„Die Nudeln werden schön elastisch, weil wir eine besondere Pflanze verwenden, penghuicao“, erklärt mir Zhaohong Li. „Die wächst in der Wüste.”
Li ist Leiter einer Schule speziell für handgezogene Nudeln in Lanzhou, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Gansu. Das Markenzeichen der Stadt: Rindfleischsuppe mit handgezogenen Nudeln, die man an fast jeder Straßenecke bekommt. Die Nudeln sind vor allem für ihre Geschmeidigkeit berühmt, man kann sie unendlich lang ziehen und sie kommen in allen möglichen Stärken, je nachdem, wie der Kunde es wünscht.
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„Moment, wie bitte?”, frage ich erstaunt.
Ich dachte immer, dass die Grundzutaten für Nudeln überall auf der Welt mehr oder weniger gleich sind: Mehl, Wasser, vielleicht ein Ei, vielleicht ein bisschen Salz oder eine alkalische Substanz. Aber an eine Wüstenpflanze hätte ich nie gedacht.
„Das ist die alkalische Substanz”, meint Li.
Der wissenschaftliche Name der mysteriösen Pflanze ist Halogen arachnoideus und sie wächst in Wüstengebieten im Norden Chinas auf sandigem Boden, so auch in der nordchinesischen Provinz Gansu, wo ein überwiegend trockenes Klima herrscht. Die Provinz erstreckt sich auch über Teile der Wüste Gobi, der Badain-Jaran-Wüste und der Tengger-Wüste
„Die Blätter der Halogen arachnoideus enhalten viel Calciumoxalat, Kalium, Natrium und Calcium”, erklärt mir Selena Ahmed, Ethnobotanistin und Dozentin für nachhaltige Ernährung n der Montana State University.
Traditionell wird die Pflanze geröstet, gepresst und dann in einer Wasser-Mehl-Mischung aufgelöst. Heute wird das Pulver meist in Fabriken hergestellt.
„Die Menschen nutzten die Mineralien der Pflanze zum Kochen: Sie verbrennen oder rösten Halogen arachnoideus und gewinnen aus der Asche Soda”, erklärt Ahmed.
So wird derpH-Wert des Nudelteigs erhört, damit das Mehl mehr Wasser aufnehmen kann und die Stärke besser aufgespalten wird. Kurz: Die Pflanze macht den Teig elastischer—und damit leichter zu ziehen.
„Damit wird die Proteinstruktur gestärkt und sie sind noch dehnbarer”, meint Selena Ahmed. „Mit einem starken und dehnbareren Teig können Nudelmacher viel besser—und kunstvoller—arbeiten.”
Jahrelang wurde die besondere Zutat penghuicao der Nudeln aus Lanzhou streng geheim gehalten. 2011 hat ein Fernsehsender aus Nanjing dann aber das Geheimnis gelüftet und damit Nudelmacher in ganz China erzürnt.
Denn nicht nur in Lanzhou werden Wüstenpflanzen als Geheimzutat verwendet. Es gibt viele Städte in den trockenen Gebieten im Norden Chinas, die mit den einheimischen Pflanzen ihren Nudelteig perfektionieren. Immerhin sind Nudeln eine der wichtigsten Kohlenhydratquellen im Norden Chinas und sie gehören in verschiedenen Formen seit Jahrhunderten zur Ernährung in China dazu.
Östlich von Gansu liegt das Autonome Gebiet Ningxia. Im Norden, in Zhongwei, gibt es die sogenannten haozhi-Nudeln, die mit den Samen einer heimischen Pflanze gemacht werden. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie ganz normale Nudeln aus Weizenmehl—dünn, lang und geschmeidig. Sie werden aus Mehl, Wasser und ein bisschen haozhi-Pulver gemacht und in einer gewürzten Brühe mit Rindfleischstückchen serviert. Im Teig sieht man kleine graue Punkte, das ist haozhi.
Auf dem Rücken eines Kamels reise ich in die Tengger-Wüste an der Grenze der Autonomen Gebiete Innere Mongolei und Ningxia. Mein Guide zeigt auf ein paar struppige Büsche inmitten der Sanddünen.
„Das ist haozhi“, erklärt mir Changhe Wang, „damit werden haozhi-Nudeln gemacht.”
Heute arbeitet er als Tourguide in der Tengger-Wüste, aufgewachsen ist er inmitten der Sanddünen der Inneren Mongolei: Als Hirte hat er hier Kamele, Pferde und Ziegen gezüchtet. Sanddünen sind nicht unbedingt bekannt für ihre Fruchtbarkeit, aber diese Gegend hier hat eine große Grundwasserquelle, die im Tertiär entstand. Wang hat den Bau von 40 Brunnen mit fast 180 Metern Tiefe begleitet. Bei unserer Tour zeigt er mir essbaren, wilden Sanddorn und immer wieder Strauchgruppen haozhi. Sanddünen halten einige kulinarische Schätze bereit.
„Mit den Samen der Pflanze werden die Nudeln geschmeidiger”, meint Wang.
Der wissenschaftliche Name lautet Artemisia desertorum: „Die Samen enthalten essbares Pflanzengummi und Pektin, beides pflanzliche Ballaststoffe,” erklärt Selena Ahmed. „Diese Pflanzenfasern verbinden sich mit den Zutaten im Nudelteig, sodass er elastischer wird.”
Artemisia desertorum soll außerdem gesund sein. Wie Selena Ahmet meint, wurde bereits untersucht, ob sich damit Nudeln mit einem wesentlich niedrigeren glykämischen Index herstellen lassen als bei handelsüblicher Pasta.
270 Kilometer nördlich von Lanzhou, in Wuwei, isst man shamifen, auch Sandnudeln genannt, die aus den Samen der shami-Pflanze gemacht werden. Die Nudeln sind leicht durchsichtig, sehen ein bisschen aus wie Gelee. In den meisten Restaurants werden sie nur als kalte Gelee-Nudeln verkauft,allerdings wenig aussagekräftig. In China gibt es solche Nudeln aus den verschiedensten Zutaten—Weizen, Mungobohnen, Yams oder Süßkartoffeln—, aber nur in Wuwei werden sie ausschließlich aus shami gemacht: Umhüllt von Essig und Chilisauce bekommt man sie entweder kalt oder knusprig gebraten serviert.
„[Shami] bezeichnet die Samen der Agriophyllum squarrosum“, erklärt Chunlin Long, vom Botanischen Institut Kunming der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. „In Gansu sammeln die Einheimischen die Samen, um daraus Nudeln zu machen.”
Anschließend werden sie eingeweicht und zu Mehl gemahlen, daraus entsteht dann eine geleeartige Substanz.
„Agriophyllum squarrosum hat, um in den trockenen bis halbtrockenen sandigen Gegenden zu überleben, besondere Eigenschaften entwickelt. Diese Pflanzenart ist extrem trocken- und hitzetolerant”, meint Selena Ahmed. „Sie enthält unglaublich viele Nährstoffe und die verschiedensten Eiweiße, um genau zu sein, alle wichtigen Aminosäuren, die der Mensch braucht.”
Da sie eine kühlende Wirkung haben, sind die Nudeln gerade auch im Sommer beliebt.
Zurück in der Nudelschule von Lanzhou bombardiere ich Li mit meinen Fragen zu Nudeln und Wüstenpflanzen. Zwar sind Nudeln aus Nordchina berühmt, aber nur wenige wissen, was wirklich drinsteckt.
„Das meiste penghuicao wird heutzutage, ehrlich gesagt, in Fabriken hergestellt”, meint er zu mir, als ich eine der Pflanzen sehen wollte.
Das scheint sich auf meiner Reise durch Nordchina immer wieder zu bestätigen. In Zhongwei bekommt man das haozhi-Pulver nur in speziellen Geschäften und aus Gesprächen mit den Einheimischen weiß ich, dass shamifen extrem selten sind.
Da ist es billiger, alkalische Zusätze zu kaufen bzw. herzustellen oder shamifen einfach durch etwas zu ersetzen, das einfacher zu beschaffen ist, wie Mungobohnen oder Kartoffeln.
„Meine Großmutter hat früher immer shamifen gemacht”, erinnert sich Vicky Zhao aus Lanzhou. „Heute bekommt man die nur schwer. Nur wenige können echte shamifen von gewöhnlichen Gelee-Nudeln unterscheiden.”
Traurig meint sie noch: „Heutzutage wissen nur noch die wenigsten, wie man selbst Nudeln macht.”