Sex

Das Netz macht mich für meine offene Beziehung fertig – jetzt antworte ich den Hatern

Seit zwei Monaten schreibe ich für VICE über mein Liebesleben: darüber, wie mein Freund und ich beschlossen haben, unsere Beziehung zu öffnen. Wie es unsere Vorstellung der Liebe umkrempelte. Was passierte, als ich mich in eine Affäre verliebte. Das alles ist subjektives Zeug, das, wenn man es runterbricht, nicht viel mehr aussagt als: Beziehung geht auch anders.

Trotzdem war es Grund genug für einen Haufen Menschen, mich und meine Beziehung mit Hass und Häme zu überschütten. Noch nie in meinem Leben wurde ich so oft “Schlampe” genannt wie in diesen zwei Monaten. Wenn ich recht drüber nachdenke, wurde ich vielleicht noch nie als “Schlampe” bezeichnet. Aber wenn man dieses böse, böse Schimpfwort ganz nüchtern betrachtet, ist eine Schlampe einfach eine promiskuitive Frau. Ihr habt also völlig Recht, liebe Trolle. Ich habe gerne Sex. So what? Das sollte im Jahr 2017 eigentlich kein Problem mehr sein. Aber das sehen einige Menschen anscheinend anders: 

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Natürlich bin ich nicht die einzige Frau, der so etwas passiert. Eine Analyse des Guardian hat ergeben, dass acht von zehn Autoren, die online am meisten gehatet werden, Frauen sind. Das Netz ist manchmal ein gigantischer dunkler Ort, in dem jeder anonym seinen niedrigsten Instinkten nachgehen kann. Und das Traurige ist: Auch wenn die expliziten Hasskommentare sämtlich von Männern verfasst werden, sind es doch Frauen, die mich am meisten kritisieren. Ihre Kommentare sind ausführlicher als die simplen Beschimpfungen der Männer. Sie bezeichnen mich als “narzisstisch”, meine Beziehung als “lieblos” und meinen Seelenzustand als “traurig”. Puh, wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich glatt Mitleid mit mir bekommen! Sollte man da drüber stehen und schweigen? Finde ich nicht. 

Die Autorin | Foto: Marcus Möller

Es gab zwar auch genug Menschen, die mich bei Facebook verteidigten (Danke, Leute!). Aber jetzt würde ich gern selbst Klartext reden: 

Liebe Kommentatorinnen, macht euch um mich keine Gedanken. Es geht mir gut. Und ich wünsche auch euch nur Gutes. Aber darf ich euch um eins bitten? Hört auf, andere Frauen fertig zu machen, nur weil sie etwas anderes leben als Ihr. Nutzt eure Energie lieber dafür, das Leben zu leben, das ihr wollt und das euch zusteht. Wie auch immer das aussehen mag. Es ist genug davon für alle da! 

Die Menschen bei Facebook hatten so viel über mich und meine Beziehung zu sagen, dass ich mit den Screenshots der Kommentare meine Wohnung tapezieren könnte. In der Summe lassen sie sich in fünf Kategorien zusammenfassen:

1. Diagnose: Beziehungsunfähig


Die meisten von uns haben gelernt, dass wir nicht alles haben können. Aber wer sagt uns, dass das wirklich für jeden Einzelnen von uns stimmt? Vielleicht können wir viel mehr haben, als wir annehmen? Jeder von uns ist anders, und jeder von uns hat es verdient, seine Beziehungen so zu führen, wie es ihn glücklich macht. Ich kenne viele sehr tiefe Langzeitbeziehungen, die zwischen mehr Menschen geführt werden als nur zwei. Ich kenne aber auch etliche glückliche “klassische” Ehepaare. Was das über die Beziehungsfähigkeit der Einzelnen aussagt? Gar nichts! Es liegt in unserer Hand, unsere Spielregeln zu schreiben. Und das hat übrigens absolut nichts mit Narzissmus zu tun, sondern bedeutet schlicht: Selbstermächtigung.

2. Man kann sich das auch schön reden


Es ist für viele schwer, sich vorzustellen, dass man im gegenseitigem Einvernehmen beschließen kann, Seitensprünge in Ordnung zu finden. Es ist auch für viele schwer, sich vorzustellen, den eigenen Partner tatsächlich mit jemandem zu teilen. Mein Rat in dieser Sache: nicht von sich auf andere schließen. Ich bin ehrlich in meinen Texten. Ich glorifiziere nichts. Natürlich kann es vorkommen, dass einer leidet. Wie in jeder anderen Beziehung auch. Mal leide ich, mal leidet mein Partner, mal leidet irgendwer von euch da draußen. In der Summe leide ich aber tatsächlich weniger als in der Zeit, in der meine Beziehung noch monogam war. Übrigens könnte ich jederzeit zurück zu nur-du-und-ich. Mein Freund und ich haben die Abmachung, dass wir nicht mehr mit anderen schlafen, sobald sich einer von uns nicht mehr damit wohl fühlt. Nur war es bisher nicht nötig war.

3. So etwas geht nicht lange gut


Mein Freund und ich sind seit fast sieben Jahren zusammen. Die ersten drei davon waren wir monogam, den Rest der Zeit nicht. Es geht also ganz schön lange gut. Und es wird immer besser. Weil Offenheit nicht nur sexuelle Ausschweifung bedeutet, sondern ehrliche Auseinandersetzung. Gerade weil wir uns alles sagen, was wir früher eher verdrängt hätten, sind wir uns so nah wie nie zuvor. Eine tiefe und verbindliche Beziehung beruht nicht allein auf sexueller Treue. Und wie es aussieht, schaut es ohnehin selbst in monogamen Beziehungen mit der Treue nicht besonders rosig aus: Was ist mit all den Familienvätern, die den Straßenstrich frequentieren? Und all den geheimen Affären, die immerhin fast die Hälfte aller Deutschen schon hatte?

Weder Monogamie noch offene Beziehungen sind ein Ticket in den Für-immer-und-ewig-Himmel. Leider gibt es nach wie vor kein allgemeingültiges Rezept für ein langes, glückliches Miteinander. Da liegt es wohl an uns zu experimentieren!

4. Liebe heißt Verzicht


Mal ehrlich, was für eine Liebe soll das sein, in der man permanent sich selbst übergeht? Wer sollte so etwas wirklich für sich und seinen Partner wollen?

Worin wir uns aber einig werden können, ist, dass keine Beziehung ohne Kompromisse und Rücksichtnahme funktionieren kann. Was im Falle der offenen Beziehung bedeutet, dass keiner von uns losrennt und alles vögelt, was ihm vor die Füße kommt. Es gibt Regeln und Grenzen, die uns Sicherheit geben und mit denen wir uns beide wohlfühlen. Was zwangsläufig bedeutet, dass man nicht immer bekommt, was man will (im Falle des geplatzten Wochenendes mit meiner Affäre in den Alpen besonders bedauerlich). Das Gute: Diese Absprachen sind verhandelbar. Unsere Gefühle sind nicht immer gleich und unsere Absprachen sind es auch nicht. Verzichten müssen wir dennoch auf so gut wie nichts. Schließlich wollen wir uns gegenseitig ein gutes Leben gönnen.

5. Diagnose: Mono-Phobie


Nur weil ich über offene Beziehungen schreibe, bedeutet das nicht, dass ich die Monogamie ablehne. Ich weiß nicht mal selbst, ob ich bis in alle Ewigkeit weiter offen lieben werde. Früher hörte ich Punkrock, heute Pop. Keins von beidem ist besser. Alles, was ich will, ist, selbst entscheiden zu können, was ich auflege. Und wenn ich über meine Liebe zu Adele schreibe, will ich mir nicht anhören müssen: Sie hasst Punks.

“Unsere Gesellschaft hängt einem Beziehungsbild hinterher, das in der Realität kaum noch bestehen kann: der monogamen Beziehung auf Lebenszeit.” Das ist einer meiner meistzerhackten Sätze. Dabei konstatiere ich nur. Wie viele erreichen dieses Ideal tatsächlich? Menschen betrügen sich – auch Menschen, die sich lieben. Noch immer trennt sich in Deutschland jedes dritte Ehepaar. Da ist eine riesige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. 

Das Ding ist: Dieser Anspruch, dem wir hinterherrennen, ist oft nicht mal auf unserem eigenen Mist gewachsen, sondern Teil unserer Sozialisierung. Und die hin und wieder in Frage zu stellen, lohnt sich immer.

“Mir hängen diese nervigen Artikel zum Hals raus. Wie oft wollt ihr noch drüber schreiben?”, fragt eine besorgte Leserin. Ganz einfach: so lange, bis die weltanschaulichen Schlammschlachten unter solchen Artikeln versiegt sind und man sie mit einem müden Gähnen abtut. 

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