Wir sind ein bisschen stolz, mit Noisey die anstehende Ausgabe des Club Transmediale Festivals präsentieren zu können. Nicht nur weil das Line-up mit solchen Namen wie SunnO))), Myrninerest with David Tibet, Matmos, Pantha du Prince, Iceage, Xiu Xiu & Eugene S. Robinson, Mykki Blanco oder Simian Mobile Disco so hochkarätig und aufregend wie eigentlich noch nie zuvor besetzt ist. Sondern auch, weil wir seit Jahren Fans und regelmäßige Besucher des Festivals sind.
Wir trafen uns mit Jan Rohlf, einem der CTM-Gründer und Vordenker und Michail Stangl, der neben seinen Engagements beim Boiler Room Berlin und dem Leisure System zum ersten Mal als Co-Kurator des Festivals in Erscheinung tritt.
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Wie immer hat man sich im Vorfeld des Festivals Gedanken gemacht und alle jene, denen noch gar nicht bewusst war, dass es außerhalb der zwischen den Koordinaten Bierdosenschießen, In-die-Ecken-Pinkeln und Im-Moshpit-zerquetscht-werden abgesteckten Festivalhölle tatsächlich noch ganz andere Festival-Vergnügen geben kann, sollten sich von den folgenden Einlassungen mal die Hirnrinde massieren lassen und sich anschließend schleunigst um Ticketbeschaffung bemühen.
Noisey: Die kommende Ausgabe des Festivals findet unter der Überschrift „The Golden Age” statt. Was soll das bedeuten?
Jan: Wir suchen uns jedes Jahr einen neuen Blickwinkel auf das Festival. Und die Idee ist es, diese Themen wie eine fortdauernde Recherche zu begreifen. Im Grunde ist jedes dieser Festivalthemen bei jedem Festival präsent, wir schmeißen nur jedes Jahr ein anderes Licht auf die Musikkultur, die wir bearbeiten. Bei The Golden Age ist es so: Wir haben uns überlegt, wo stehen wir. Und das Gefühl ist einfach, dass es einen Überfluss gibt, ein zu viel oder sehr viel von allem. Sowohl stilistisch, aber auch von der Menge her. Von der Menge der Künstler, der Outputs, der Distributionswege. Und dass es da eine Entgrenzung gibt, beinahe einen Exzess. Und wir wollen gucken, was das bedeutet. Ist das gut, ist das schlecht, ist das das Golden Age der befreiten Kreativität oder gibt’s da noch ganz andere, dunkle Seiten. Man könnte ja auch sagen, es wird immer schwieriger innerhalb dieser Aufmerksamkeitsökonomie durchzukommen und überhaupt auf sich aufmerksam zu machen oder alles wird beliebig, es gibt keine Kriterien mehr, weil alle alles dürfen, keine Gatekeeper, keine Regeln, kein Kanon – wie kann man sich dann überhaupt noch darüber verständigen, was gut oder schlecht ist, was eine Bedeutung hat und was nicht.
Und der Begriff ist da eine Polemik natürlich. The Golden Age – ist das jetzt, ist das in der Zukunft, ist das in der Vergangenheit, wollen wir das überhaupt. Das ist die Figur.
In der griechischen Mythologie, wo die Metapher des goldenen Zeitalters herkommt, da ist das ja etwas, das heutige Menschen gar nicht mehr als wünschenswert empfinden können. Das ist so ein statischer Zustand, in dem es keine Entwicklung mehr gibt. Alle haben alles, es gibt alles im Überfluss.
Das Schlaraffenland.
Jan: Genau, das ist eine andere Version vom Golden Age. Das ist einfach der Stillstand. Ich glaube, wir sind in unserer Epoche so geeicht, dass wir uns das gar nicht mehr vorstellen können. Wir wollen immer Dynamik, Entwicklung, Fortschritt. Und wir haben das Gefühl, wenn wir stecken bleiben, dann ist es gleichzeitig das Ende. Etwas Schreckliches. Der Begriff The Golden Age ist also total schimmernd. Horror oder Paradies. Oder ist Golden Age heute etwas ganz anderes, nämlich Prozess und Verlauf.
Michail: Vom Programmstandpunkt gesehen hast du ja dadurch, dass es keine Begrenzungen mehr an Material gibt, auch ein viel offeneres Publikum. Zumindest haben wir den Eindruck. Die Leute sind kompromissbereiter als das vor ein paar Jahren noch der Fall gewesen wäre. Die Leute bewegen sich da in einer hohen Geschwindigkeit, wenn es darum geht, alles mitzukriegen und das ermöglicht es uns, im Programm diese starken Kontraste zu setzen, wo man sagen könnte, das ist wirklich nur jetzt und heutzutage möglich. Das also auch als eine Seite des goldenen Zeitalters.
Jan: Man könnte auch sagen, all diese Tendenzen, die Digitalisierung, der Zugang zu den Mitteln, die Globalisierung, die Tatsache, dass Werke nicht mehr auf einen Zustand fixiert sind und verändert werden können, also dieses anything goes, das die Kunst und die Avantgarden immer wollten – dann könnte man sagen, man ist in diesem Zustand angekommen, das goldene Zeitalter. Wir haben die befreite Subjektivität, jeder darf machen, was er will … und dann kommen aber eben gleich die Fragen. Wenn also jeder nur aus dieser Subjektivität heraus handelt, wie können wir dann darüber sprechen und eine Öffentlichkeit herstellen, die dem irgendeine Relevanz zuschreiben kann. Das ist der Zustand. Wir haben definitiv eine Vielfalt und es ist auch nicht so, dass es an Qualität mangelt, es ist genial, was teilweise so an Hybriden und Mischformen so zusammen geschmissen wird. Früher war dieser Drang, sich subjektiv auszudrücken ein Kampf gegen irgendeine begrenzende Obrigkeit und hatte allein dadurch schon eine Relevanz und wenn das wegfällt, dann muss man sich eben fragen, was bedeutet das überhaupt noch. Stehen wir dann nicht nur noch in einer Aufmerksamkeitskonkurrenz und jeder schreit, um als Marktteilnehmer auf sich aufmerksam zu machen. Jeder steht enorm unter Druck, originell sein zu müssen, obwohl es aber gar keine Originalität mehr gibt, weil alle sich aus irgendwelchen Quellen etwas zusammen bauen. Und diesen komplexen Prozess mal unter die Lupe zu nehmen, darum geht es. Und wir sind dabei unentschieden, ob das jetzt genial ist oder schrecklich.
In dem Moment funktioniert so etwas wie das Festival dann aber doch wieder als Gatekeeper. So ganz ohne geht es also hoffentlich doch nicht.
Michail: Natürlich ist ein kuratiertes Festival immer auch ein Filter. Wir versuchen ja schon auch von unserem persönlichen Geschmack zurückzutreten und abzuwägen, ob bestimmte Programmpunkte dem Thema zuarbeiten. Also etwas ist so relevant gewesen, das gehört jetzt unbedingt in diesen Kontext. Natürlich filtern wir, aber dadurch, dass so ein Festival schon einen kulturbildenden Anspruch hat, versuchen wir auch, dass so objektiv wie möglich zu gestalten.
Jan: Na, das glaube ich nicht. Ich würde es anders beschreiben. Gatekeeper an sich sind ja nichts Falsches. Die Frage ist, hockt der Gatekeeper an einer Stelle, wo es keinen Weg drumrum gibt oder bist du jemand, der einen Vorschlag in die Runde schmeißt und sagt: Guck doch mal so auf die Sache oder versuch doch mal dieses mit jenem zu verbinden. Und wenn du dann nicht gewillt bist, da mitzuziehen, dann läufst du eben außen rum und kommst dann auch irgendwo an. So ist das Festival zu sehen. Wir schlagen etwas vor, wir sitzen aber nicht in einem Flaschenhals, wo man nur durch uns hindurch kommt. Und klar gehen auch wir mit dieser subjektiven Perspektive da heran, wir schöpfen aus unseren eigenen Vorlieben und unserer eigenen Geschichte als Musikhörer oder als Musikaktivisten und bauen daraus unsere Vorschläge. Das unter dem Anspruch, dass wir nicht nur zu uns selbst sprechen, sondern auch zu anderen. Also die Feststellung, wir finden diese Vielfalt toll, aber wie kommen wir zu einer Kultur des Sharens, des Austausches und des Diskurses. Also dass man sich nicht damit zufrieden gibt, dass man sagt, das ist cool oder ästhetisch spannend, sondern dass es etwas tiefer geht. Da ist Gatekeeper sein auch nicht schlecht, aber es ist nie absolut, das ist wichtig. Man muss zu Reibungen, Kontrasten, Widersprüchen kommen, weil da das Gespräch wahrscheinlich erst anfängt. Wenn wir uns also als Festival keine bestimmte Haltung verpassen würden, dann fände halt gar nichts statt.
Du hast vorhin den Begriff der Aufmerksamkeitsökonomie gebraucht und von dem Bedürfnis gesprochen, immer eine Entwicklung, ein Fortschreiten zu erleben. Wie groß kann dieses Bedürfnis sein, wenn man bedenkt, dass Aufmerksamkeit als Ressource auch nicht unendlich ist?
Jan: Gute Frage. Also ich denke mal, Paradiesvorstellungen, egal ob in der Zukunft oder der Vergangenheit sind immer die Vorstellungen einer bestimmten Zeit. Das Schlaraffenland kann heute nicht mehr unser Paradies sein. Da denken wir an Diabetes und Übergewicht. Aber für die Menschen im Mittelalter war das eine glaubwürdige Utopie. Und heute ist es so: Wir können uns diesen Stillstand nicht mehr vorstellen. Andererseits ist es so, dieser Dauerlauf im Hamsterrad kann es irgendwie auch nicht sein. Eine Herangehensweise könnte sein, dass man versucht, diesen Druck rauszunehmen. Das man es sich auch erlaubt, mal innezuhalten. Ich muss nicht im Echtzeitzwang das alles verfolgen. Dann muss man aber erstmal fragen: Woher kommt dieser Druck, an allem teilnehmen zu müssen? Also auch bei Dingen, die erstmal nur Spaß machen sollen, wie auch die Musikkultur. Wenn man diesen Druck rausnehmen würde, könnte man auch als Künstler viel entspannter sagen: Interessiert mich überhaupt nicht, was die da drüben machen oder: Ach, das hat schon mal jemand gemacht? Egal, das ist jetzt mein eigener Weg. Auch als Festivalmacher könnte man sagen: Hey, das ist mir zu viel, kann ich nicht alles durcharbeiten, schaffe ich nicht.
Wir haben ja auch das Gesprächsprogramm und da wird es darum gehen, diesen gesamten Apparat zu beleuchten.
Michail: Ich finde, dass hier der Begriff der Ökonomie ganz wichtig ist. Es gibt eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, aber natürlich auch wirtschaftliche Zwänge, das zieht sich durch alle Aspekte, die für uns als Festival interessant sind, sei es Journalismus, Musikproduktion, bis hin zu betriebswirtschaftlichen Dingen, ist man immer in einem ökonomischen Prozess involviert, der einem natürlich Rahmenbedingungen vorgibt. Und da ist es wichtig, zu beobachten, was sich in den letzten Jahren in der Musikwirtschaft verändert hat. Es hat sich beschleunigt, es erleben Mikro-Genres innerhalb von Monaten einen Aufstieg und Fall, vom Underground in den Mainstream in den Trash hinein. Trap ist da ein gutes Beispiel, das innerhalb eines halben Jahres von einem Insider-Ding zu einem Warner-Thema gewachsen ist, die jetzt Trap-Remixe von ihrem „One Pound of Fish”-Song anbieten. Eine Entschleunigung kannst du da oft nur noch vornehmen, wenn du gewisse Freiheiten hast und Freiheit kommt mit einer gewissen Ausstattung an finanziellen Mitteln.
Jan: Oder eben, indem man einen Weg findet, diese Paranoia, etwas zu verpassen oder nicht attraktiv zu sein, ad acta zu legen. Darum ist es uns in diesem Jahr wichtig, Künstler da zu haben, die in ihrem eigenen System operieren. Die vielleicht auch aus persönlichen Erfahrungen schöpfen, die anderen möglicherweise schwer mitzuteilen ist. David Tibet ist da ein gutes Beispiel, der seit Jahren an seinem mythologischen System arbeitet, sich mit dem koptischen Christentum beschäftigt und seine eigene Symbolsprache entwickelt. Und dann zu gucken, wie diese Leute dieses schwer Mitzuteilende in eine bekanntere Sprache übersetzen, in eine Musiksprache, die es dann doch ermöglicht, Zugänge dazu zu finden. Auch zu sehen, wie die sich immer wieder mühen müssen, diese Balance zu finden. Auf dem Weg besteht dann die Chance, dass wirklich etwas neues, nicht recycletes in die Welt kommt.
Wir sitzen ja hier und denken seit Simon Reynolds Buch „Retromania”, dass wir seit Jahren nichts anderes machen als das Bekannte immer wieder durchzuarbeiten. Und die große Frage ist: Wo ist noch etwas Unbekanntes, Neues. Und eine Überlegung oder Hoffnung ist, dass es aus solchen Haltungen kommt.
Das ist dann natürlich ein Ansatz, den man bei dem eklektischen Charakter dieses goldenen Zeitalters fast übersehen könnte …
Jan: Ja, es gibt eben zwei Seiten. Das was ich gerade beschrieben habe, einer weiß genau, womit er sich beschäftigt und geht sehr bewusst mit seinen Quellen um und dann gibt es einen eher unbewussten Eklektizismus. Wir schmeißen alles zusammen, wir probieren mal rum, wir surfen durchs Internet. Und unsere Message ist: Wir glauben, beides ist genau so gut und genau so wichtig. Früher hat man gesagt, eklektisch ist negativ, das sind Leute, die nicht wissen, was sie tun. Aber ich finde es auch wichtig zu zeigen: Ja, wir sind unbewusst, wir sind benebelt, wir haben keinen Plan, es gibt keinen Plan, aber wir machen es trotzdem. Diese Ansätze zusammen zu bringen, dazu ist dann auch das Festival da.
Michail sprach gerade von der Bedeutung des Ökonomischen. Ökonomie ist ja nun gerade eines der besonders diskutierten Themen in diesem ablaufenden Wandel der Musikindustrie. Du findest auch in Subkulturen jede Menge Künstler, die fluchen, dass sie ihre Ideen nicht umsetzen können, weil ihnen das Geld fehlt. Macht sich ein Festival wie der CTM auch darüber Gedanken?
Jan: Klare Antworten gibt’s da im Moment nicht. Keine Ahnung, wann man sich wieder in einer Phase befindet, in der sich das alles ausbalanciert. Im Rückblick sagen ja jetzt viele, damals in den 70ern und 80ern, da ging das alles gut. Und jetzt halt nicht mehr. Klar, da ist ein riesiger Umbruch am laufen und klar, man muss sich anschauen, wie funktioniert das alles, um darin überhaupt agieren zu können. Egal ob als Künstler oder als Festivalmacher. Es gibt momentan viele verschiedene Dinge, die man tun kann. Die funktionieren aber immer nur für Akteure oder Künstler in einer bestimmten Situation. Man kann nicht verallgemeinern, ob du mit einem herkömmlichen Modell besser fährst oder ob du dich aus er Musikwirtschaft raus nimmst, ob du dein Geld über einen Youtube Pro-Channel verdienst, ob du deine Musik besser verschenkst und so weiter. Zu jedem dieser Modelle gibt’s Erfolgsgeschichten und Horrorstories.
Wie werdet ihr nun all diese Vorüberlegungen konkret im kommenden Festivalprogramm abbilden, was wird passieren?
Jan: Wir wollen die Möglichkeit haben, die unterschiedlichsten Dinge miteinander zu verschalten, ohne dass einer sagt, das kann man doch nicht machen! Oder ohne, dass die Leute sagen, da geh ich nicht mehr mit. Dahin haben wir das Festival über die Jahre entwickelt. Und bei diesem Thema ist das jetzt auch noch mal so eine Selbstreflexion. Was machen wir da eigentlich, wie funktioniert das und wie kriegen wir diese Kontraste in ein sinnvolles Spannungsverhältnis. Wir versuchen feine Fäden innerhalb dieser Programmpunkte zu spinnen. Also nicht vordergründig kombinieren, dass man sagen kann: ‚Ah, die arbeiten in dem gleichen Genre.’ Ich sprach ja von David Tibet. Nur als Beispiel: Das Hau1-Programm ist eine einzige Abfolge von solchen eigensinnigen Persönlichkeiten. Mit Dean Blunt, Hype Williams, Xiu Xiu, Eugene S. Robinson, auch mit Pantha Du Prince.
Michail: Ein anderes Beispiel für diesen Golden Age-Gedanken: du gehst von Suum Cuique, dieser Miles Whittaker-Sache, der bewusst mit seinen Mitteln operiert, weil er Jahrzehnte-lange Erfahrung hat, nur analog arbeitet, keine Overdubs macht, hin zu d’Eon, der so retro-futuristisch arbeitet und du nicht einschätzen kannst, sind das Outtakes vom Miami Vice-Soundtrack oder ist das ein total genialer Synthesizer-Virtuose, der so eine Art kognitive Dissonanz erzeugt – das ist so die Bandbreite.
Jan: Vereinfachend kann man vielleicht sagen: Wenn es früher so war, dass Abgrenzung und Distinktion über Expertentum und Insiderwissen funktioniert hat, dann ist es heute eher so, dass ich heute in die Philharmonie gehe und morgen in einen Keller mit zwanzig Leuten zu einem Harsh-Noise-Abend gehe und dann dazwischen sogar noch eine Verbindung aufspüre. So funktioniert das heute eher und das soll auch das Festivalprogramm abbilden.
Michail, du arbeitest zum ersten Mal als Co-Kurator an dem Festival. Welches Verhältnis hattest du zum CTM und welche Möglichkeiten siehst du in der Zusammenarbeit?
Michail: Mein Bezug zum Festival war der eines massiven Fanboys, von Anfang an, nachdem ich nach Berlin gekommen bin. Ein Highlight waren damals für mich auch die von CTM veranstalteten Wasted Parties, diese Breakcore-Abende. Dann natürlich die Festivals, die Verbindung zu Dense Records, letztes Jahr hatte ich dann schon eine eigene Veranstaltung im Rahmen des Festivals. Die Möglichkeiten sind, wesentlich direkter an die Materie heranzugehen, mit Konzept, über einen längeren Zeitraum ein Programm zu entwickeln. Als Veranstalter oder Kurator bewegst du dich immer in finanziellen und zeitlichen Grenzen. Du hast immer nur ein paar Stunden, die du thematisch füllen kannst. Bei einem Festival hast du aber die Möglichkeit, eine programmatische Dramaturgie zu entwickeln. Du kannst auch Experimente wagen. Du hast Fixpunkte, von denen du weißt, die müssen funktionieren, aber das dazwischen kannst du relativ frei gestalten. Du kannst also entscheiden: Ich setze diesen Künstler zwischen zwei Headliner, weil ich will, dass ihn besonders viele Leute sehen und weil ich weiß, dass die Leute nicht wegrennen werden, weil sie sich ja auf das ganze Ding einlassen möchten.
In Berlin hast du das Problem, dass viele Veranstaltungen finanziell schwer umzusetzen sind, weil du eine so starke Konkurrenz hast. Es ist einfach viel los. Dementsprechend setzen viele Veranstaltungen auf eindeutige Headliner. Dann kommt noch ein zweiter Headliner und dann eventuell dazwischen ein Künstler, den man einfach nur gut findet. Bei einem Festival hast du durch die größere Bandbreite die Möglichkeit, mehr die Nuancen zu betrachten. Das ist sehr spannend. Du kannst dir wie in einem Süßwarenladen auch die obskuren Sachen rauspicken, die sonst nicht funktionieren würden.
Ich finde, CTM hat es geschafft, eine gute Balance hinzukriegen, ohne dabei vorhersehbar zu sein. Es gibt ja gerade in der elektronischen Musik hot topics, die Karawanen-mäßig von Festival zu Festival ziehen, diese ganze UK-Bass-Geschichte. Der Nachteil von Berlin wird dann zum Vorteil, denn dadurch, dass das im Laufe des Jahres sowieso die ganze Zeit passiert, können wir schauen, was ist noch nicht gesagt worden, was ist außerdem noch interessant.
Jan: Genau, uns ist es auch wichtig, das Ineinanderfallen von Zeit abzubilden. Also so jemanden zu bringen wie Ernstalbrecht Stiebler, einen Komponisten, der über 70 ist und aktuell natürlich überhaupt nicht im Fokus steht und daneben jemanden wie Dean Blunt zu stellen, der durchaus als Hype-Künstler durchgehen kann.
Michail: Die Tiefe ist die Herausforderung, weil du nicht so offensichtlich operieren kannst. Du willst ja dem Musikdiskurs der Stadt etwas hinzufügen. Das kann eine Herausforderung sein, das kann aber auch nervig sein, wenn du deine Wunschkünstler durchgehst und dann merkst, die waren vor ein paar Monaten schon mal da.
Die Funktion von Headlinern wurde schon angesprochen. Nun hat man den Eindruck, dass in diesem Jahr ein paar wirklich dicke Pfunde als Headliner besetzt wurden und dass ihr damit schon das Festival auf das nächste Level heben wollt. Täuscht der Eindruck?
Jan: In gewisser Weise ist das so. Ein kleiner Schritt vorwärts – warum nicht. Aber wir sind da sehr behutsam, das sieht man ja allein schon an der Wahl unserer Veranstaltungsorte. Wir wollen innerhalb einer bestimmten Musikkultur bleiben und das auch nicht verlassen. Da soll eine bestimmte Größe auch nicht überschritten werden, weil das Festival natürlich auch als Ort der Begegnung und des Austausches gelten soll. Nächstes Level aber auch in der Hinsicht, dass wir die Spanne noch ein bisschen weiter aufziehen wollen. So einen Act wie Simian Mobile Disco hätten wir uns vor drei Jahren nicht vorstellen können.
Michail: Aber wenn du dir anguckst, wie sie arbeiten, die kommen mit einem ganzen Fuhrpark an analogen Synthesizern. Ihr Ansatz unterscheidet sich also gar nicht so sehr von den Sinuswellenmodulationen irgendwelcher akademisch geprägter Künstler, nur dass sie eben nicht künstlerisch bildend arbeiten. Trotzdem ist es genau so relevant und passt auch ins Programm. Natürlich möchte man wachsen, aber nicht um jeden Preis. Meine Idealvorstellung wäre es, wenn in drei Jahren dann auch bei obskuren Black Metal-Bands 3.000 Leute vor der Bühne stehen und sagen: Ja, weil es der CTM macht, hören wir es uns an. Ist natürlich so nicht umsetzbar, aber wenn jedes Jahr ein paar Leute dazu kommen, die dem Festival vertrauen und sich drauf einlassen, dann wäre das ein tolles organisches Wachstum.
Jan: Bei den Headlinern ist es aber auch so, klar kennt man Simian Mobile Disco aus einem Pop-Kontext. Wir verschalten die aber dann auch entsprechend des Ortes mit ganz anderem Zeug. Simian Mobile Disco spielen im Stattbad und parallel dazu spielen Sun Worship, also eine Black Metal-Band. Zwei verschiedene Szenen zusammen zu bringen, das ist ja auch das Spannende.
Was sind eure persönlichen Highlights des Festivals?
Michail: Ich kann mit Stolz geschwellter Brust sagen: Das ist eines der besten Festival-Line-ups, die ich in den letzten zehn Jahren gesehen habe. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Diamond Version, Emptyset, Myrninerest, Sal Mineo, EAN, Mykki Blanco, ich freue mich auch riesig auf Simian Mobile Disco, Lee Gamble, SunnO))) – das sind meine Highlights.
Jan: Wir haben uns in diesem Jahr mehr noch als in den anderen vorgenommen: Jeder Künstler muss 100 % sein. Wir müssen absolut dahinter stehen. Und so ist es auch. Deswegen ist es schwer, da jemanden rauszupicken. Aber klar gibt es spezielle Projekte, auf die ich mich sehr freue. Zum Beispiel die Premiere von Sal Mineo und Dean Blunt, die im Hau dann tatsächlich auch so eine theatralische Form suchen. Oder der ganze Abend, den wir mit PAN gestaltet haben, wo Mark Fell, Florian Hecker und Heatsick wirklich besondere Performances machen werden. Florian Hecker plant, durch die Räume des Berghains hindurch eine Multikanal-Komposition zu spielen, wo man dann als Besucher auch rumlaufen muss, um es zu begreifen. Mark Fell plant eine Licht-Sound-Performance und Heatsick wird eine mehrstündige Performance liefern, in die er auch Licht mit einbindet. Wir haben auch noch dieses Projekt Rave Undead, da gibt’s zwei Musikprogramme und ein Gesprächsprogramm, wo es um die Wiederaneignung oder auch die Dekonstruktion und Zerfledderung der frühen Rave-Kultur geht. Da kommen dann so Künstler wie Evol oder Lorenzo Senni, der gerade ein tolles Album auf Editions Mego rausgebracht hat. Oder Theo Burt, der mit algorithmischen Methoden Rave-Sounds aus den Neunzigern automatisiert und total verfremdet. Dann haben wir aber auch ein paar Leute, die diesen Originalsound wieder bringen. Das letzte Revival, das noch möglich ist, danach gibt’s dann keins mehr. Darüber gibt’s bald mehr auf unserer Website.
Guter Hinweis, Danke.
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