„Dann hat er sich umgedreht und die Leute einfach abgeknallt“

Das zerschossene Schaufenster des Cafés | Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Alan Belua

Am ersten Tag im neuen Jahr schießt ein Attentäter in ein Café mitten im Zentrum von Tel Aviv. Seit vier Tagen fahnden Polizei und Geheimdienst nach dem Terroristen—der DJ „Al Bel” sah ihm direkt in die Augen, und hat überlebt.

„Wir haben die ganze Nacht in einem Club ins neue Jahr reingefeiert und wollten eigentlich nur kurz frühstücken gehen”, sagt Alan Belua, den alle nur „Al Bel” nennen. Er ist DJ in einem Schwulenclub in Jerusalem. Für die Silvesternacht hat er sich freigenommen, wollte mit seinem Freund Toni lieber durch die Gaybars in Tel Aviv ziehen.

Videos by VICE

Am frühen Morgen gehen die beiden zurück ins Hotel, dort läuft nicht mehr viel, sie sind zu fertig. Verkatert gehen sie am Nachmittag in das Café gegenüber. Nur schnell einen Kaffee trinken, in einer dreiviertel Stunde fährt der Bus zurück nach Jerusalem.

„Dann hat es draußen geknallt und alle haben sich unter die Tische geduckt. Ich war irgendwie in Gedanken, und war der einzige, der noch stehen geblieben ist. Und dann hab’ ich ihn gesehen.” Ein junger Typ stürmt auf die Straße, in der Hand eine M16, das Standard-Gewehr der Soldaten in Israel. „Ich konnte ihm kurz in die Augen schauen. Dann hat er sich weggedreht und ins Café gegenüber geschossen. Er hat die Leute einfach abgeknallt.”

Auf der anderen Straßenseite, im „Simta”-Pub, findet gerade eine Geburtstagsparty statt. In der Nähe kreuzen sich Dizengoff und Gordon Street, zwei große Einkaufsstraßen mit hippen, jungen Klamottenläden und Cafés.

Von jetzt auf gleich, totales Chaos. „Dann waren einfach Dutzende Leute überall, alle haben geschrien und die ganze Zeit gab es unterschiedliche Infos, wie viele Täter es waren”, sagt Al Bel. „Und ich hab’ immer gesagt, nur einer, es war nur einer, er hat sich weggedreht von mir. Was wäre wohl, wenn er das nicht gemacht hätte?”

Am ersten Tag im neuen Jahr tötet der mutmaßliche Terrorist drei Menschen, sieben weitere werden verletzt. Bilder einer Überwachungskamera zeigen, dass er kurz vor dem Attentat in einem Supermarkt nebenan stand, um Nüsse zu kaufen—mit den Einkaufstüten umfasst er die M16, und schießt um sich. Mittlerweile gehen die israelischen Behörden davon aus, dass der Attentäter in einem Taxi vom Tatort geflohen ist und den Fahrer anschließend ebenfalls ermordete.

Freitag, ein paar Stunden nach dem Anschlag

Die Polizei in Tel Aviv und der israelische Geheimdienst Shin Bet fahnden im Norden der Stadt nach dem Täter—Nashat Melhem soll geschossen haben, ein 29-jähriger Israeli mit arabischen Wurzeln. Überführt wird er von seinem eigenen Vater: Mohammed Melhem sieht seinen Sohn auf den Bildern der Überwachungskamera im Fernsehen und alarmiert die Polizei. Sein Sohn Nashat saß bereits im Gefängnis, weil er vor Jahren einen Soldaten bedrängt hatte, um dessen Waffe zu stehlen. Die Behörden gehen derweil von einem Terroranschlag aus. Der israelische Minister für öffentliche Sicherheit, Gilad Erdan, sagt ein paar Tage später: „Er ist klüger, als manche denken. Er ist kein Unschuldiger und nicht geistig instabil.”

Samstagmittag

Die Polizei und der israelische Geheimdienst lokalisieren das Handy des Attentäters, zum ersten Mal sendet es ein Signal nach dem Anschlag. Doch die Razzia in einer Wohnung im Norden Tel Avivs ist erfolglos, keine Spur von Nashat Melhem.

Sonntagmorgen

Polizei und Geheimdienst konzentrieren sich weiter auf den Norden Tel Avivs. Laut der israelischen Zeitung Ha’aretz ermittelten die Beamten weitgehend verdeckt und ohne öffentlich getragene Waffen, um keine Panik auszulösen. Rund die Hälfte der Schüler ging in den letzten drei Tagen nicht zur Schule, viele Studenten gehen nicht in die Uni, weil die im Norden Tel Avivs liegt.

„In Tel Aviv, vor allem mitten in den hippen Vierteln, da passiert sonst eigentlich nie was—das ist auch das Besondere an diesem Anschlag”, sagt Ilya Brebner, freier Journalist aus Tel Aviv. Seit Monaten koche die Stimmung im Land wieder hoch, fast jeden Tag höre man von Messerstechereien und anderen Attentaten im Land. Doch die jungen Leute in Tel Aviv glauben, in einer Blase zu leben, sagt Ilya Brebner. „Man hat das Gefühl, der Konflikt findet anderswo im Land statt, in Jerusalem oder in Gaza. Dieser Anschlag hat die Blase in Tel Aviv jetzt zwar nicht platzen lassen, aber einen Riss hat sie schon bekommen”, sagt Brebner.

Für Al Bel fühlt sich das auch so an. Er ist zwar in Jerusalem aufgewachsen, dort gehören Messerattacken und Schießereien zum Alltag. So nah sei er aber noch nie bei einem Anschlag dabei gewesen, vor allem nicht in Tel Aviv. Er und sein Freund Tino versuchen, die Sache irgendwie zu verarbeiten. Vielleicht auch ein bisschen zu verdrängen. Al Bel hat seitdem jeden Abend in Schwulenclubs aufgelegt, er und Tino hätten viel getrunken die letzten Tage. „Irgendwie fällt es dann doch leichter, darüber zu reden, und wir entspannen uns, wenn wir ein bisschen angedüdelt sind. Tino ist eh total fertig.”

Richtig zur Ruhe kommen werden die beiden wohl erst, wenn Nashat Melhem gefasst ist. „Das Schlimmste ist, dass ich ständig daran denke, dass er mich angesehen und sich umgedreht hat”, sagt Al Bel. „Was, wenn der Typ sich anders entschieden hätte? Ich wäre jetzt tot, ganz sicher.”

Dienstagmorgen

Der Täter Nashat Melhem ist immer noch auf der Flucht. Die Behörden gehen mittlerweile davon aus, dass er einen oder mehrere Komplizen hatte, und dass er selbst anscheinend nicht damit gerechnet hat, den Anschlag zu überleben. Mittlerweile wurden auch sein Vater und mehrere Familienmitglieder festgenommen. Die Bevölkerung ist weiterhin zur Vorsicht aufgerufen. Ein zweiter Anschlag sei wahrscheinlich.