Koordination: Svenja Gelfert
Der Sohn des ehrgeizigen Besitzers einer Rennbahn (der will, dass sein Sohn seinen Traum, Rennfahrer zu werden, erfüllt und glaubt, dass seine Frau ihn mit einem alten Freund betrügt, was sie aber nicht tut) wird festgenommen, als er den Laden seines Vaters anzünden will. Und Chips
Das Bizarre an Klischees ist, dass die Wirklichkeit—jene unerbittliche, knallharte Schlampe—sie zuweilen nicht nur bestätigt, sondern übertrifft. Als ich zusagte, für VICE ein Experiment zum Thema Scripted-Reality-TV durchzuführen, ahnte ich Übles. Anlass des Ganzen war eine Studie, laut der die Hälfte der Zuschauer, das, was sie da sehen, für Realität halten. (Obwohl im Abspann ja immer steht, das alles frei erfunden ist; das ist vermutlich wie mit den Impotenzwarnungen auf den Zigarettenschachteln.) Viele Kinder und Jugendliche bekommen einen Großteil ihrer „Erziehung“ aus diesen Serien. Der Deal war: Ich sollte zehn Stunden lang Scripted-Reality-Serien im deutschen Fernsehen sehen und berichten, was ich daraus lerne. Ohne Pause, ohne kurz auf Arte-Dokus oder Spongebob auszuweichen, ohne doppelten Boden. Ich durfte aber zwischen verschiedenen Sendungen zappen. SAT 1 RTL RTL 2 SAT 1 RTL RTL 2. Ein weites Feld.
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Es war der 24.08.2012. Ein Freitag. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bis auf wenige Ausnahmen ca. zehn Jahre nicht ferngesehen. Mir war glücklicherweise eine Wohnung und ausreichend Pizza, Chips und Schokolade zugestanden worden. Es war zehn Uhr morgens. Ich fing an.
Hier ist die Liste der Shows, die ich ansahe (chronologisch): Frauentausch, Lenßen&Partner, Family Stories, Richterin Barbara Salesch, Unsere erste eigene Wohnung, Richter Alexander Hold, Privatdetektive im Einsatz, Testfälle, Shopping Queen, Verdachtsfall, Richter Alexander Hold, Betrugsfälle, X-Diaries, Nachbar gegen Nachbar, Berlin Tag und Nacht. (Richter Alexander Hold war mein Fels in der Brandung.)
Das Erste, was mir auffiel, war, dass alle die ganze Zeit stritten. Mütter stritten mit Vätern, Väter zwangen ihre Kinder zum Müllaufsammeln, Leute verklagten, belogen, bedrohten und betrogen sich. Bei Family Stories ging es um ein Mädchen, das Model werden wollte. Das Mädchen war fett. Ihre Mutter war ehrgeizig. Das Mädchen wollte sich zu diesem Zweck Fett absaugen lassen. Dann kam ein Produzent, der sie groß rausbringen wollte, aber erstmal wollte er sie gern begatten, was ich mir aber nicht ansehen wollte. Ich begann sehr schnell, mich auf die Werbung zu freuen. In der Werbung stritt niemand mit irgendwem. Alle waren wunderschön. Scheiße, ich hatte zehn Jahre keine Werbung gesehen, und es hatte sich nichts verändert.
Die schwarze Liste
Gerichtsshows waren irgendwie ein Ort der Ruhe und des Friedens, weil sie immer nach exakt demselben Schema abliefen: 1. Ein junger Mann wird verdächtigt, x getan zu haben ( x = seine Großmutter bzw. die Mutter seiner Freundin getötet zu haben), aber man merkt sehr bald, dass nur z ( z = der Vater der Freundin, der was gegen ihn hat/dessen uneheliches Kind er ist, wie sich später herausstellt) ihm die Sache in die Schuhe schieben will, während besagte y (y = die junge hübsche Freundin, die auf ominöse Art und Weise in das Ganze verstrickt ist) irgendwann urplötzlich im Gerichtssaal auftaucht und ein mysteriöses Indiz (ö) anbringt, das den Fall völlig umkrempelt, und der Täter ist immer der Vater. Kinder, wenn etwas schiefgeht in eurem Leben, euer Vater war’s!
Es war 11:30 Uhr, und ich fühlte mich betäubt. Ich versuchte, möglichst oft Werbung zu erwischen. Irgendetwas war mit meinem Gehirn nicht mehr in Ordnung, es funktionierte nicht mehr richtig. Ich wollte Raffaelo. Unbedingt. Und ich wollte einen Polly-Freundinnen-Comic gestalten. Ich wollte auf der Pro-Sieben-Website die neuen kostenlosen Spiele spielen, weil sie cool und angesagt waren und ich in ihnen vollkommen neue Welten erkunden konnte, und zwar jetzt. In Verdachtsfälle fand die Freundin eines Handyladenbesitzers heraus, dass er sie seit Jahren betrog, weil er in Wirklichkeit auf Dicke stand.
Es war gerade knapp die Hälfte des Tages vorbei, und die Außenwelt wurde von Sekunde zu Sekunde verschwommener. Ich war aus meiner behaglichen Welt herausgerissen worden in eine, in der kalter Krieg herrschte. Allmählich gefiel’s mir. Es lief Nachbar gegen Nachbar. Otto und Emily wohnten in einem Haus, das abgerissen werden sollte, weil ihr mürrischer Nachbar (das Arschloch!) wegen zehn Zentimetern, die es auf seinem Grundstück stand, geklagt hatte (pedantischer Wichser!). Emily war hochschwanger und kam deswegen mit dem Stress nicht zurecht (die Arme …) Doch Gott sei Dank gab es die reizende Schwiegermutter (was für eine nette Person!), die den Nachbarn überzeugte, und Otto (der eigentlich ganz gut aussah) fand eine Firma, die Häuser verrücken kann. (Mit Rollen! Krass, dass es so was gibt! Verrückt!), und alles endete gut.
Der harte Kampf gegen den Sekundenschlaf
Spätestens an dem Punkt war die Frage, wie irgendjemand das Zeug für echt halten konnte, nicht mehr abzuwehren. Lassen die Leute sich einfach gern belügen, solange das, was sie sehen, in ihr Weltbild passt? Denn eine Gemeinsamkeit all der Geschichten (ungeachtet ihrer Klischeehaftigkeit), ist, dass sie wahr sein könnten. Früher wurde bei Romanen gern behauptet, sie seien Fundstücke oder Chroniken, in denen alles vollkommen wahrheitsgemäß wiedergegeben würde. Ehrlich gesagt verschwimmt ab diesem Punkt in meiner Erinnerung, was ich wann und wieso gesehen habe. Ich erinnere mich, dass ich mich ab ca. 16 Uhr permanent an ein Kissen klammerte und ab 18 Uhr auf den Fußboden lag und gegen die Versuchung kämpfte, per SMS Hilferufe an so ziemlich alle zu senden, die ich kenne. In den X Diaries gab es eine Familie blonder, sich sehr ähnlich sehender Frauen. Eine von ihnen entdeckte (zu ihrer, nicht zu meiner Überraschung) ihren Liebhaber mit ihrer Nichte in flagranti und ließ ihn nach einigem Hin und Her sitzen.
Abgesehen von ihrem Unterhaltungswert: Wenn es wirklich so sein sollte, dass diese Shows für einen Haufen Kinder und Jugendlicher da draußen Rollenmodelle liefern, ist das zwar zumindest fragwürdig, aber über den positiven oder negativen Einfluss des Fernsehens auf die Entwicklung ist in meinen Augen zu viel gestritten worden. Ich wurde mit Comics sozialisiert und bin zwar bis heute leider keine Superheldin geworden, habe aber auch nie versucht, aus dem Fenster zu springen. Ich bezweifle, dass zehn Stunden Fassbinder meiner Psyche auch nur ansatzweise besser getan hätten.
Bleibt die Frage: Was habe ich gelernt?
1. Wer andere bescheißt, fliegt am Ende auf und wird seiner gerechten Strafe zugeführt.
2. Freundschaft/Familienliebe ist wichtiger als dein spanischer Liebhaber, der hinter deinem Rücken deine Nichte knallt.
3. Wer wirklich kämpft, wird einen Weg finden, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt und er seine Träume erfüllt.
4. Das Leben kann ein Arschloch sein.
5. Am Ende siegt die wahre Liebe, oder wenigstens die Wahrheit.
Hey, das ist es doch, woran wir alle glauben wollen, nicht wahr? So oder so ähnlich lauten seit Tausenden von Jahren die Botschaften, die immer wieder aufkommen. Vergleiche: Bibel. Und die ist ja bekanntlich auch nur erfunden.
Was habe ich noch gelernt?
Das deine Empathie nicht unbedingt danach fragt, ob es die Objekte deiner Zuneigung wirklich gibt. Ich dachte in den folgenden Tagen gelegentlich an Manni, Ayshe, Otto, Emily, die Shopping Queen und Alexander. Manni, Ayshe, Otto, Emily, Shopping Queen, Alexander, ihr fehlt mir. Auch wenn es euch nicht gibt, ich hoffe, ihr seid glücklich da draußen. Lebt wohl (ich hoffe, wir sehen uns nie wieder)!
Fotos von Grey Hutton