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Lasst uns alle virtuelle Einwohner von Estland werden

Estland führt als erstes Land die elektronische Staatsbürgerschaft ein. Seit gestern kann jeder Erdenbürger einen virtuellen Pass beantragen.
​Tallinn, die Hauptstadt von Estland. Bild: ​Marre Krisu, Pixabay | Public Domain

Das spannendste an deiner Identität ist deine Geburt in Henstedt-Ulzburg oder dein Zweitwohnsitz in Meppen? Wie wär's zur Abwechslung mit einer Prise baltischer Eleganz als Update auf dein amtlich erfasstes Dasein?

​Seit gestern kann jeder zum virtuellen Einwohner der Republik Estland werden, dem winzigen EU-Staat westlich von Russland. Es ist das erste Land, das der globalen Gesellschaft etwas Vergleichbares zu einer digitalen Staatsangehörigkeit bietet. Du gehörst also in gewisser Weise zum Staat, ohne physisch vor Ort zu wohnen.

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​Manche interpretieren diese Entscheidung schon als „Anfang vom Ende des Nationalstaates", doch trotz aller Pioniertätigkeit hat ein virtueller Einwohner nicht die gleichen Rechte und Vorteile wie ein normaler Staatsangehöriger. Mit ihrem neuen Personalausweis können sich die virtuellen Einwohner in öffentlichen und privaten Online-Portalen anmelden, deren Nutzung bisher nur den Esten vorbehalten war. „Letztlich bekommst du​ ​von der estnischen Regierung eine zertifizierte, digitale Identität", erzählte mir Siret Schutting, Leiterin der staatlichen Initiative ​e-Estonia Showroom. „Du kannst dich damit ausweisen und Dokumente digital unterschreiben."

Seit gestern ist die Beta-Version für die Anträge zum Erhalt einer E-Residenz online. Der ​britische Journalist Edward Lucas war hier Pionier: Er darf sich nun mit dem Prädikat als erster offizieller, internationaler e-Einwohners Estlands schmücken.

„Ursprünglich war die Idee, Menschen, die sich zwar in Estland aufhalten, aber keine Staatsbürger sind—zum Beispiel Geschäftsleuten—das Leben zu erleichtern", sagte mir Schutting. „Aber jetzt wollen wir das Angebot weltweit zugänglich machen."

So ist es nun beispielsweise viel einfacher, eine Niederlassung deiner Firma in Tallinn zu eröffnen. In der estnischen Hauptstadt sind schließlich auch die Steuern niedrig und die Wirtschaft läuft inzwischen wieder prächtig. „Du kannst einem Land sehr verbunden sein, obwohl du kein offizieller Bürger bist", sagte Schutting. „Als virtueller Bürger kannst du elektronische Dienste nutzen, eine Firma online registrieren und digital Verträge fertigstellen und unterschreiben. Und natürlich wollen wir Estland für neue Geschäftsfelder attraktiv machen."

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Wenn dir jemand einen Vertrag auf einem DIN-A4-Zettel unter die Nase Hält, denkst du doch sofort: 
​'Bloß nicht. '

Über Estland wissen viele Menschen möglicherweise nicht viel mehr, als dass das Land regelmäßig beim Eurovision Song Contest teilnimmt. Nicht unbedingt verwunderlich, da Estland wirklich sehr klein ist. Es gibt nur 1,3 Millionen Einwohner, die jüngste Geschichte des Landes ist eng mit der der Sowjetunion verflochten. Und doch ist es keine allzu große Überraschung, dass dieser Mini-Staat die Avantgarde der digitalen Staatsbürokratie bildet. Bereits seit dem Jahr 2000 arbeitet Estland an der Digitalisierung behördlicher Vorgänge mit Online-Steuererklärungen oder digitalen Vertragssignaturen bis hin zur digitalen ​Stimmabgabe bei Wahlen.

Schutting erklärte mir anhand eines idyllischen Beispiels, wie gut sich die Esten schon an die Digitalisierung gewöhnt hätten: Einer ihrer Kollegen unterzeichnete kürzlich seinen neuen Arbeitsvertrag mit seinem Smartphone, während er auf einem Segeltörn unterwegs war. Bei der Einführung der ersten elektronischen Signaturen waren viele noch zurückhaltend und unsicher, doch das hat sich mittlerweile ins Gegenteil verkehrt:

„Heute herrscht in unserem Land ein großes Vertrauen in digital unterzeichnete Dokumente. Wenn dir jemand einen Vertrag auf einem DIN-A4-Zettel unter die Nase hält denkst du doch sofort: 'Bloß nicht.'

„In unserer digitalen Gesellschaft muss der private Sektor eng mit dem öffentlichen zusammenarbeiten", sagte Schutting und betonte dabei das gute Verhältnis zwischen Bürgern und Regierung. So ergab eine ​Untersuchung im Jahr 2008, dass die Esten ihrer Regierung mehr vertrauen als die Bürger anderer baltischer Staaten.

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Wir erschaffen ein Land ohne Grenzen.

Mit der elektronischen Residenz geht das Land jetzt einen logischen Schritt weiter. Zur Zeit musst du dich noch bei der ​estnischen Polizei und Grenzkontrolle anmelden, wo du ein Formular ausfüllst, dich fotografieren lässt, deine Identität mit relevanten Dokumenten bestätigst und zu guter Letzt noch deine biometrischen Daten hergibst (Irisscan und Fingerabdruck). Das gesamte Prozedere kostet 50 Euro—und nach einem allgemeinen Hintergrundcheck, der weitere zwei Wochen dauert, bekommst du dann endlich deinen elektronischen Ausweis.

Doch schon im nächsten Frühjahr soll der Prozess enorm vereinfacht werden, so dass sich die Möchtegern-Esten auch vor Ort in ihrer jeweiligen Botschaft anmelden können. Die lokale Nachrichten-Seite ​Estonian Public Broadcasting schreibt, dass bereits über 12.000 Personen ihr Interesse an einer virtuellen Einwohnerschaft bekundet hätten.

Während die virtuellen Einwohner nun einem entspannteren Leben ohne frustrierende Behördengänge ins Auge blicken, steckt in dem grundsätzlichen Konzept eines Staates ohne physische Grenzen noch einiges an ideologischem Diskussionspotenzial, aber auch utopische Hoffnungen.

Schutting brachte es mir gegenüber so auf den Punkt: „Mein Traum ist, dass wir neue Gemeinschaften gründen. Wir erschaffen ein Land ohne Grenzen."