Im Juni 2006 kündigte die NBA in einer triumphalen Pressemitteilung einen Meilenstein an: die erste Änderung des Spielballs seit über 35 Jahren – und ingesamt erst die zweite in 60 Spielzeiten. Der klassische, aus acht Paneelen bestehende Lederball sollte jetzt durch eine Hightech-Wurfwaffe abgelöst werden. Spaldings neuer Ball war aus einem Mikrofasermaterial mit dem klangvollen Namen Cross Traxxion™ gemacht. Und natürlich fehlte auch nicht die Signatur vom Oberbabo der Liga, David Stern. Doch zu seiner Rolle kommen wir später noch.
Im selben Sommer arbeitete ich noch für den US-Sammelkarten-Guru Topps und sollte einige frisch gedraftete NBA-Spieler interviewen. Ich fuhr zu einem Trainingszentrum, wo die Stars von morgen den Pressevertretern Rede und Antwort stehen mussten. Unter anderem sprach ich an jenem Nachmittag mit Steve Novak, dessen Dienste sich die Rockets gesichert hatten. Warum ich das noch weiß? Weil er über das neue Spielgerät ein Urteil fällte, mit dem er rückwirkend betrachtet sehr alleine dastehen sollte. „Ich mag den Ball”, meinte Novak zu mir, während er sich ihn in seinen langfingrigen Händen hin und her spielte. Schön viel Grip habe der Ball, meinte er noch.
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Das fanden die meisten anderen Spieler aber nicht. Weswegen die Liga nur zwei Monate nach Saisonbeginn eine Rolle rückwärts verkündete. Soll heißen: die dritte Änderung des Spielgeräts in 60 Jahren NBA-Geschichte – aber eben die zweite in nur sechs Monaten.
„Spaldings kontinuierliche Anstrengungen, den technologischen Fortschritt im Basketball voranzutreiben, haben den optimalen Ball hervorgebracht”, versprach Spalding-CEO Scott Creelman bei der Vorstellung des Cross Traxxion.
Auch der damalige NBA-Commissioner David Stern ließ Laudatio-Rosen regnen: „Spaldings neuer Ball stellt sicher, dass die besten Basketballspieler der Welt auch mit dem besten Basketball der Welt spielen.”
Leider sahen das die besten Basketballspieler der Welt anders. „Furchtbar”, meinte etwa Shaquille O’Neal, der damals schon für die Heat spielte, drei Wochen vor Saisonstart. „Der fühlt sich an wie einer von diesen Billigbällen, die man im Supermarkt kaufen kann…. Ich gehe davon aus, dass die Wurfquote fallen und die Anzahl an Turnovers steigen wird. Denn sobald der Ball feucht wird, hat man keinerlei Kontrolle mehr über ihn. Wer den gemacht hat, gehört gefeuert. Das war eine furchtbare, furchtbare Entscheidung.”
Andere waren noch undiplomatischer. „Ich hasse ihn”, lautete das Urteil vom Wizards-Guard DeShawn Stevenson. Etwas differenzierter klang hingegen die Kritik von Steve Nash: „Der Ball reißt meine Finger auf.” Ein Vorwurf, den auch Ray Allen äußerte: „Ich muss ständig Handcreme verwenden, weil meine Finger und Fingernägel aufreißen.”
Auch Dirk Nowitzki gehörte zu den kritischen Stimmen. Auch der Würzburger beklagte, dass der Ball seine Hände bluten lasse. Der optimale Basketball war also gar nicht so optimal. Ganz im Gegenteil: Er war ziemlicher Bockmist.
Je mehr Details der Geschichte bekannt wurden, desto verrückter klang das Ganze. Angefangen damit, dass bei der Entwicklung des Cross Traxxion keine aktuellen NBA-Spieler miteinbezogen wurden. Der Ball wurde zwar an zwei All-Star-Wochenenden, in einer D-League-Saison und von den Ex-Profis Mark Jackson, Steve Kerr und Reggie Miller getestet. Doch diejenigen, die am Ende des Tages mit den Veränderungen leben mussten, wurde einfach außen vor gelassen.
Doch entgegen der Befürchtungen von Shaq gewöhnten sich die Spieler recht schnell an den neuen Ball, wenn auch nur widerwillig. In seiner kurzen Einsatzzeit wurden sogar durchschnittlich 2,5 Punkte pro Spiel mehr erzielt. Doch ein Hauptärgernis blieb unbeantwortet: Warum wurde die Spielergewerkschaft komplett übergangen? Jerry Stackhouse, der damals bei den Mavs unter Vertrag stand, brachte es auf den Punkt: „Ich sage ja nicht, dass das Spiel irgendetwas verloren hat oder wir jetzt weniger Punkte oder keine spannenden Duelle mehr erleben. „Aber der Ball ist einer von den Punkten, die direkt unseren Arbeitsplatz betreffen. Hier wurde einfach eine einseitige Entscheidung getroffen, einseitig, das ist das richtige Wort.”
Am 1. Dezember 2006 leitete die NBA-Spielervereinigung arbeitsrechtliche Schritte ein – mit folgendem Gruß an den NBA-Commissioner: „Mr. Stern, indem Sie zu keiner Zeit die Spieler zu dem neuen Ball befragt haben und ihnen nicht einmal gestatteten, ihn vor seiner Einführung zu testen, haben Sie sich gegenüber den Spielern äußerst respektlos verhalten.”
Übrigens passte das Verhalten der Ligabosse zum allgemein autokratischen Auftreten der NBA. Stern, der seiner Liga erst kurz zuvor einen „Business casual”-Dresscode aufgebrummt hatte, war längst bekannt für seine Alleingänge. Doch während sich die Spieler schnell und reibungslos an den neuen Dresscode gewöhnten—wenn man so will, hat also Stern die Swag-Lawine von Westbrook und Co. erst losgetreten—war für sie der von oben erzwungene Spielball eine klare Grenzüberschreitung. „Was wir am meisten lieben, ist der Basketball”, sagte LeBron damals. „Ohne unseren Basketball läuft nichts. Darum habe ich auch nie verstanden, warum sie etwas abgeschafft haben, das uns so viel bedeutet hat.”
Diese Frage wurde nie hinreichend beantwortet. Wenn Gründe genannt wurden, fiel häufig das Wort Effizienz. Die Mikrofaser-Bälle wurden als Lösung für einen Mangel an „verlässlichem Leder” gelobt. VICE Sports hat von Mark Cuban wissen wollen, wie damals der ligainterne Prozess der Balleinführung vonstatten ging. Seine Antwort: „Keine Ahnung. Uns wurde nur gesagt, dass es passieren wird. Was wir davon halten würden, danach hat keiner gefragt.”
Stern beteuerte indes immer wieder das Gleiche: Dass der Ball einfach besser sei und bei Tests „außerordentlich gut” abgeschnitten habe. Was aber waren die Parameter der NBA? Wer hat die Tests durchgeführt? Was genau meinte Stern mit „außerordentlich gut”? Diese Fragen blieben unbeantwortet. Kurz vor Saisonbeginn, nachdem schon zahlreiche Spieler das Hightech-Spielgerät kritisiert hatten, beauftragte Cuban Physiker von der University of Texas-Arlington, die testen sollten, inwieweit sich der neue vom alten Ball tatsächlich unterscheidet. Die Ergebnisse bestätigten die Beschwerden der Spieler: Denn der Cross Traxxion erwies sich als „kratziger” und verlor nachweislich jeglichen Grip, sobald er mit Feuchtigkeit in Berührung kam. Auch seine Sprungeigenschaften waren andere. Nicht nur, dass er fünf bis acht Prozent weniger aufsprang, die Wissenschaftler fanden außerdem heraus, dass der Ball mit einer 30 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit unregelmäßig aufsprang.
Das soll nicht heißen, dass Steve Novak über schwere Wahrnehmungsstörungen litt, als er den Ball beim Rookie-Treffen für gut befand. Als die Liga Mitte Dezember ankündigte, zum alten Ball zurückkehren zu wollen, reagierten einige Spieler anders als erwartet. Wie beispielsweise Nash, der meckerte, dass er sich mittlerweile an den neuen Ball gewöhnt habe und sich nicht schon wieder umstellen wolle. So oder so stand aber fest, dass der Cross Traxxion ein unerzwungener Fehler vonseiten der Liga war – und ein mittelschweres PR-Desaster für Spalding.”
Trotzdem war es keine Situation, die man mit ein bisschen Flexibilität nicht auch anders hätte lösen können. Cuban hatte etwa vorgeschlagen, den Ball regelmäßig im Spiel auszutauschen – oder eben, sobald er feucht geworden ist. Aber jeder Versuch, das Problem zu beheben, hätte vorausgesetzt, dass die Liga die Existenz eines Problems zugibt. Und das war schon immer die wohl größte Hürde. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass David Stern bzw. die Liga jemals einen Fehler zugibt”, witzelte Tim Legler von ESPN.
Eine Art Eingeständnis kam dann doch von Stern, wenn auch recht schmallippig. So zitierte ihn die New York Times wie folgt: „Rückblickend hätten wir einen besseren Job machen können. Dafür übernehme ich die Verantwortung. Wenn unsere Spieler damit unzufrieden sind, müssen wir den Grund für ihre Unzufriedenheit herausfinden. Alles liegt auf dem Tisch. Ich bin nicht zufrieden, aber ich bin realistisch. Wir müssen jetzt das Richtige tun. Und das Richtige bedeutet natürlich, dass wir unseren Spielern zuhören.” Leider kam diese Erkenntnis deutlich zu spät. Und leider muss man auch sagen, dass Stern in Sachen autokratisches Auftreten und Alleingänge nicht wirklich was aus dem Ball-Fiasko gelernt hat. Sonst hätte er wohl den schmerzhaften Lockout 2011 zu verhindern gewusst. Oder dem Wechsel von Chris Paul zu den Lakers keinen Riegel vorgeschoben.
Auf jeden Fall hat die tragikkomische Geschichte des neuen Super-Basketballs auch noch eine zweite, wichtige Lesart: der Sieg der Spielergewerkschaft gegen ignorant-arrogantes Auftreten von oben. Auch wenn sich LeBron schon kurz nach dem Einlenken Sterns versöhnlich zeigte: „Er hat verstanden, was wir meinen”, so der King im Interview mit der USA Today. „Damit die Liga als Ganzes erfolgreich sein kann, müssen die Spieler glücklich sein. Das waren sie, nachdem der Cross Traxxion endlich wieder Geschichte war.”