„Fantastisch!” rufe ich vor übertriebener Begeisterung, während mich der Fahrer über das imposante Gelände der Rumbrennerei fährt: überall Rasen, der mit der Nagelschere geschnitten sein könnte, und riesige Palmen, weiß getünchte Tanks und hunderte Eichenfässer aus den USA feinsäuberlich übereinander gestapelt. Jeder der Tanks enthält eine Million Liter Alkohol, insgesamt stehen 18 davon auf dem Firmengelände. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein paar Arbeiter—dünn, ausgemergelt und mit dreckiger Schutzkleidung. Sie fahren auf der Ladefläche eines großen Lastwagens an uns vorbei; ihr Blick ist kalt und ohne Emotionen.
Ich besuche die Flor de Caña Rumbrennerei in Chichigalpa, einer kleinen Stadt im Westen Nicaraguas, und tue so, als sei ich eine begeisterte Touristin, die einfach nur gern ein paar Fragen stellt. Weitere Teilnehmer der Führung: eine sichtlich euphorische vierköpfige Familie aus Mexiko.
Videos by VICE
Flor de Caña ist Nicaraguas Exportschlager. Hier in der Brennerei sind Tonnen von langsam in Fässern gereiften Rum versteckt—einer der größten Rumvorräte der Welt. Flor de Caña gibt es in jeder Bar in Nicaragua und er wird in über 40 Länder exportiert. Wie der Guide uns erzählt, ist Chile der wichtigste Abnehmer, danach kommen Kanada, die USA und schließlich Nicaragua. Das Angebot der Brennerei ist ziemlich vielfältig. Der Rum ist gut und schmeckt sanft, ein bisschen trocken. Die älteren Sorten haben eine leichte Vanille- und Eichennote.
Flor de Caña wird von Nicaragua Sugar Estates Limited (NSEL) betrieben, eine Tochtergesellschaft der Grupo Pellas, der Unternehmensgruppe der Familie Pellas, die mehr als 20 Firmen weltweit kontrolliert und jährlich gut 1,5 Milliarden Dollar Umsatz verbucht. Das sind immerhin 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von Nicaragua. Leiter und Hauptaktionär Carlos Pellas, ein guter Freund des nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega, ist der erste Milliardär Nicaraguas. Man nennt ihn auch den Zuckerkönig.
Die Einwohner Chichigalpas sterben einer nach dem anderen weg.
Viele der Einwohner von Chichigalpa arbeiten bei Flor de Caña und der dazugehörigen Zuckerfabrik Ingenio San Antonio (ISA). Die Zuckerindustrie ist die wichtigste Branche in Zentralamerika und erwirtschaftet vier Prozent des BIP von Nicaragua. In der ISA werden mehr als 63 Prozent des gesamten Zuckers in Nicaragua hergestellt, also fast 17.000 Tonnen Zucker pro Tag. Außerdem liefert die ISA die Melasse für den Rum von Flor de Caña.
In der Rumbrennerei verehrt man die Pellas’. Ihnen zu Ehren gibt es eine ganze Ausstellung.
Nächster Programmpunkt der Führung: ein Film vollgepackt mit Zahlen und Statistiken, der die Pellas-Familie in den Himmel lobt, weil sie sich so sehr für die Menschen der Region und Nachhaltigkeit eingesetzt haben. Chichigalpa ist wie eine Monokultur: Es gibt nur die Zuckerrohrindustrie. Die gesamteStadt ist eng mit der ISA und Flor de Caña verbunden.
Wie ich erfahre, hat die Firma 50.000 Bäume angepflanzt. Im Geiste der sozialen Verantwortung wurden Schulen errichtet und auch eine Lebensmittelhilfeauf die Beine gestellt. In den Krankenhäusern des Unternehmens sind bereits 2.929 Kinder zur Welt gekommen und es wurden 9.036 Operationen durchgeführt. Außerdem haben sie schöne neue Parks in der Stadt errichtet.
Die Mexikaner nicken zustimmend und begeistert, nachdem das Video zu Ende ist. Als nächstes fahren wir zu einer exklusiven Verkostung.
Verlässt man die schickeRumbrennerei und fährt die Hauptstraße ein paar Kilometer runter in die Innenstadt, dann bietet sich einem ein vollkommen anderes Bild. Kein grüner, minuziös geschnittener Rasen mehr. Morgens im Gemeindezentrum:Hier bereiten Freiwillige gerade Essen zu, müssen aber plötzlich feststellen, dass es kein Wasser mehr gibt. Ein Einheimischer sagt mir, dass das öfter passiert, auch mit dem Strom. Ab 21 Uhr wird das Wasser ganz abgestellt.
Das größte Problem der Stadt ist aber nicht die schlampige Strom- und Wasserversorgung, sondern vielmehr, dass die Einwohner Chichigalpas einer nach dem anderen wegsterben.
„Vor Jahren hatte ein alter Friedhofswärter mal eine Liste mit Namen und Todesursache der Toten geführt”, erzählt mir Julie Rhonda*, die für dieLa Isla Foundation vor Ort recherchiert. Die La Isla Foundation ist eine NGO, die sich für Menschenrechte und Gesundheit einsetzt und die in Chichigalpa intensive Studien durchgeführt hat. „Als ich mir die Liste anguckte, sah ich immer ein und dieselbe Abkürzung—ECR.”
ECR steht für enfermedad renal crónica—chronische Nierenkrankheit aufgrund von nicht-traditionellen Risikofaktoren. In Chichigalpa kommt diese Todesursache sechs Mal häufiger vor als in Nicaragua insgesamt; mindestens 2.800 bis 3.500 Menschen sind in den letzten zehn Jahren daran gestorben. Forscher sehen einen Zusammenhang zwischen der Krankheit und den Arbeitsbedingungen in der Zuckerfabrik.
Wie eine Studie der Boston University 2015 in einer Studie feststellte, sinkt die Nierenfunktion während der Erntezeit und es gibt erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Art der Arbeit und die Dauer der Anstellung. Daher liegt es nahe, dass ein oder mehrere Risikofaktoren für die Krankheit arbeitsbezogen sind. Bei der Studie wurden 500 Zuckerrohrarbeiter aus Chichigalpa untersucht, deren Nierenfunktion währen der sechsmonatigen Erntezeit gesunken ist. Am schlimmsten war es bei den Arbeitern, die die Pflanzen schneiden oder pflanzen.
Chichigalpa mutiert zu einer Geisterstadt—von den 60.000 Einwohnern sterben täglich drei oder vier. Die Stimmung ist depressiv, ich merke das schon nach ein paar Minuten. Ich frage die Einheimischen, wie es ihnen geht, sie sagen nur „schlecht” oder „man versucht, irgendwie klarzukommen”. Der Tod lauert an jeder Straßenecke, Beerdigungen gehören zum Stadtbild. Die Nachfrage nach Särgen ist so hoch, dass die städtische Verwaltung Zuschüsse anbietet. Vor sechs Jahren wurde ein neuer Friedhof gebaut, um all die Toten zu beherbergen. Heute ist bereits ein Fünftelvoll.
Ich habe mich mit Julio Lopez* getroffen, einem 33-jährigen ehemaligen Zuckerrohrarbeiter, der 12 Jahre lang für ISA und Flor de Caña gearbeitet hat. Wir sitzen am Straßenrand und unterhalten uns. Sobald ein Polizist oder jemand, der wie ein Beamter aussieht, vorbeiläuft, verstummt Julio. Er erzählt mir, dass selbst bei den Beerdigungen der Nierenkranken gern auch mal ein Beamter zur Einschüchterung vorbeischaut. Weil die Regierung und die Unternehmen so eng miteinander verbandelt sind, sind alle in der Stadt extrem paranoid.
,Man könnte einen Arbeitstag auf dem Zuckerrohrfeld auch mit einem Halbmarathon vergleichen, zumindest was die körperliche Anstrengung betrifft.’
„Mit 18 habe ich angefangen, in der Fabrik zu arbeiten”, erzählt Julio. „Ich habe den abgebrannten Zuckerrohr geschnitten und in der Ethanolproduktion gearbeitet. Wir haben mit starken Chemikalien hantiert, aber wir hatten ja Schutzkleidung.”
Seitdem er 29 ist, leidet Julio an einer chronischen Nierenkrankheit und lag schon mehrmals fast im Sterben.
„Du verbrennst innerlich. Du fühlst dich, als würdest du ersticken”, beschreibt er sein Leiden. „Dann liegst du da und denkst, das sei den letzter Tag und auf einmal hast du es wieder unter Kontrolle. Dein Kreatininspiegel ist die ganze Zeit auf dem Höchststand. Noch ein Hitzeanfall und du stirbst. Du gehst aus dem Krankenhaus, siehst den blauen Himmel, deine Familie und Kinder und weißt, dass du auf dich acht geben musst.”
Heute fährt er mit einer Fahrradrikscha durch die Stadt und arbeitet nur an ein paar Tagen, um gesund zu bleiben. Er schwärmt von seinen Kindern, zwei Jungs, vier und neun Jahre alt. Die Gesundheitsversorgung ist in Nicaragua bis zu einem gewissen Grad kostenlos und seit 1951 bietet die ISA ihren Angestellten auch kostenlose Untersuchungen an. Julio behauptet allerdings, dass, sobald die Kreatininwerte über den Normalwert ansteigen, die Arbeiter sofort entlassen werden. Die meisten von ihnen sind Saisonarbeiter, daher bekommen sie auch keine Hilfe vom Staat. Leiharbeiter wie Julio dürfen außerdem nicht das Krankenhaus der Zuckerfabrik in Anspruch nehmen.
„Die Arbeiter werden pro Tonne Zuckerrohr bezahlt”, erklärt Lieneke Wieringa, von Fairfood International, einer Organisation, die sich für eine gerechte Nahrungsmittelproduktion einsetzt. „Deswegen arbeiten sie länger, oft über Wochen, mit wenig bis keinen Pausen, nur um einen einigermaßen guten Lohn zu bekommen. Dann kommt noch hinzu, dass viele von ihnen Saisonarbeiter sind. Da es nur wenige andere Jobs gibt, müssen sie also innerhalb von sechs Monaten das Geld für ein ganzes Jahr verdienen.
Aufgrund der verzweifelten finanziellen Situation benutzen viele gefälschte Ausweise, um dann noch mehr ernten zu können, wodurch sie noch kränker werden. Julio meint, dass es ein offenes Geheimnis ist, dass die Chefs das durchgehen lassen.
Diese grassierende Nierenkrankheit ist nichts Neues in Nicaragua und auch nicht nur auf dieses Land beschränkt. In vielen Zuckerrohrplantagen in Costa Rica konnten seit den 70er-Jahren Nierenprobleme nachgewiesen werden. In Nicaragua und El Salvador gab es in den letzten zehn Jahren die meisten Fälle chronischer Nierenkrankheiten auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, wie Zahlen der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation zeigen.
In Chichipalga ist die Situation aber extrem schlimm. Hier und in der näheren Umgebung gibt es die meisten Fälle von Niereninsuffizienz in ganz Nicaragua. Zwischen 2002 und 2012 konnten 46 Prozent aller Todesfälle bei Männern auf die Krankheit zurückgeführt werden, bei Männern zwischen 35 und 55 waren es sogar 75 Prozent.
„Bitte helfen Sie uns!”, fleht Dr. Ramon Garcia Trambino. Er ist Vorsitzender des Verbandes für Nephrologie in El Salvador und hat zahlreiche Nierenpatienten behandelt. 2002 veröffentlichte er als einer der Ersten eine Studie zu dieser Erkrankung und fand heraus, dass viele Männer zwischen 20 und 40 mit fortgeschrittenem chronischen Nierenkrankheiten in die Krankenhäuser eingewiesen wurden. „Wir forschen seit 15 Jahren daran und weisen immer wieder darauf hin, dass es eine Epidemie ist”, sagt er. „Es ist wie ein stilles Massaker.”
Die Arbeitsbedingungen auf den Zuckerrohrplantagen sind hart: An einem Arbeitstag verliert ein Plantagenarbeiter gut 2,4 Kilo Körpergewicht, da es keinen Zugang zu Wasser gibt und er in der prallen Sonne arbeiten muss. Einige Teilnehmer einer Umfrage der La Isla Foundation gaben an, während der Erntezeit 12 Stunden lang bei Temperaturen über 38° C gearbeitet zu haben. Pro Tonne erhalten die Zuckerrohrarbeiter weniger als einen Euro, durchschnittlich ernten sie zwischen vier und acht Tonnen. Wie Fairfood International berichtet, lag der Mindestlohn in der Landwirtschaft im September 2013 weit unter dem, was man für den Grundbedarf an Waren und Dienstleistungen nach Berechnungen des nicaraguanischen Entwicklungsinstituts ausgibt.
„Man könnte einen Arbeitstag auf dem Zuckerrohrfeld auch mit einem Halbmarathon vergleichen, zumindest was die körperliche Anstrengung betrifft”, beschreibt Lieneke Wieringa die Arbeit. „Man muss sich das mal vorstellen: Das machen sie sechs oder sieben Tage die Woche über sechs Monate—ohne richtige Pausen und Versorgung mit Wasser.”
Für viele Arbeiter hängt ihre Niereninsuffizienz mit den auf den Feldern eingesetzten Pestiziden zusammen. Erfahrene Forscher meinen aber, dass man nicht die Pestizide verbannen muss, sondern die Lösung viel einfacher sei, wenn auch nicht leichter umzusetzen.
„Man braucht einfach nur Pausen, Wasser und Schatten”, so Ramon Garcia Trambiano. „Das empfehlen wir all unseren Nierenpatienten, jede Stunde sollten sie mindestens 10 bis 15 Minuten eine Pause im Schatten machen. Und sie müssen ausreichend Wasser trinken. Jedes Jahr wird es immer heißer. An manchen Tagen hilft dann auch Wasser nicht.”
Ramon Garcia Trabiano arbeitet im Programm für Arbeitsgesundheit und -effizienz bei der Zuckerrohrmühle Ingenio El Ángel in El Salvador. Im Rahmen des Programms wurden während der letzten Saison 65 Arbeiter überwacht, sie hatten ausreichend Pausen, Wasser und Schatten und bekamen eine bessere, ergonomischere Machete und neue Schneidetechniken beigebracht. Außerdem erhielten die Arbeiter gratis Rucksäcke mit Wasservorrat von CamelBak, sodass sie immer schnell Wasser trinken konnten.
„Wir stehen zwar noch am Anfang, aber schon jetzt hat sich gezeigt, dass sich die Nierenfunktion stabilisiert hat. Außerdem erleiden die Arbeiter keinen Hitzschlag mehr”, so Jason Glaser, Gründer der La Isla Foundation und vom Programm für Arbeitsgesundheit und -effizienz. „Dieses Jahr wollen wir die Teilnehmerzahl noch vergrößern, damit unsere Ergebnisse auch statistisch relevant sind.” Außerdem fügt er hinzu, dass sich die Produktivität der Arbeiter im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent gesteigert hat.
Warum kann man so etwas nicht auch in Nicaragua machen? Warum sträubt sich die ISA so vehement dagegen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern?
„Sie wollen nur das Beste für sich Und pragmatisch gesehen ist das, keine Klagen zu bekommen”, erklärt mir Jason Glaser. „In San Antonio haben sie alles unter Kontrolle. Das ist die reichste Familie in einem der ärmsten Länder in Zentralamerika. Die müssen vor niemanden Rechenschaft ablegen.Nur mit Flor de Caña sind sie international präsent, ansonsten nicht. Außerdem bekommt die Regierung in Nicaragua diesbezüglich nur Informationen von der Pellas-Gruppe.
Ingenio San Antonio behauptet, dass es ,strenge Kontrollsysteme gibt um zu gewährleisten, dass die Zweitfirmen nach Vorschrift arbeiten und dass sie Regeln zu Arbeitssicherheit und Hygiene in der Firma einhalten.’
Er hört kurz auf zu reden. „Eines muss ich Carlos Pellas aber lassen: Ich glaube nicht, dass er weiß, was genau passiert”, sagt Jason Glaser. „Er führt ein milliardenschweres Unternehmen. Was vor Ort passiert, bekommt er nicht mit. Wahrscheinlich vertraut er seinen Mitarbeitern einfach.”
Die Lage ist so ernst, dass die Einwohner von Chichigalpa den Notstand ausrufen wollen. Im letzten Jahr sind Betroffene der Krankheit fast 130 Kilometer bis in die Hauptstadt gelaufen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Elf Tage haben sie gebraucht. Als sie angekommen sind, hat kein Regierungsvertreter mit ihnen sprechen wollen.
Die ISA selbst streitet alles ab und besteht weiterhin darauf, dass sie eine ausreichende Wasserversorgung, Pausen und Sonnenschutz gewährleisten. „Die Feldarbeiter, wie zum Beispiel die Zuckerrohrschneider, erhalten für ihre Arbeit ausreichend Wasser- und Feuchtigkeitsversorgung, die vom Gesundheitsministerium zugelassen ist. Außerdem bekommen sie ein ausgewogenes Mittagessen, das von einer speziellen Firma zubereitet wird und Lebensmittel für ihre Familien sowie medizinische Versorgung im ISA-Krankenhaus”, erklärt Ariel Granera Sacasa, Kommunikationsleiter der Pellas-Gruppe.
„Stimmt, aber nur ein verschwindend geringer Anteil von Vertragsarbeitern”, sagt Jason Glaser.
Ich frage Julie Rhonda von der La Isla Foundation, nach ihrer Meinung: „Ich war bereits auf verschiedenen Feldern. Einige Male wurde ich von der NSEL begleitet, andere Male kam ich unangekündigt und ohne Einladung”, erzählt sie mir. „Wenn ich eine Führung bekommen habe, haben sie versucht, es so aussehen so zu lassen, als gäbe es für die Arbeiter genug Wasser, Schatten und Pausen. Kam ich aber ohne Anmeldung, gab es plötzlich nirgendwo Schatten oder Wasser für die Arbeiter und sie machten auch keinerlei Pausen.”
Ariel Granera Sacasa erzählt mir, dass es ein mobiles Krankenhaus gibt, wo sich die Arbeiter abkühlen könnenund Blut- und Urinproben genommen werden. Außerdem bekommen sie hier Wasser und Lebensmittel. Er behauptet weiter, dass die Arbeiter am siebten Tag pausieren und trotzdem bezahlt werden.
„Uns wurde gesagt, dass das Gehalt auch ein siebtes Tagesgehalt enthält, aber das stimmt nicht”, erzählt mir Joe*, der bei ISA in der Personalabteilung arbeitet. Er arbeitet seit fünf Jahren für die Firma und hat schon im ersten Jahr bemerkt, als er noch Zuckerrohr geschnitten hat, dass sein Kreatininspiegel über dem Normalniveau lag. Seitdem hat er das aber unter Kontrolle.
Die Firma glaubt, dass sie die richtigen Maßnahmen ergreift, aber sie macht das vollkommen falsch”, sagt Joe. Sein Job ist es auch, den Arbeitern Wasserpakete und Medikamente zu bringen. „Oft stehen 200 Arbeiter vor uns und wir haben einfach nicht genug für alle.”
Joe behauptet außerdem, dass die mobilen Krankenhäuser nur die Arbeiter untersuchen, die nicht krank sind. Sobald Besucher von außerhalb die Firma und ihre Felder besichtigen, haben die Arbeiter auch plötzlich mehr Verpflegung.
„Als die Kontrollstelle der Weltbank sich die Situation angeschaut hat, hat die Firma mehr Zelte aufgestellt”, erzählt er. „Normalerweise gibt es nur ein Zelt pro Gruppe. Als die Vertreter der Weltbank kamen, hat die Firma einen ganzen Lastwagen mit Zelten aufgefahren.”
Er gibt aber auch zu, dass es in den letzten Jahren was die Arbeitsbedingungen betrifft, Verbesserungen gab. „Vorher haben wir 14 Tage am Stück gearbeitet. Jetzt sind es nur noch sechs”, sagt er. Es stimmt, dass die Arbeiter Wasser und Essen bekommen. Aber das ist noch nicht genug, meint Joe.
In La Isla, einer Siedlung im Norden Chichigalpas, sterben mehr als 70 Prozent aller Männer an Nierenversagen.
Nicht alle Angestellten der Pellas-Gruppe und ihrer Tochterfirmen äußern sich so offen kritisch. Mein Guide bei Flor de Caña schwärmt in einer Tour davon, wie gut es ist, hier zu arbeiten. Am Ende des Jahres, meint er, bekommen die Angestellten der Fabrik gratis Rum und die Zuckerrohrarbeiter erhalten bis zu 30 Kilo Zucker. Wenn Angestellte die Firma verlassen, werden sie außerdem von der Firma großzügig entschädigt.
„Besser als bei jedem anderen Unternehmen”, sagt er.
Edward Hamilton berät Rumhersteller und hat bereits über 50 Destillen weltweit besucht. Er weiß um die Anschuldigungen zu Menschenrechtsverletzungen, sagt aber dennoch, dass Flor de Caña zu den besseren Brennereien gehört. „Das ist ein sehr progressiver Betrieb”, meint er. „Die Zuckerrohrmühle hat Verträge mit Zweitfirmen und die stellen die Leute ein. Diese Zweitfirmen kümmern sich nicht um ihre Angstellten oder geben ihnen keine Schutzkleidung. Das ist so ein ,Entwicklungslandproblem’.”
„Alles faule Ausreden!”, meint Jason Glaser. „Die Firma verdient an der Arbeit der Zweitfirmen und spart ordentlich Geld, indem sie behauptet, dass sie aufgrund eines ziemlich dubiosen Vertrages, der sie von jeglicher Haftung ausschließt, nicht für die Arbeiter verantwortlich sind. Fakt ist, dass die Arbeiter für die ISA als Zuckerrohrschneider arbeiten. Die ISA sollte sicherstellen, dass es in ihrer Lieferkette keine menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen gibt. Alle Grundstücke, von denen sie Zuckerrohr beziehen, sind in ihrem Besitz oder sie haben sie gepachtet. Sie koordinieren die Zweitfirmen und weisen ihnen bestimmte Aufgaben zu, um die Effizienz zu steigern.”
Ariel Granera Sacasa weist diese Vorwürfe zurück: „Ingenio San Antonio hat strenge Kontrollsysteme um zu gewährleisten, dass die Zweitfirmen nach Vorschrift arbeiten und dass sie Regeln zu Arbeitssicherheit und Hygiene unserer Firma einhalten.”
Außerdem fügt er in zu: „Was den Einfluss der chronischen Nierenkrankheit auf unsere Arbeiter betrifft, möchte ich darauf hinweisen, dass von 1996 bis heute 140.000 Menschen dort gearbeitet haben.Davon hatten nur 1,82 Prozent Nierenprobleme.”
„Die Firma ist für Nicaragua wichtig”, sagt Fatima Quant, eine der Nachfahren der indigenen Ureinwohner Nicaraguas, die Touren durch die Flor de Caña Fabrik mit organisiert. „Sie investieren, gründen neue Unternehmen. Andere Firmen kommen einfach nur, bedienen sich an unseren Rohstoffenund gehen wieder. Aber das Geld von Flor de Caña bleibt hier: In Chichigalpa gibt es kostenlose Schulen und Unterkünfte. Es ist gar nicht so schlecht.”
Ich besuche die Siedlung La Isla am Stadtrand von Chichigalpa, wo sich ein ziemlich anderes Bild abzeichnet. Hier schaut die Armut aus dem Fenster, die Dächer sind aus einfachem Blech und in dem dichten Waldwuchs findet sich vereinzelt ein Haus. Die Sterberate in La Isla ist noch höher: mehr als 70 Prozent aller Männer sterben an Nierenversagen. In den 400 Familien der Gemeinde gibt es mehr als 78 Witwen. Die Einwohner nennen die Siedlung deshalb selbst „La Isla de las viudas—Die Insel der Witwen”.
Ich habe mich mit einer der Witwen unterhalten: Ihr Mann hat auf einer Zuckerrohrplantage gearbeitet und ist vor sieben Jahren gestorben. Er war 32 Jahre alt. Wie bei jedem, mit dem ich in Chichigalpa spreche, will auch sie anonym bleiben, da sie Angst vor der Regierung hat. Sie hat vier Kinder, verkauft Obst um zu überleben und wohnt in einer zerfallenen Hütte, die von Bäumen überwuchert wird. Aus dem Haus schauen ihre vier kleinen Kinder heraus.
„Wir kämpfen jeden Tag”, erzählt sie mir. „Ohne ihn ist es sehr schwer.”
Ob sie wütend sei, frage ich sie. Hier leben viele Frauen wie sie—jung und verwitwet und alleingelassen mit Kindern, die sie versorgen müssen.
Sie schweigt kurz: „Das ist nunmal unser Leben.”
„Es reicht. Es ist Zeit, dass das Problem auch angesprochen wird”, meint Jason Glaser. „Wir wollen die ISA oder die Pellas-Gruppe nicht zerschlagen, auch wenn sie gerne so tun, als sei das unser Ziel. Wir wollen einfach nur ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.”
Zurück in der Rumfabrik: Hier herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen. Irgendwie beginne ich, meinen Tourguide und die Sicherheitsleute richtig zu mögen. Sie beantworten all meine Fragen sehr gedudig und winken und lächeln den Touristen gutmütig zu. Schwer vorzustellen, dass nur eine Woche vor meinem Besuch Mitte Oktober ehemalige Zuckerrohrarbeiter vor der Fabrik demonstriert haben. Fünfzehn Leute wurden angeklagt und ein paar kamen ins Gefängnis. Ungefähr einen Monat später waren sie immer noch in Haft. Viele von ihnen leiden an Niereninsuffizienz.
Jeder, mit dem ich in Nicaragua über dieses Thema spreche, scheint paranoid zu sein.Jason Glaser wurde im Februar sogar die Einreise verweigert. Ehemalige Zuckerrohrarbeiter und die Einwohner der Städte sind nervös, sie wollen nicht, dass ihre Namen veröffentlicht werden.
„Es wird so hart durchgegriffen, weil die Polizei glaubt, dass diese Menschen nur deshalb krank sind, weil sie zu viel trinken und dass sie nur gierig sind. Sogar die Regierung verschließt die Augen vor der Wahrheit”, so Jason Glaser.
„Die derzeitige Regierung in diesem Land ist durch und durch korrupt und steckt mit der Privatindustrie unter einer Decke”, sagt Joe und fügt hinzu, dass die Erntesaison heute beginnt. „Manche Leute wurden von den Firmen bezahlt, damit sie nicht auspacken. Jede Woche gehen Arbeiter wegen Niereninsuffizienz.”
Am Ende meiner Tour frage ich den Guide, ob ich die Felder einmal sehen dürfte.
„Da können sie nicht hin. Da sind viele Wachen”, meint er.
„Warum?”, frage ich unschuldig. „Das ist aber schade. Ich wollte sehen, wie Zuckerrohr angebaut wird.”
„Weil schon Zucker geklaut wurde”, erklärt mir der Guide.
Jason Glaser lacht, als ich ihm davon erzähle.
„Klar, einige klauen sicher Zucker, aber deshalb haben sie keine Wachen aufgestellt.
Nur ein paar Meter neben den ertragreichen Feldern sind die Gräber der verstorbenen Arbeiter. Interessanterweise sind viele der Gräber ohne Namen. Es sind einfach nur Erdhaufen, die über einen billigen Holzsarg geschüttet wurden. Scheint so, als haben die Menschen keine Kraft mehr, ihre Toten richtig zu beerdigen.
Das ist der tödliche Preis, den man für Rum zahlt, oder in der Sprache der Einheimischen für sangre de cañero.
Das Blut der Zuckerrohrarbeiter.
*Namen wurden geändert.