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Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, habe ich bei Dr. Johanna Jarcho vom National Institute of Mental Health angerufen. Johanna beschäftigt sich mit den Unterschieden der Gehirnentwicklung gesunder und psychisch kranker Menschen. Dabei konzentriert sie sich vor allem auf Angstzustände. Sie erklärte mir, wie unsere Gehirne mit den sozialen Gegebenheiten umgehen, um unsere geistige Gesundheit zu steuern, und warum man sich am besten einem Problem annimmt, indem man sich so früh wie möglich eine Diagnose stellen lässt.
VICE: Ich habe jetzt schon oft gehört, dass sich psychische Erkrankungen häufig im späten Jugend- oder im frühen Erwachsenenalter entwickeln. Das scheint sich zwar auch mit meinen Erfahrungen zu decken, aber lässt sich diese Behauptung trotzdem irgendwie wissenschaftlich belegen?
Dr. Johanna Jarcho: Ja, ein Großteil der psychischen Gesundheitsstörungen beginnt tatsächlich im späten Jugend- oder im frühen Erwachsenenalter. Wenn man als Erwachsener an Angstzuständen leidet, dann hat man das mit einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit auch schon als Jugendlicher getan. Im Grunde kann man sagen, dass man als Erwachsener keine Angststörung mehr entwickeln wird. Das passiert im Kindesalter und zieht sich dann durch, bis man erwachsen ist. Durch Forschungen geht man jetzt davon aus, dass das so kommt, weil sich das Gehirn im Jugendalter enorm verändert. Früher haben wir noch gedacht, dass das Gehirn nach der frühen Kindheit keine großartigen Veränderungen mehr durchläuft, aber inzwischen ist uns bewusst, dass es sich bis ins Erwachsenenalter stetig wandelt. Selbst da ist es dann noch ziemlich formbar, also können die verschiedenen Einflüssen des gesellschaftlichen Umfelds auf jeden Fall einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung unseres Gehirns haben.
Du meintest, dass viel mit der Entwicklung des Gehirns zusammenhängt. Gleichzeitig scheint man im jungen Erwachsenenalter viele wesentliche Umbrüche durchzumachen—sowohl in gesellschaftlicher als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Beispiele hierfür wären der Studienbeginn, der Start ins Berufsleben oder der Auszug aus dem Elternhaus. Ist es möglich, die Auswirkungen des sozialen Umfelds im Vergleich zur Biologie zu benennen?
Einige psychische Gesundheitsstörungen basieren mehr auf genetischer Veranlagung als andere. Schizophrenie und bipolare Störungen haben eine viel höhere Vererbungsrate. Wenn ein Verwandter ersten Grades—zum Beispiel ein Eltern- oder ein Geschwisterteil—an einer solchen Krankheit leidet, dann besteht ein viel höheres Risiko, dass sich diese Krankheit bei dir ebenfalls entwickelt. Natürlich gibt es jedoch auch Umgebungsfaktoren, die diese Entwicklung begünstigen können. Junge Erwachsene machen zwar alle möglichen sozialen Veränderungen durch, aber wir haben uns auch so entwickelt, dass wir in der Lage sind, diesen wichtigen Übergang vom Zusammenleben mit den Eltern zur Eigenständigkeit zu schaffen. Alles, was während dieses Übergangs passiert, kann jedoch tiefgreifende Auswirkungen darauf haben, ob man „gesund” bleibt oder die oben erwähnten Störungen entwickelt.
Wir erforschen gerade noch, wie viel davon biologisch und wie viel davon gesellschaftlich bedingt ist. Wir haben durch die Genetik gelernt, dass hier weder nur die Gene noch nur das Umfeld eine Rolle spielen, sondern das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren.
Eine psychische Erkrankung ist also nicht einfach nur eine unvermeidbare Sache, die man entweder bekommt oder eben nicht?
Nein. Viele von uns konzentrieren sich eher auf das Negative, aber dabei ist es immens wichtig, auch die Tatsache zu bedenken, dass man selbst viel tun kann, um sich gegen die Entwicklung von psychischen Gesundheitsstörungen zu schützen—selbst wenn das Risiko bei einem ziemlich hoch sein sollte. Das soziale Umfeld könnte zwar auch der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt, aber genauso gut kann einem ein gutes soziales Umfeld dabei helfen, richtig aufzublühen.
Was genau kann man denn tun?
Es ist wichtig zu wissen, wofür man anfällig ist. Wenn zum Beispiel ein Elternteil von dir an einer Psychopathologie litt, dann ist das auf jeden Fall ein Risikofaktor. Wenn du als Kind Schwierigkeiten hattest, dich in dein soziales Umfeld einzubringen, dann ist das ein weiterer Risikofaktor. Wenn dich deine Eltern übertrieben behütet und dir nie gezeigt haben, wie man mit schwierigen Situationen oder Problemen umgeht, dann ist das noch ein weiterer Risikofaktor. Die Art der Erziehung, die man als Kind genossen hat, kann einen starken Einfluss darauf haben, wie man auf dem Weg ins Erwachsenenalter neue Herausforderungen angeht.
Manche Menschen versuchen aber auch, ihre Depressionen und Probleme mit anderen Mitteln zu bekämpfen.
Nehmen wir mal an, dass eine Person bei sich Symptome einer psychischen Erkrankung feststellt. Was kann diese Person dann tun, um einen möglichen Schaden so gut wie möglich zu begrenzen?
Wenn man wirklich die schädlichen Folgen einer Psychopathologie so gering wie möglich halten will, dann ist es wichtig, sich so früh wie möglich behandeln zu lassen—am besten schon im Kindesalter. Es verhält sich hier genauso wie mit Gewohnheiten: Sie werden mit der Zeit immer stärker und wenn sie sich erst einmal festgesetzt haben, dann werden sie quasi so etwas wie ein Teil von dir. Dann ist es viel schwieriger, das Ganze wieder loszuwerden, und es bleibt erstmal für eine lange Zeit bestehen. Falls du wirklich glaubst, dass mit dir etwas nicht in Ordnung ist, dann solltest du Hilfe suchen, bevor sich eine Krise anbahnt und du das Gefühl bekommst, in deinem Leben eingeschränkt zu werden.
Was sagst du zu Internet-Foren oder Suchmaschinen, die einem bei der Selbstdiagnose helfen sollen?
Da man in der Vergangenheit noch keine Vorsorgeuntersuchungen zur Verfügung hatte und immer noch gewisse Vorbehalte gegenüber dem Besuch bei einem Psychologen bestehen, haben sich die Leute im Internet darüber informiert, was mit ihnen nicht stimmen könnte. Das ist unter Umständen ein guter erster Schritt und so kann einem auch bewusst werden, dass man nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, der an diesen Symptomen leidet. Das hilft aber leider nicht zwangsläufig bei der Behandlung. Es ist wirklich wichtig, zu einem professionellen Arzt zu gehen und zu sagen, dass man Hilfe braucht. Natürlich gilt hier aber trotzdem der Vorsatz: Je mehr Informationsquellen, desto besser. Das trifft vor allem auf Menschen zu, die sich im Bereich der psychischen Gesundheitsvorsorge noch nicht so gut auskennen. Für die kann diese ganze Sache ziemlich beängstigend sein. Das Internet kann schon einen gewissen Nutzen haben, aber die richtige Diagnose und die richtigen Behandlungsmethoden findet man dort trotzdem nicht zwangsläufig.
Können Fehlinformationen zu einem Problem werden?
Nun, nehmen wir mal an, dass jemand bei sich die Diagnose „Depressionen” stellt. Diese Diagnose kann entweder Schaden verursachen oder hilfreich sein kann—das kommt ganz auf die Person an. Im Bezug auf Fehlinformationen ist jeder anders und genau deshalb ist es auch so wichtig, genau so behandelt zu werden, wie es die jeweiligen Umstände verlangen.
Im Internet findet man zum Beispiel auch gewisse Infos zu computergestützten Untersuchungen oder Videospielen, die Angstzustände zurückgehen lassen. So etwas macht den Leuten Hoffnung, aber leider sind wir noch lange nicht soweit. Meiner Meinung nach existiert da so eine falsche Vorstellung, dass es für gewisse Leiden ein einfaches und günstiges Heilmittel ohne Nebenwirkungen gibt, aber das entspricht einfach nicht der Wahrheit. Vor so etwas müssen die Leute gewarnt werden. Im Internet werden dazu noch eher unpassende Behandlungsmethoden beworben, die jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehren. Man sollte auf jeden Fall lieber professionelle Hilfe suchen, anstatt solche Dinge auszuprobieren.
Heißt das, dass es im Bereich der psychischen Gesundheit kein Äquivalent zu Penicillin geben wird, das jeden gesund macht?
Das wäre zwar schön, wird aber definitiv eine Utopie bleiben. Es hat schon lange kein neues Medikament mehr gegeben, das bei psychischen Gesundheitsstörungen wirklich hilft, und das ist richtig schade.
Im Bezug auf die psychische oder auch auf die allgemeine Gesundheit scheint sich unser „Wissen” ständig zu ändern. Um mal ein offensichtliches Beispiel zu nennen: Auf der einen Seite wird ständig darüber berichtet, wie schlecht Rotwein eigentlich für uns ist, aber auf der anderen Seite wird auch immer wieder gesagt, dass Rotwein doch ganz gut tut. Für jemanden, der sich nicht so gut auskennt, kann das schnell verwirrend sein. Inwieweit wird sich unser heutiger Wissenstand in ein paar Jahren wieder verändert haben?
Ich glaube, dass wir alle davon ausgegangen sind, heutzutage mehr zu wissen, als wir eigentlich tun. Hier schlage ich wieder den Bogen zur Genetik: Als das menschliche Erbgut entschlüsselt wurde, dachten wir alle: „Sehr gut, jetzt wissen wir alles. Jetzt können wir Menschen heilen und alles wird total offensichtlich.” Je mehr wir jedoch über die Gründe und Ursachen von psychischen Erkrankungen herausfinden, desto klarer wird uns, dass das alles einfach nur unglaublich kompliziert ist.
Es kommt auch sehr oft vor, dass die allgemeine Presse die Dinge oft viel zu vereinfacht darstellt und den Leuten so falsche Hoffnungen macht. Dort ließt man zum Beispiel so Sachen wie „Dieser Teil des Gehirns ist für Depressionen verantwortlich” und könnte so den Eindruck bekommen, dass man einfach nur diesen Teil des Gehirns wieder in Ordnung bringen muss und alles wäre OK. In Wahrheit ist die ganze Sache jedoch viel komplizierter. Derzeit wird uns eher bewusst, was wir alles nicht wissen. Das macht einem auch irgendwie ein bisschen Angst. Die Dinge können sich schlagartig ändern. Ich hoffe, dass wir in 10 oder 15 Jahren an einem Punkt angekommen sind, an dem es uns möglich ist, die Symptome noch früher zu erkennen. Neurowissenschaftlich betrachtet ist das allerdings noch eine ziemlich optimistische Einschätzung.
Gibt es sonst noch etwas, dass der durchschnittliche junge Erwachsene deiner Meinung nach über die psychische Gesundheit wissen sollte?
Man sollte sich bewusst sein, dass die meisten psychischen Gesundheitsstörungen, die im jungen Erwachsenenalter auftreten, wieder vorbeigehen. Diese Tatsache kann einem Hoffnung geben. Falls man allerdings zu den Menschen gehört, bei denen die Krankheit nicht vorübergeht, dann sollte man lieber früher als später Hilfe suchen. Man darf den Besuch beim Psychologen nicht als etwas Stigmatisierendes ansehen, das man nur im Moment einer akuten Krise durchzieht, sondern eher als Hilfe für das allgemeine Wohlbefinden—etwa wie die jährliche Vorsorgeuntersuchung. Es ist immer besser, Dinge früh anzusprechen, anstatt sie in sich hineinzufressen.