutter einer Mitschülerin, Christiane Gradel, sagt zu VICE, dass diese Aussage nicht einmal richtig sei: "Sie durfte sich nicht von der Klasse verabschieden. Nur ihren beiden besten Freundinnen durfte sie Tschüss sagen." Gradel selbst war völlig überrascht von der Abschiebung: "Niemand von uns wusste Bescheid und Bivsi wahrscheinlich auch nicht."

Die Eltern und Mitschüler wollen Bivsi nicht aufgeben und hoffen, dass sie bald wieder in ihre Heimat nach Duisburg zurückkehren kann. Auf der Tafel in ihrem Klassenzimmer schrieben ihre Mitschüler "Wir geben niemals auf", "Wir werden uns wiedersehen" und "Nächste Klassenfahrt: Nepal". Eltern und Mitschüler haben eine Petition gestartet, um Bivsi wieder nach Deutschland zurückzuholen. 50.000 Unterschriften sind das Ziel.

Am Mittwoch besuchte die Duisburger Ordnungsdezernatin Daniela Lesmeister (CDU) die Klasse der abgeschobenen Mitschülerin. Schüler berichten, Lesmeister habe ihnen erzählt, es bringe nichts wenn sie sich für Bivsis Rückkehr einsetzten. Die Abschiebung erklärte die Politikerin laut Berichten damit, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland eben für mehr Abschiebungen sei.

Derzeit befindet sich Bivsi in Kathmandu bei Verwandten ihrer Mutter. Ihre Eltern suchen nach einer Bleibe. Der WDR interviewte Bivsi per Skype.

Bei dem Gespräch bricht das Mädchen mehrfach in Tränen aus: "Ich habe mich gefühlt wie ein Schwerverbecher. Meine Eltern waren fix und fertig." Per WhatsApp ist sie noch in Kontakt mit Freunden und Mitschülern: "Ich bin unglaublich froh, dass ich sie als Freunde habe und dass sie mich so stark unterstützen."

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Bivsi weiß noch nicht, ob sie sich in Nepal einleben kann: "Ich bezweifle, dass ich es hier schaffe. Deutschland ist mein Heimatland. Ich kann fließend Deutsch reden, aber ich kann nicht so gut Nepalesisch sprechen und mit den anderen kommunizieren."

Wie kann es sein überhaupt sein, dass ein 14-jähriges Mädchen aus Deutschland abgeschoben wird, obwohl sie hier geboren ist und noch nie woanders gelebt hat?

Die Antwort ist, dass diese Praxis System hat. Es gibt viele solcher Fälle, aber die meisten erhalten weniger Aufmerksamkeit, weil die Behörden meistens nicht so unsensibel sind, die Schüler direkt aus dem Klassenzimmer zur Abschiebung zu bringen. Auf dem Balkan findet man in fast jedem Dorf Kinder, die in Deutschland geboren wurden, perfektes Deutsch sprechen und trotzdem abgeschoben wurden. Wie viele in Deutschland geborene Kinder abgeschoben werden, wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht erhoben. Julian Staiger vom Flüchtlingsrat Baden-Württemberg sagt zu VICE: "Derzeit werden viele Kinder, vor allem in den Westbalkan, abgeschoben. Einige wurden in Deutschland geboren, aber die genaue Zahl kennen wir nicht."

Es ist egal, wie gut jemand integriert ist

Bivsi und ihre Eltern hätten nur in Deutschland bleiben können, wenn sie Asyl bekommen hätten. Doch dafür sahen die Behörden keinen Grund. Rein rechtlich ist es völlig egal, wie gut die Familie integriert ist und wie lange sie schon in Deutschland lebt. Es gibt kein Einwanderungsgesetz, das solche Faktoren berücksichtigt.

In Deutschland gilt das sogenannte Abstammungsrecht. Die Staatsbürgerschaft wird von den Eltern vererbt. In Deutschland geboren und aufgewachsen zu sein, bringt einem nicht viel. Und so kann es passieren, dass der deutsche Staat seine eigenen Kinder abschiebt.

Eine Lösung für dieses Problem wäre es, das sogenannte Geburtsortsprinzip einzuführen. Man erhält die Staatsbürgerschaft des Landes, in dem man geboren wurde, unabhängig davon, woher die Eltern kommen. In den USA schreibt der 14. Zusatzartikel der Verfassung vor, dass jeder, der in den USA geboren wurde, auch Staatsbürger der USA ist. In fast jedem Land auf dem amerikanischen Kontinent erhalten Kinder die Nationalität ihres Geburtslandes.

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