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In der radioaktiven russischen Stadt, von der ihr niemals erfahren solltet

Alle Fotos: bereitgestellt von City 40

Osjorsk wirkt wie ein netter Ort für Besucher. Die Stadt besitzt den klassischen Charme einer europäischen Kleinstadt: wunderschöne Parkanlagen, große öffentliche Plätze, Seen und Tausende Menschen, die in Ruhe und Frieden ihren täglichen Geschäften nachgehen. Und für die meisten Menschen, die dort leben, ist die Stadt auch genau das. Nur dass sie radioaktiv verseucht und von Wachen und einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben ist. Jahrzehntelang war die Stadt auf keiner Karte zu finden.

1947, zu Beginn des Kalten Krieges beschlossen die Sowjets, eine geheime Stadt zu bauen, in der sie ihre nuklearen Waffen entwickeln konnten. Vorbild war die Stadt Richland im US-Bundesstaat Washington, wo die USA die Atombombe “Fat Man” gebaut haben, die zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf die japanische Stadt Nagasaki abgeworfen wurde. Dieser Ort im Südwesten Russlands wurde zunächst nur Tscheljabinsk-40 genannt und ist der Geburtsort der ersten Atombombe der Sowjetunion. Tausende Menschen wurden in die abgelegene Stadt, die von russischen Gefangenen erbaut worden war, umgesiedelt—darunter zahlreiche Wissenschaftler und Techniker, die in der kerntechnischen Anlage Majak arbeiten sollten.

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Die Leute aus Tscheljabinsk-40 bekamen sehr viel mehr als ein durchschnittlicher russischer Staatsbürger: einen gut bezahlten Job, eine Wohnung, eine hervorragende Ausbildung und Sicherheit. Aber all das hatte seinen Preis. Die Bewohner mussten dafür ihre Freiheit und jegliche Verbindung zur Außenwelt aufgeben. Heute—mehr als drei Generationen später—hat sich daran noch immer nicht viel verändert: Die Stadt ist nach wie vor die Heimat von Russland größten nuklearen Reserven und auch genauso verschwiegen wie eh und je.

Die Geschichte der Stadt wird nun in der neuen Dokumentation City 40 erzählt. Die Regisseurin Samira Goetschel bekam erstmals Zugang zu der verbotenen Stadt und hat sich mit den Bewohnern, die sich unter großem persönlichen Risiko zu Wort gemeldet haben, unterhalten. VICE hat Goetschel bei der Weltpremiere von City 40 auf dem HotDoc-Festival, einem internationalen Dokumentarfilmfestival in Toronto, getroffen.

VICE: Kannst du uns verraten, wie du Zugang zu Tscheljabinsk-40 bekommen hast?
Samira Goetschel: Wir haben einige Tage außerhalb der Stadt verbracht. Direkt vor der Stadt liegt ein riesiger Wald. Wir haben uns umgesehen, um herauszufinden, ob wir uns vielleicht irgendwie einfach in die Stadt reinschleichen könnten, aber das war nicht möglich. Genau genommen war es absolut unmöglich. Man muss sich vorstellen, dass es dort diesen doppelten Stacheldrahtzaun gibt, der zudem schwer bewacht wird. Deswegen ist es grundsätzlich nicht möglich reinzukommen. Uns wurde irgendwann klar, dass wir Hilfe von innen bräuchten. Die Leute dort wissen, dass sie mit niemandem von außen sprechen dürfen. Jeder von draußen ist ein Feind. Und dabei geht es nicht nur um Ausländer, sondern auch um die russische Bevölkerung, die außerhalb der Stadt lebt. Diese paranoide Mentalität existiert dort also nach wie vor. Ich wollte sehen, ob die Menschen mit mir sprechen würden. Ich bin einfach mitten reingesprungen. Sie haben mich aufgenommen und haben angefangen, mit mir zu sprechen.

Der Film vergleicht die Menschen, die in Tscheljabinsk-40 leben, mit Tieren in einem Zoo. Man kümmert sich gut um sie, aber sie können nicht raus.
Damit die Leute dort bleiben—sie würden sowieso nicht fliehen—, aber nur um sicherzustellen, dass sie gern dort leben, hat [die Regierung] ein Paradies für sie geschaffen. Sie hatten also immer alles, was sie brauchen und mehr—vor allem im Vergleich zur Außenwelt, wo die Leute absolut nichts hatten. Und sie wurden auf keiner Landkarte erwähnt. Sie waren ein Staat im Staat. Ihre Identitäten wurden ausgelöscht. Außerhalb der Stadt existierten sie nicht mehr. Ich persönlich hatte das Gefühl, ich wäre in eine Folge von Twilight Zone geraten. Es war, als lebten die Leute in einer anderen Dimension.

Für mich war das Ganze so faszinierend, dass man plötzlich kein Filmemacher, Journalist oder irgendwas ist. Man hört sofort auf zu urteilen.

Gibt es Freiheiten, die wir in der westlichen Welt haben, die diese Leute in Tscheljabinsk-40 nicht haben?
Sie besitzen keine dieser Freiheiten. Sie können die Stadt nicht verlassen. In den ersten acht Jahren durften sie die Stadt natürlich nicht verlassen. Die fundamentalste Freiheit, die wir haben, ist das Recht, uns frei zu bewegen. Das sind unveräußerliche Rechte, mit denen wir geboren werden. Diese Menschen haben solche Rechte nicht. Sie können sich noch nicht einmal vorstellen, dass ihnen diese Rechte zustehen sollten. Wenn sie die Stadt verlassen möchten, brauchen sie heutzutage Ausgangsvisa für bestimmte Tage, an denen sie nach draußen wollen, oder bestimmte Stunden, zu denen sie rausgehen, um an einen bestimmten Ort zu gelangen. Aber diese Leute leben in einer Stadt, die sie nicht verlassen können, und sagen, dass ihre Rechte nicht verletzt werden—das ist ihr Universum.

Wenn sie glücklich sind, ist daran dann überhaupt etwas falsch?
Ich habe gehofft, dass ich mit diesem Film genau diese Frage aufwerfen kann. Ich hatte wirklich Probleme damit, die Geschichte richtig zu erzählen, weil ich es ihnen versprochen habe, nachdem sie ihr Leben damit riskiert haben, mir ihre Geschichte zu erzählen. Es ist so, dass die Russen von den Medien und Hollywood und der Regierung und allen anderen immer als Opfer oder als Mafia dargestellt und repräsentiert werden. Man hört sie nur ganz selten für sich selbst sprechen, deswegen dachte ich mir: OK, dann lass sie für sich selbst sprechen. Das Publikum soll seine eigenen Schlüsse ziehen und sich mit den Leuten identifizieren, das heißt über ihre Geschichten. Das Publikum soll ihre Erfahrungen teilen, um ihre Realität zu verstehen.

Im Film ist auch ein wirklich schöner See zu sehen, der aber in Wirklichkeit verseucht ist.
Sie sind der Strahlung ausgesetzt—langfristig und kurzfristig. Am Anfang—und das ist nach wie vor so—haben sie ihren radioaktiven Müll in der Umgebung entsorgt, sei es in Seen, im Boden oder in der Luft. Es gibt einen bestimmten See, der aufgrund des Plutoniums so kontaminiert ist, dass ihn die Anwohner selbst nur “Plutioniumsee” nennen. Dort steht auch extra ein Schild, nur für die Anwohner, auf dem steht: “Betreten verboten”. Wer länger als zwei Stunden an dem See verbringt, wird an den Folgen sterben. Wenn man sich den See hier ansieht, den Ontariosee, dann wären wir mittlerweile schon tot. Die Krebsrate ist enorm hoch und auch die Kinder kommen häufig mit einer Krebserkrankung zur Welt. Die Leute sterben an Krebs, nehmen es aber als Teil des Lebens hin.

Es gibt eine zentrale Person in dem Film: eine allein erziehende Mutter, die als Menschenrechtsanwältin arbeitet und sich für Menschen einsetzt, deren Leben durch die Strahlung in der Stadt negativ beeinflusst wurden. Welches Risiko stellt es für sie dar, als Aktivistin in einer verbotenen Stadt zu leben?
Nadia wurde in der Stadt geboren. Sie ist dort aufgewachsen, hat dort geheiratet und hat dort vier Kinder bekommen. Und am Anfang dachte sie—wie alle anderen auch—, dass es eine großartige Stadt sei, ein Paradies. Aber nach und nach hat sie herausgefunden, was mit der Umwelt und mit ihren Menschenrechten und so weiter gemacht wird, und da hat sie angefangen, Fragen zu stellen. Dabei muss man im Hinterkopf behalten, dass sie keine Fragen stellen dürfen.

Motherboard: Radioaktiver Schlamm und Chemieabfälle: Der wohl giftigste See Deutschlands

Die Behörden, die die Stadt leiten, wussten, was sie tat. Aber erst, als sie die Geschichte tatsächlich nach außen getragen und der Welt präsentiert hat und anfing, sich mit Leuten wie mir zu unterhalten, hat sie Schwierigkeiten bekommen. Sie wurde von den örtlichen Behörden verfolgt. Der FSB, der den KGB ersetzt hat, ist so etwas wie die russische Geheimpolizei. Sie hat ziemlichen Ärger mit ihnen bekommen.

Man spricht nicht darüber und wenn man darüber spricht, gilt das als Verrat. Man verrät seine Stadt, man verrät sein Land und man verrät seine Heimat. Und die Heimat ist alles.

Welches Risiko gehen die anderen Bewohner ein?
Ein enormes, immenses Risiko. So wie Nadia beispielsweise, die man ja auch im Film sieht. Aber zu den Leuten, die tatsächlich noch in der Stadt leben, habe ich den Kontakt verloren. Ich meine, es ist lebensgefährlich, was sie getan haben. Ich kann darüber eigentlich nicht sprechen, aber sie haben ihr Leben riskiert, weil sie ihr Schweigen gebrochen haben. Sie haben Mütterchen Russland betrogen, indem sie mit Außenstehenden gesprochen haben.

Aber sie haben es bereitwillig getan?
Sie haben es bereitwillig getan, weil sie sich selbst im Grunde dachten: “Wir sterben sowieso.” Diese Leute haben verstanden, was dort vor sich geht. “Wir sterben sowieso, also können wir unsere Geschichte genauso gut erzählen und der Außenwelt sagen, was hier mit uns gemacht wird.” 80 Prozent der Menschen, die in der Stadt leben, ist noch nicht einmal klar, was dort passiert.