Darf die Polizei Roboter einsetzen, um Verdächtige zu töten?
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Darf die Polizei Roboter einsetzen, um Verdächtige zu töten?

„Im Grunde war es eine improvisierte Version eines Drohnenangriffs.“

Die Polizei von Dallas hat am vergangenen Donnerstag einen Präzedenzfall geschaffen: Nachdem ein Scharfschütze bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt fünf Beamte tötete und sich anschließend in einer Parkgarage verschanzte, fasste die Polizei den Entschluss, einen ferngesteuerten „Bombenroboter" einzusetzen.

Die Maschine, und nicht Polizisten, sollten den Verdächtigen ausschalten, der sich trotz Verhandlungen nicht ergeben wollte. Es war das erste Mal, dass Strafverfolgungsbehörden in den USA einen Verdächtigen mit einem ferngesteuerten Gerät getötet haben. Der tragische Vorfall von Dallas hat daher nicht nur die Debatte um Polizeigewalt befeuert, sondern auch eine zweite Diskussion angestoßen, die die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung kritisch hinterfragt.

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In den USA ist es der Polizei gemäß der Gesetze einzelner Bundesstaaten gestattet, einen Verdächtigen zu töten, wenn er oder sie eine „unmittelbare Gefährdung" des Beamten oder anderer Unschuldiger darstellt, und die polizeilich angewandte Gewalt außerdem „verhältnismäßig und notwendig" ist. In dem viel diskutierten Fall Tennessee vs. Garner, der 1985 vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt wurde, fiel die Entscheidung, dass tödliche Gewalt auch dann angewendet werden darf, wenn ein fliehender Verdächtiger eine „erhebliche tödliche Bedrohung oder die Gefahr einer schweren körperlichen Verletzung der Beamten oder anderer darstellt."

Doch spielt das zum Töten eingesetzte Mittel für diese Rechtsnorm eine Rolle? Laut Rechtsexperten, die Motherboard zum Fall des Heckenschützen von Dallas befragt hat, wahrscheinlich nicht. Der Roboter, der normalerweise zur Bombenentschärfung eingesetzt wird und, wie sich nun zeigte, offensichtlich auch in eine improvisierte, ferngesteuerte Killermaschine umgebaut werden kann, hat nicht autonom gehandelt und kann in diesem Fall als Mittel angesehen werden, durch das die Beamten die Bedrohung minimiert haben, die der Verdächtige Micah Johnson für sie darstellte.

„Es könnte rechtmäßig sein, ferngesteuerte Roboter einzusetzen, um tödliche Gewalt anzuwenden, wo solch ein Vorgehen [im Allgemeinen] gerechtfertigt ist", erklärte der Jurist Jay Stanley gegenüber Motherboard. „Aus juristischer Sicht ändert die Wahl der Waffe nichts am grundlegenden Kalkül hinter der Entscheidung, tödliche Gewalt anzuwenden—diese Entscheidung hängt davon ab, ob ein Individuum für andere eine unmittelbare Gefahr darstellt, und ob die Anwendung der tödlichen Gewalt unter den gegebenen Umständen angemessen ist."

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„Im Grunde ist das die improvisierte Version eines Drohnenangriffs."

Der Polizeichef von Dallas, David Brown, teilte Reportern am Freitag mit, dass die Beamten „keinen anderen Ausweg gesehen haben, als unseren Bombenroboter einzusetzen", um Johnson zu töten. Zuvor sei es zwischen den Polizisten und Johnson zu mehreren Schusswechseln gekommen.

„Im Grunde ist das die improvisierte Version eines Drohnenangriffs", erklärte Ryan Calo, ein Rechtsprofessor von der University of Washington School of Law, der sich auf Cyber- und Roboterrecht spezialisiert. „Wenn sie eine Granate hätten werfen dürfen, dann durften sie höchstwahrscheinlich auch den Roboter einsetzen, was ehrlich gesagt auch eine ziemlich kreative Maßnahme war."

Tatsache ist jedoch, dass der Einsatz das erste Mal in der US-amerikanischen Geschichte markiert, das die Polizei einen ferngesteuerten Roboter benutzt, um auf amerikanischem Boden einen Verdächtigen ohne Gerichtsverfahren zu töten—damit könnte der tragische Zwischenfall von Dallas auch eine neue Epoche von Robotern als strategische Polizeiwaffe einläuten. Motherboard hat vier führende US-Anwälte für Technologierecht zu dem Thema befragt—Calo, Stanley und Elizabeth Joh von der UC Davis School of Law sowie Ian Kerr vom Canada Research Chair in Ethics Law and Technology an der University of Ottawa. Sie alle waren sich einig, dass das Töten per Fernbedienung in den USA eine ganze Reihe neuer Fragen und Szenarien aufwirft.

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Die Polizei von Dallas hat „den Bereich des Möglichen neu definiert"

Es gibt eine lange Geschichte neuer technischer Verfahren, die in Ausnahmesituationen das erste Mal eingesetzt wurden und dann mit der Zeit langsam zur Normalität werden. Der Polizeichef Brown erklärte, dass die Polizei von Dallas am vergangenen Donnerstagabend „keine andere Option gehabt" hätte. Doch eine Taktik, die einst das letzte Mittel gewesen ist, kann oft erstaunlich schnell zur ersten Wahl werden, wenn sie sich einmal bewährt hat.

„Manche Leute werden versucht sein, die Anwendung des Roboters auf eine funktionale Äquivalenz zu reduzieren—‚Wenn es einem Polizisten erlaubt ist, den Angreifer zu töten, warum kann man dann nicht genau so gut einen von einem Polizisten gesteuerten Roboter reinschicken, um das Gleiche zu tun?', erklärte Kerr Motherboard. „Man wird versucht sein, diese Maschinen zu Waffen umzuwandeln, um die Gefahr für die Polizisten zu verringern. Doch auf lange Sicht wird sich dadurch auch die Denkweise bei der Entscheidungsfindung verändern, wenn es zum Beispiel darum geht, in einer Geiselnahme über die Anwendung tödlicher Gewalt zu entscheiden."

Aus der Aussage „Wir könnten einen Roboter einsetzen, um den Verdächtigen zu töten", kann sehr schnell werden: „Es gab keinen anderen Ausweg, als den Bombenroboter zu benutzen."

„Wir eröffnen einen speziellen neuen Weg, wenn ein Roboter, der ursprünglich dafür gedacht war, Bomben zu entschärfen, dazu benutzt wird, Menschen zu töten. Die Polizei von Dallas definiert hier die Grenzen des Möglichen neu", fuhr Kerr fort. „Die Erklärung des Polizeipräsidenten zeigt außerdem, dass eine neue technische Möglichkeit es einfacher macht, die getroffene Entscheidung im Nachhinein zu rechtfertigen. Aus der Aussage „Wir könnten einen Roboter einsetzen, um den Verdächtigen zu töten", kann sehr schnell werden: „Es gab keinen anderen Ausweg, als den Bombenroboter zu benutzen."

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Die Geschichte der Polizeiarbeit zeigt, dass neue Technologien, die für die Strafverfolgung entwickelt wurden, teilweise auch Einzug in regulären Polizeieinsätzen fand. Das zeigt sich zum Beispiel am Fall neuer Überwachungstechniken, die eigentlich dazu dienen sollten, gegen Terroristen und Gewaltstraftäter vorzugehen, die dann aber auch gegen unschuldige Zivilpersonen gerichtet wurden.

„Da Bodenroboter eine sicherere und einfachere Anwendung tödlicher Gewalt ermöglichen, steigt auch das Risiko, dass sie zu häufig eingesetzt werden", erklärte Stanley und bringt die Gefahr auf eine einfache Formel: „Wenn es einfacher wird, etwas zu tun, wird es häufig zu oft getan." Die ferngesteuerte Gewaltanwendung durch Polizeikräfte wirft neue sicherheitspolitische Fragen auf, die unsere Gesellschaft überdenken sollte. Der technische Fortschritt schreitet unaufhaltsam voran—doch sein Einsatz sollte im Bereich der Strafverfolgung und bei der Polizeiarbeit auf außergewöhnliche Situationen beschränkt bleiben."

„Sobald man einen Roboter statt einen Menschen reinschickt, sieht man die Situation nicht mehr als menschlichen Verhandlungsprozess an."

Telepräsenz und Töten

Es verändert die soziale Interaktion grundlegend, wenn aus der Entfernung mit einem Subjekt interagiert wird—ob der Roboter nun lediglich mit dem Verdächtigen verhandelt oder Gewalt anwendet. Dieser Wandel kann aus Sicht der Polizei ein Fortschritt sein: Wenn die menschlichen Beamten die Gefahrenzone nicht mehr unmittelbar betreten müssen, wird der Einsatz für sie sicherer. Doch Polizisten haben gegenüber ihren Roboter-Kollegen in solchen Situationen noch immer einen Vorteil: Sie sind genau darauf trainiert, in sich verändernden Situationen schnell zu reagieren. Ein Polizeibeamter kann entscheiden, ob er einen Verdächtigen erschießt, mit einem Elektroschocker traktiert, ihn auf eine andere Weise überwältigt oder mit ihm verhandelt. Bei dem Roboter jedoch, der am Donnerstag in Dallas zum Einsatz gekommen ist, gab es im Wesentlichen nur zwei ferngesteuerte Optionen: Explodieren lassen oder nicht explodieren lassen.

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„Sobald man einen Roboter statt einen Menschen reinschickt, sieht man die Situation nicht mehr als menschlichen Verhandlungsprozess an", sagte Kerr. „Ein Mensch kann überlegen—wird der Typ seine Waffen niederlegen oder nicht? Das kann aber nur getan werden, wenn man sich sicher ist, dass alle Verhandlungen zwecklos sind."

Roboter können das Töten entmenschlichen

Kerr arbeitet mit der Campaign to Stop Killer Robots zusammen, einer Organisation, die auf Abgeordnete aus Gruppen wie den Vereinten Nationen Einfluss nehmen will, um zu verhindern, dass Roboter in Zukunft in Kriegen als autonome Killermaschinen eingesetzt werden. Der Roboter, der Johnson getötet hat, war absolut nicht autonom, doch ebenso ist auch an einem Drohnenangriff in Nahost nichts Autonomes—und doch wird in beiden Fällen die Tötungshandlung über eine lange Befehlskette auf mehrere Leute verteilt.

„Wie wollen wir sicherstellen, dass solche Roboter nicht von Dritten manipuliert werden?"

„Bei einem Drohnenangriff wird der Entscheidungsprozess verteilt. Es gibt die Aufklärungstruppen vor Ort, irgendwo anders einen Kommandanten und den Drohnenpiloten", erklärte Kerr. „Und das ist auf gewisse Weise entmenschlichend, da es so für jede der beteiligten Personen einfacher ist, ihren Part zu übernehmen, ohne in Betracht ziehen zu müssen, dass sie gerade selbst über Menschenleben entscheidet."

Wie sollten Richtlinien für eine ferngesteuerte Tötung von Menschen aussehen?

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Der Polizeichef von Dallas, David Brown, „hat eine Vorrichtung auf der Verlängerung [des Roboters] angebracht", die später explodierte, was nahelegt, dass der Roboter spontan improvisiert wurde. Angesichts der extremen Umstände ist es eher unwahrscheinlich, dass die Polizeibehörde in Dallas bereits Richtlinien darüber verfasst hat, wann es in Ordnung ist, einen Verdächtigen per Fernbedienung zu töten. Die Polizeiarbeit wird solche Richtlinien aber zwangsläufig brauchen.

„Bei jeder neuen Technologie, die sich die Polizei zunutze macht, sollte man sich auch fragen, welche Vorkehrungen getroffen werden sollten, damit das ganze nicht komplett nach hinten losgeht. Der Robotereinsatz von Dallas scheint improvisiert gewesen zu sein", teilte Joh Motherboard mit. „Sollten Polizei-Roboter jedoch in Zukunft Teil der Arbeit werden, müssen wir uns fragen, wie wir dann sicherstellen sollen, dass solche Roboter nicht von Dritten manipuliert werden? Die aktuellen Entwicklungen im technischen Bereich, in dem alle Geräte früher oder später gehackt werden können, sind in dieser Hinsicht nicht gerade beruhigend."

Was bringt die Zukunft?

Die Fürsprecher der Roboterindustrie erklären gerne, dass Roboter dem Menschen die „langweilige, schmutzige und gefährliche Arbeit" abnehmen. Geiselnahmen, Schießereien und aktive Schusswechsel können ohne Frage als solche gefährlichen Szenarien gelten. Wenn wir also die Technologie zur Verfügung haben, um Polizeibeamten zu ermöglichen, ihre Arbeit auf eine sicherere Weise durchzuführen, warum sollten sie dann nicht Roboter benutzen dürfen?

Die wichtigste Frage in einer Situation, in der ein Roboter benutzt werden könnte, sollte laut Kerr sein, ob ein menschlicher Polizist den Verdächtigen auch töten würde, wenn er keinen Roboter zur Verfügung hätte.

„Die Frage ist: Was würde passieren, wenn es nicht möglich wäre, einen Roboter einzusetzen? Hätten wir trotzdem einen Menschen reingeschickt?", überlegt Kerr. „Wenn die Antworten unterschiedlich sind, dann hat der blutige Vorfall in Dallas alles verändert."