Foto: Filip Pticek | Flickr | CC BY 2.0
Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins prägte 1976 mithilfe seines Buchs The Selfish Gene (eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Biologie des Egoismus und der Selbstlosigkeit”) den Begriff „Meme”. Im Jahr 2013 hielt Dawkins dann in Cannes eine Einführungsrede und ging dabei noch genauer auf das Wort ein, das—nach Dawkins’ Definition—selbst zum Meme wurde. Während ein „Mem” als selbstreplizierende Einheit kultureller Informationen definiert wird, ist ein Internet-Meme „eine Entlehnung der eigentlichen Idee … von der menschlichen Kreativität bewusst verändert.”
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Das Internet ist wie ein Spielplatz—eine Simulation der echten Welt, wo alles einfacher sowie schneller ist und man seine Wünschen erfüllen kann, ohne dafür viel Verantwortung zeigen oder Konsequenzen für das echte Leben fürchten zu müssen. In Videospielen ist es möglich, in einer Darstellung von künstlicher Kontrolle gewalttätige Fantasien auszuleben. In virtuellen Welten wie Second Life können die User in einem gesetzlosen Raum der Befangenheit und relativer Anonymität mit anderen Avataren auf sozialer, wirtschaftlicher oder sexueller Ebene interagieren. Soziale Netzwerke folgen dem gleichen Prinzip. Dank Diensten wie Instagram oder Twitter hat man die Möglichkeit, eine idealisierte Version seiner selbst in die Welt zu projizieren—bis irgendjemand ohne Zustimmung Bilder zweckentfremdet und dann alles (inklusive der eigenen Identität) frei zugänglich ist.
Manche Leute behaupten, dass uns Emojis, Memes und Selfies klüger machen und zusammenbringen. Aber nachdem ich diverse Personen interviewt hatte, die zu Memes wurden oder für virale Inhalte verantwortlich sind, kam ich zu dem Schluss, dass alles immer zwei Seiten hat. Internet-User, die sich hinter der Anonymität ihres Bildschirms verstecken, können sich wirklich komisch und furchteinflößend verhalten, indem sie deine Bilder oder deine Inhalte als Aufhänger für ihre eigene Wut oder Engstirnigkeit verwenden—völlig unabhängig von jeglicher Vorstellung, die sie von dir als Menschen haben.
Ich stelle euch nun ein paar Leute vor, die sich mit genau dieser Situation auseinandersetzen mussten.
TIM AKA „SHIVA”
Mein Interesse an Memes wurde geweckt, als ich bei Twitter durch Zufall auf ein Foto meines Bekannten Tim stieß. Besagtes Foto wurde von einem Unbekannten zusammen mit der Bildunterschrift „I GET MONEY” hochgeladen.
Als ich Tim fragte, warum fremde Leute sein Bild im Internet posten würden, verwies er mich auf eine Unterseite von gyropedia.com (im Grunde das Wikipedia des My Little Pony-Fans), wo es ausführliche Hintergrundinfos zu seinem Meme gibt.
Bei Gyropedia wird Tim als „Shiva” bezeichnet (alternativ auch „Thumbs Up Kid” oder „The Cunt Destroyer”) und sein Foto als „kurzlebiges, erzwungenes Meme” beschrieben, das sich „am 15. Januar 2012 wie Krebs verbreitete.” Das Bild wurde irgendwann in der Schule gemacht und dann von Tim bei MySpace hochgeladen. Von dort wurde es wahrscheinlich genommen und als Witz bei 4chan gepostet.
Auf Gyropedia heißt es weiter: „Wie bei so vielen anderen erzwungenen Memes gab es auch bei Shiva viele Gegner. Da sie sich jedoch in der Unterzahl befanden, waren deren Meinungen vollkommen egal.”
Ich wollte von Tim wissen, wie sich diese Erfahrung auf seine Meinung zu den Themen Kultur und Internet ausgewirkt und welche Schlüsse er daraus gezogen hätte. Er meinte, dass ihm das Ganze im Grunde nur Angst mache.
„Machmal verstärkt sie meinen Zynismus und meine Furcht, aber manchmal fühlt sich diese Erfahrung komischerweise auch irgendwie befreiend an. Meiner Meinung nach habe ich dadurch gelernt, mehr darauf zu achten, was ich im Internet poste—was wiederum zu einigen Problemen mit meinem Selbstverständnis geführt hat. Ich komme mit dem Meme zwar klar, bin aber auch definitiv nicht glücklich darüber. Irgendwie ist mir das Ganze eigentlich nur peinlich. Es sollte witzig sein, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich es noch witzig finde.”
Tims Rat für all die Menschen, die viral gehen wollen?
„Nichts. Ich hoffe nur, dass dein Meme dich nicht dabei zeigt, wie du dich wie ein ignorantes oder aggressives Arschloch verhältst. Falls doch, dann solltest du dich in irgendeine Ecke verziehen und nie wieder ins Internet gehen.”
NATACHA MIT „INTERIOR SEMIOTICS”
Wenn es um virale Darbietungen geht, dann ist Natacha eine Art Legende.
Ihr Video „Interior Semiotics” wurde 2010 bei 4chan gepostet und hat inzwischen mehr als 2,25 Millionen YouTube-Klicks angesammelt. Bei ihrer Performance reibt sich Natacha mit Nudeln und Soße ein und pinkelt anschließend in die leere Dose. Laut ihr wollte sie damit Kritik am kapitalistischen Konsum üben und eine Hommage an historische Feminismus-Auftritte erschaffen. Obwohl Natachas Performance eigentlich nur die Tradition fortführt, seinen Körper für die Kunst zu nutzen, fristet Performance-Kunst doch eher ein Nischendasein und ist nicht wirklich für ein virales Publikum geeignet. Als das Video dann im Mainstream ankam, folgte direkt überraschend harte Kritik: seitenweise Kommentare und 4chan-Feeds, YouTube-Antwortvideos, böswillige Sprachnachrichten, derbe E-Mails und auch Facebook-Stalker. Als ich Natacha fragte, was sie durch ihren zweifelhaften Ruhm über das Internet gelernt hätte, antwortete sie: „Anonymität ist mächtig.”
In vielen YouTube-Kommentaren unter dem Video zeigt diese Macht der Anonymität ihre hässliche Fratze. Natacha wird dort zum Beispiel als „überprivilegierte Fotze” bezeichnet, Männer beschreiben ausführlich, wie sie durch das Video Frauen unterdrücken wollen, und viele andere User hinterließen pseudointellektuelle Kritiken—zusammen mit sexuellen oder gewalttätigen Drohungen und Anspielungen. In vielen Nachrichten finden komischerweise auch Hitler und die Nazis Erwähnung.
Trotz dieser brutalen Reaktion seitens der Öffentlichkeit ließ Natacha das Video online und erlaubte weiterhin Kommentare. Ihre Erklärung hierfür: „Ich habe nicht versucht, etwas zu verstecken, auf dem Leute herumgehackt haben.” Sie sieht die Performance als visuelle Poesie und steht zu ihrer viralen Erfahrung sowohl positiv als auch negativ. „Ich kann die Reaktionen der Leute nicht kontrollieren.”
Ich habe Natacha gefragt, was sie Leuten raten würde, die gerne viral gehen oder zum Meme werden würden. Sie sagte mir, sie sei nicht sicher, ob man absichtlich viral gehen könne:
„Ich glaube, ein Teil dessen, was ein Meme ausmacht, ist, dass allen Dingen, die Leute anziehen oder wütend machen, eine gewisse Unschuld oder echte Gefühle anhaften. Es gibt einen Unterschied zwischen YouTubern oder Individuen, die sich ein großes Publikum geschaffen haben, und jemandem oder etwas, das einfach so plötzlich bekannt wird. Ich schätze, mein Rat wäre „don’t give a fuck”, denn viral gehen passiert nun mal, wenn man als Hofnarr der Gesellschaft agiert.”
RICK MIT „MILK AND HONEY”
Rick ist nicht versehentlich viral gegangen, sondern er hat für einen Kurs an der New York University zur Vermarktung von Inhalten an ein großes Publikum absichtlich eine virale Story erschaffen. Die Aufgabe war es, ein virales Video zu produzieren, und Rick nutzte Natachas „Interior Semiotics” als direkte Inspiration für seine virale Strategie, denn „es hatte die perfekte Kombination aus Kunst, Schockeffekt und vermeintlicher Privilegiertheit, um ein virales Video zu schaffen, das das Internet leidenschaftlich hassen würde.” Rick war der Meinung, dass ein Video, das die Leute hassten, mehr Aufmerksamkeit bekommen würde als eines, das sie liebten: „Die Leute verbünden sich gerne gegen etwas, das sie hassen, sei es ein Politiker, eine Nachrichtenstory oder ein Kunstprojekt.”
Ricks Video, „Milk and Honey”, war eine kuratierte Performance, die „im Grunde strukturell identisch” mit „Interior Semiotics” war, in der also eine Frau einem Haufen Hipstern eine leidenschaftliche Darbietung liefert, doch anstatt Nudeln zu verwenden, badet sie in einem Planschbecken voll Milch. Um viral zu gehen, kontaktierte Rick Medienunternehmen, von denen er „wusste, dass sie außer sich sein würden”.
Ricks Plan funktionierte. Sein Video ging dank Websites wie Gothamist und BroBible viral, weil diese sich gerne über Hipstermüll lustig machen. Ein Autor von Barstool Sports schrieb einen fiesen, fast schon hasserfüllten Artikel, der sich an Katherine, die Freundin von Rick, die in dem Video mitspielte, richtete und in folgender Zeile gipfelte: „Werft Napalm über ganz Brooklyn ab und dann sind wir sie alle los.”
Trotz des gewaltsamen Backlash bekam Rick eine „Sehr gut” für sein Projekt. Ich fragte ihn, was er bei dieser Arbeit über Kultur gelernt habe. Er erklärte, es habe ihn direkt erfahren lassen, wie „aggressiv hasserfüllt Fremde im Internet sein können”. Er erzählte mir, was der schlimmste Teil des Projekts gewesen sei:
„Dieses Maß an Aggression und die Zahl der Leute, die ihre gewalttätigen Fantasien zum Ausdruck brachten … der rote Faden war, dass die Kommentarschreiber das Video „verbessern” oder sich selbst besser fühlen wollten, indem sie Katherine entweder ertränken oder ficken (oder sie ficken, während sie sie ertränken). Ich wusste, dass sie existieren, aber das war das erste Mal, dass ich mit einer ganzen Armee von beschissenen, sexistischen Männern zu tun hatte.”
JIMMY KIMMEL MIT „WORST TWERK FAIL EVER – GIRL CATCHES ON FIRE”
2013 beschloss der Late-Night-Moderator Jimmy Kimmel, dass er herausfinden wollte, ob seine Autoren ein Video viral gehen lassen könnten, ohne dass seine Show offen daran beteiligt war, also veröffentlichte er ein Video namens „Worst Twerk Fail EVER—Girl Catches on Fire!” auf dem persönlichen YouTube-Account einer fiktiven Person namens „Caitlin Heller”, gespielt von einer Hollywood-Stuntfrau. In dem Video sieht man Caitlin, wie sie hinter ihrer Wohnungstür twerkt, bis jemand die Tür öffnet, damit ihre Twerk-Session unterbricht und sie dazu bringt, in eine Kerze zu fallen.
Nach seiner Veröffentlichung wurde „Twerk Fail” so gut wie augenblicklich zum Hit. Viele Mainstream-Medienkanäle berichteten darüber als reale Nachricht und das Video wurde innerhalb einer Woche mehr als 9 Millionen Mal angesehen.
In einem Telefoninterview erklärte Kimmel, dass sehr wenige Menschen in den Medien sich die Mühe gemacht hätten nachzusehen, ob das Video überhaupt echt ist. Er sagte: „Es gibt ein Wettrennen, wenn es darum geht, Dinge zu veröffentlichen, und es scheint, als würden die Leute heutzutage erst nach der Veröffentlichung überprüfen, ob die Story echt ist, und nicht vorher.”
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Kimmel ist der Meinung, dass die Medien sich nicht wirklich darum scheren, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht. „Die Wahrheit ist, sie können zwei Storys daraus machen: die Story über das Video nach seiner Veröffentlichung und dann die Story darüber, dass das Video sich als Fake herausgestellt hat.”
Ich fragte Kimmel, ob die Reaktionen auf das Video anders ausfielen, nachdem die Leute wussten, dass es sich um einen Streich handelte. Er sagte, die meisten Leute hätten es lustig gefunden, aber es gebe trotzdem viel Negativität, denn „sich grundlos aufregen scheint eines der beliebtesten Internethobbys zu sein”.
Er erklärte, die Leute seien nicht wirklich sie selbst, wenn sie ein Bild oder Video kommentieren, denn „die Anonymität von Internetkommentaren gewährt den Leuten eine Freiheit, die sie sich im echten Leben nicht erlauben. Du stellst ein Bild von dir ins Internet und sofort kommentieren alle deine Kleidung, und das passiert nicht wirklich, wenn du einfach in der Mall rumstehst.”
Ich fragte Jimmy, welchen Rat er aufstrebenden YouTube-Promis geben würde. Er sagte:
„Ich würde niemals jemandem empfehlen, viral zu gehen. Ich meine, es gibt sehr viele negative Seiten. Die Leute finden das spannend, aber gleichzeitig lassen sie damit auch viele Fremde in ihr Leben. Plötzlicher Ruhm kann gefährlich sein und ich würde sagen, es ist nicht für alle gut. Du setzt dich einfach sehr vielen Leuten aus, oder zumindest ihren negativen und hasserfüllten Kommentaren, und die können Auswirkungen auf dich haben. Das Schlimmste überhaupt sind Leute, die vor deinem Haus auftauchen. Eine Folge des Ruhms ist es, dass Leute manchmal bei dir zu Hause auftauchen, oder dass du anderweitige unwillkommene Aufmerksamkeit bekommst.”
LIL B THE BASED GOD
Als VICE Lil B per E-Mail um einen Kommentar zu Memes und viralen Inhalten bat, schrieb er einfach nur: „LIL B HAT DIESE KULTUR ERSCHAFFEN”.