Das Geheimnis hinter der ungebrochenen Anziehungskraft der SuicideGirls

Wir befinden uns in einem Tanzstudio, in dem drei Tänzerinnen ganz langsam ihr Sailor-Moon-Kostüm fallen lassen. Sie üben allerdings nicht für die Comic Con oder irgendein Anime-Festival. Sie sind SuicideGirls, die für ihre Burlesque-Tour quer durch Amerika proben.

Die SuicideGirls wurden wenige Wochen vor dem 11. September 2001 gegründet. Während MySpace, LiveJournal, Aaron Carter und andere Schätze der 2000er-Jahre ihren Glanz verloren haben mögen, sind die tätowierten, alternativen Models beliebt wie eh und je. Auf haben sie 6,2 Millionen Follower – das sind knapp drei Millionen mehr als Ivanka Trump.

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Missy Suicide hat die Webseite damals gemeinsam mit ihrer Freundin Sean Suhl alias Spooky in ihrer Wohnung in Portland gegründet. Ursprünglich stammt Missy aus Beaverton im Bundesstaat Oregon. Sie wuchs ganz in der Nähe des Nike-Hauptquartiers auf, wusste aber schon früh, dass sie nichts mit den Sportlern ihrer Heimatstadt gemein hatte. Sie bewunderte Frauen mit Tattoos und Piercings, musste aber auch feststellen, dass sich viele von ihnen selbst nicht unbedingt als “schön” bezeichnen würden. Auch Feministinnen beteiligten sich damals noch nicht an Diskussionen über Sex und Body Positivity. SuicideGirls sollte das ändern und eine Online-Community für all die Frauen sein, die Missy und Suhul bewunderten und mit denen sie sich identifizierten.

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Mit der Zeit gab es immer mehr Frauen, die für die Pin-Up-Bilder blank zogen, um ihre Tattoos zur Schau zu stellen. Das erregte nicht nur die Aufmerksamkeit von Feministinnen, sondern auch die der Bush-Regierung. Während sich Frauenrechtler_innen die Frage stellten, ob es problematisch sei, wenn Frauen ihre eigenen Nacktfotos im Internet posten, hatte das amerikanische Justizministerium ein ganz anderes Problem: Laut Racked forderte es 2005, die Bilder von der Seite zu nehmen, weil sie zu obszön wirken könnten. Doch die Seite hat überlebt und mittlerweile nicht nurüber fünf Millionen Nutzer, sondern auch zehn Mitarbeiter.

Wie sie das geschafft haben? Missy hat sich zwischen den Proben mit uns zusammengesetzt und über ihr Erfolgsrezept gesprochen.

Broadly: Was ist das größte Missverständnis in Bezug auf die Suicide Girls?
Missy Suicide: Wenn man die Frauen fragt, was ihnen am besten daran gefällt, ein SuicideGirl zu sein, dann sagen so gut wie alle: die Freundschaften. Die meisten Menschen denken, dass es dabei nur um Nacktheit und Pin-up-Bilder gehen würde. Doch in Wirklichkeit geht es um die Gemeinschaft und die Freundschaften, die man knüpft. Allerdings verstehen viele meine persönliche Beziehung zu SuicideGirls falsch: Die Leute glauben, dass ich ziemlich streng bin, dabei bin ich lieb, nett und freundlich.

Wie seid ihr dazu gekommen, eine Burlesque-Show zu machen?
Wir haben schon vor einigen Jahren mal eine Burlesque-Show gemacht, die unglaublich gut angekommen ist. Wir sind damals sogar als Vorgruppe von Guns N’ Roses aufgetreten. Es war aber auch ziemlich viel Arbeit, das alles auf die Beine zu stellen. Also haben wir beschlossen, erst mal eine Pause zu machen. Doch die Sache wurde immer größer und größer. Schließlich haben wir beschlossen, ein Buch zu veröffentlichen und haben zwei SuicideGirls zu den Signierstunden geschickt. Als sie nach Santa Cruz kamen, haben dort schon 500 Leute vor dem Buchladen gewartet.

Da wurde uns klar, dass wir eine noch bessere Live-Show zusammenstellen sollten. Die Leute wollen bei der Show dieselbe Erfahrung machen wie auf unserer Webseite – so eine Art Erweiterung zu unserer Online-Community. Allein die Energie, die unsere Nutzer auf unserer Webseite mitbringen, ist unglaublich. Letztendlich haben wir beschlossen, eine Burlesque-Show mit Motiven aus der Popkultur zu machen. Cosplay und Comics sind momentan sehr beliebt, deswegen haben wir die Cosplay-Elemente übernommen und sie mit einer traditionellen Burlesque-Show verbunden. Das sollte dem Ganzen einen modernen Anstrich verpassen.

Alle Fotos: SuicideGirls

Wie sah eure ursprüngliche Vision für SuicideGirls aus?
Ich wollte einen Ort schaffen, an dem Frauen sich selbst darstellen, sich einzigartig, wunderschön und wohl in ihrer Haut fühlen können. Die Definition von Schönheit war 2001 noch extrem eingeschränkt. Es gab eigentlich nur dünne Frauen oder mit Silikon optimierte Blondinen wie Pamela Anderson. Gleichzeitig habe ich all diese wunderschönen Frauen in meiner Umgebung gesehen, die aber nirgendwo in der Öffentlichkeit repräsentiert wurden. Ich wollte ihnen einen Ort geben, an dem sie zur Geltung kommen und ganz sie selbst sein können. Ich wollte einen Ort schaffen, an dem sie Anerkennung für ihre Schönheit und Einzigartigkeit bekommen. Ich habe erwartet, dass wir in Portland oder vielleicht sogar in Seattle Erfolg haben würden. Dass wir nach 15 Jahren mehr als 3.000 offizielle Suicide Girls auf der ganzen Welt – selbst in der Antarktis – haben würden, hätte ich aber niemals erwartet. Wir haben über 250.000 Anwärterinnen und bekommen jedes Jahr um die 50.000 Bewerbungen zugeschickt. Unsere Community ist riesig, was vermutlich auch daran liegt, dass sich jeder im Laufe seines Lebens mal wie ein Außenseiter fühlt und mit unserer Botschaft ziehen wir noch immer weiter Kreise.

Wie hat sich eure Webseite entwickelt?
Als wir angefangen haben, konnte man sich die Seite nur auf dem Computer ansehen. Man hatte unterwegs ja kein Internet. Mittlerweile nutzen die meisten Menschen das Internet überwiegend mobil und schauen entsprechend auch über den Tag verteilt viel öfter auf unsere Seite. Anstelle von ausgiebigen Besuchen bleiben die meisten Leute aber auch nicht mehr so lange auf der Seite. Zusätzlich gibt es Bücher, Comics, die Burlesque-Show und unsere sozialen Kanäle. Wir haben mehr als 25 Millionen Follower in den sozialen Medien. Außerdem gibt es T-Shirts und andere Fanartikel. Das hat sich alles ganz organisch entwickelt. Allerdings war mir am Anfang nicht bewusst, dass es weltweit so viele Menschen gibt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich.

Hat sich eure Mission über die Jahre hinweg verändert?
Unsere Botschaft ist noch immer dieselbe: Sei ganz du selbst. Den Begriff “SuicideGirls” haben wir aus einem Buch von Chuck Palahniuk. Das Buch handelt von einer Gruppe von Frauen, die sozialen Selbstmord begehen wollen, in dem sie beschließen, nicht dazugehören zu wollen. Ich habe den Begriff “alternativ” immer gehasst. Da stellen sich mir die Haare auf. Alternativ zu was? Niemand definiert sich heutzutage noch über die Musikrichtung, die er hört. Selbst damals war es nicht so, als wäre man nur Punk oder nur Hip-Hop gewesen. Ich habe etwas gesucht, bei dem sich jeder angesprochen fühlt. Es sollte diesem ganzen Nischendenken widersprechen.

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[“SuicideGirl”] wurde fast zu so einer Art geflügeltem Wort. Auf Casting-Informationen liest man immer öfter, dass sie nach “SuicideGirls” suchen. Das ist so ähnlich wie bei Tempo oder Labello: Wenn du “SuicideGirl” sagst, weiß jeder sofort, wovon du sprichst.

Wie haben die Leute damals auf die Tattoos reagiert?
Sie waren nicht wirklich verpönt, aber es gab eigentlich kaum tätowierte Frauen. Tattoos waren damals noch etwas, was Matrosen und Soldaten hatten. Es hatte fast etwas klassizistisches. Man hat damals noch öfter solche Sätze gehört wie: “Wie kannst du das mit deinem wunderschönen Körper machen? Das geht nie wieder weg. Warum musstest du dich selbst so verunstalten? Du bist doch so hübsch.”

Wann hast du dir dein erstes Tattoo stechen lassen?
Kurz nachdem wir SuicideGirls gegründet haben. Einen Monat später habe ich mir Flügel auf den Rücken stechen lassen. Mein Septum-Piercing habe ich, seit ich 15 bin. Ich habe Frauen mit Tattoos und Piercings schon immer bewundert. In meinen Augen waren sie schon immer die schönsten Frauen auf der ganzen Welt.

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Hast du eine Theorie dazu, warum du von Feministinnen lange Zeit über angefeindet wurdest?
So etwas wie “Body Positivity” gab es damals nicht. Es gab keinen Slut Walk oder irgendeine andere Möglichkeit, um zu zeigen, dass es ganz normal ist, dass Frauen stolz auf ihren Körper und ihre Sexualität sein können. Ich wurde immer wieder kritisiert, weil ich mich damals selbst als Feministin bezeichnet habe. Die Welt hat mittlerweile aber ein bisschen aufgeholt. Wir werden sehen, wie es sich in den nächsten vier Jahre entwickelt. Die zweite Welle der Frauenbewegung war sehr antisexuell eingestellt. Dass ich Nacktfotos von Frauen veröffentlicht habe, um zu sagen, dass sie wunderschön sind, war vielen Feministinnen ein Dorn im Auge. Die meisten frühen Feministinnen dachten, dass man den eigenen Körper nicht dazu nutzen durfte, um voranzukommen.

Was hat deine Oma dazu gesagt?
Meine Oma ist Republikanerin und wurde in Kalifornien geboren. Sie hat mich immer nur gefragt: “Warum machst du Nacktbilder von anderen Frauen?” Nachdem sie eines unserer Bücher gesehen hat und bei einer Signierstunde war, hat sie es dann aber verstanden. Sie hat einige der Frauen kennengelernt und meinte dann irgendwann, dass sie zu ihrer Zeit bestimmt auch ein SuicideGirl geworden wäre. An ihrem 75. Geburtstag haben wir uns dann gemeinsam tätowieren lassen.