Foto: Homini | Flikr | CC BY 2.0
Papa wollte wieder Geld sparen und hat deshalb die billige Fichte gekauft, deren Nadeln dir die ganze Hand zerstochen haben. Die letzten Geschenke hast du noch panisch eine halbe Stunde vor Ladenschluss gekauft und in Servietten und Packband gewickelt, weil sonst nichts zur Hand war. Außerdem hast du dich verbrannt, als du versucht hast, dein Hemd dieses eine Mal im Jahr zu bügeln.
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Der Stress ist damit aber nicht vorbei—er steht dir erst noch bevor: Gespräche. Viele, lange Gespräche mit der Verwandtschaft. Damit du dich innerlich bereits mit den anstehenden Qualen auseinandersetzen kannst, haben wir eine Übersicht der Unterhaltungen erstellt, denen du an Weihnachten nicht aus dem Weg gehen können wirst.
Salz in die Wunden
Mama: “Bist du eigentlich noch mit …
Du: “Nein.”
Mama: “… der Lisa zusammen?”
Du: “Nein!”
Mama: “Schade, die fand ich ganz nett. Geht es ihr denn gut?”
Du: “Ich denke schon. Magst du vielleicht wissen, wie es mir geht?”
Mama: “Gib mir mal ihre Nummer? Ich will ihr noch schöne Weihnachten wünschen.”
Du: “Ähm, das ist irgendwie komisch. Wir haben doch gerade erst …”
Mama: “Hier, ist die noch aktuell?”
Du: “Ja.”
Mütter haben immer auch einen Nebenjob als Paartherapeutin. Bei ihnen muss man keine Termine vereinbaren und braucht auch gar nicht um Rat fragen, um doch welchen zu bekommen. Das Fest der Liebe nehmen sie gerne beim Wort, denn nur ein Mensch in einer Beziehung ist ein glücklicher Mensch oder überhaupt ein Mensch. Sehen die Großeltern ganz genauso.
“Und was macht man dann damit?”
Ältere, aus einem Dorf angereiste Person, Verwandtschaftsgrad unklar, alle nennen ihn nur Onkel: “Du studierst immer noch?
Du: “Ja, ich bin jetzt im fünften Semester.”
Onkel: “Malerei?”
Du: “Design.”
Onkel: “Aha, das kann man also studieren. Und damit bekommt man eine Stelle?”
Du: “Man arbeitet da eher als Freelancer.”
Onkel: “Als was?”
Du: “Selbständiger. So ohne festen Arbeitsvertrag. Da hat man viel mehr Zeit.”
Onkel: “Und viel weniger Geld!”
Opa: “Also wir haben damals schon während des Studiums gearbeitet. Und dann mussten wir unseren Eltern auch noch im Haus helfen.”
Mama: “Unsere Kinder lassen sich ja nie blicken.”
Weihnachten ist eine Zeitmaschine. Die Erzählungen der Verwandtschaft tunken einen in längst vergangene Zeiten. Und Dinge, die einem total selbstverständlich schienen—Skype, Co-Working-Spaces und Airb’n’B—, kommen der Sippschaft vor wie Science-Fiction. Nach drei Stunden am Esstisch fängt man sogar an, seinen Lebensentwurf anzuzweifeln. Ist es vielleicht doch “prekär” und nicht “urban”, nach seinem Masterabschluss mit zwei Auslandsaufenthalten sein Freelancertum mit einem Nebenjob im Café aufbessern zu müssen? Hätte man nicht tatsächlich lieber ein duales Studium kombiniert mit einer Ausbildung bei der Kreissparkasse machen sollen? War früher nicht tatsächlich alles besser? Und diese Gedanken kann man nicht einmal mit der bewährten Methode vertreiben: Smartphone rausholen und in das schwarze Aufmerksamkeitsloch aus Facebook, Tinder und Candycrush fallen. Das rausgeholte Handy wird nämlich sofort mit einem “Die Jugend von heute …” kommentiert.
Angst
Oma: “Der Margot haben sie neulich die Handtasche geklaut—am hellichten Tag. Das waren Türken, hat sie genau gesehen.”
Opa: “Schlimm, diese Ausländer. Wirklich!”
Oma: “Die lungern ja auch immer am Bahnhof bei uns rum jetzt. Da kriegt man Angst.”
Opa: “Früher hätte es das nicht gegeben.”
Oma: “Bei Hannelore und Emil wurde neulich eingebrochen. Und im Haus nebenan war letzte Woche auch die Polizei. Bestimmt diese jungen Leute im zweiten Stock. Die sehen schon aus, als wenn die mit so Drogen zu tun haben.”
Opa. “Leben von Sozialhilfe, haben aber allesamt diese teuren Smartphones!”
Großeltern haben sie oft und mit zunehmendem Alter immer mehr: Angst. Kinder fürchten sich vor der Dunkelheit und Monstern unterm Bett. Rentner aber haben vor allem und jedem Angst, vor Veränderung, anderen Hautfarben, exotischem Essen, den Griechen, die uns das Geld aus der Tasche ziehen, und—was eine Katastrophe!—nicht rechtzeitig zu Rote Rosen wieder zu Hause zu sein. Deshalb ist man immer auch Mediator zwischen den Welten: der furchteinflößenden, komplizierten, die Oma und Opa nicht mehr so recht verstehen. Und der aufregenden, vielseitigen, die für uns Alltag ist.
Das sparsame Gespräch
Ich: “Und wie geht es dir?”
Papa: “Gut.”
Ich: “Was macht die Arbeit?”
Papa: “Genauso wie immer eigentlich.”
Mama: “Erzähl ihm von dem neuen Kollegen.”
Papa: “Achso. Ich habe jetzt einen neuen Kollegen.”
Manche Menschen verfolgen Gespräche oft nur mit den Augen. Weniger Emotionen, weniger Worte. Die Informationen muss man ihnen aus der Nase ziehen. Aber spätestens nach dem dritten Glühwein sitzt die Zunge lockerer, dann erfährt man, dass Martin, der neue Kollege, wirklich sehr pünktlich ist, aber jede halbe Stunde rauchen geht und deshalb immer leicht nach Zigarette riecht. Und weitere zwei Glühwein später bricht der Damm und wir bekommen alle Einzelheiten aus Martins Leben, ohne je danach gefragt zu haben: Martin geht regelmäßig zum Yoga—und steht auf Anke aus der Personalabteilung.
Enkelkinder
Mama: “Wann bekomme ich denn endlich Enkelkinder?”
Du: “Mama!”
Mama: “Also, als ich in deinem Alter war …”
Du (geschicktes Ablenkungsmanöver): “Stand die Mauer noch!”
Mama: “… bist du schon in die Krippe gegangen.”
Oma: “Da warst du noch richtig niedlich.”
Mama: “Alte Eltern sollen ja nicht gut sein für Kinder, habe ich neulich gelesen.”
Mütter fragen so etwas ja niemals unter vier Augen. Nein, sie warten damit auf die große Bühne, bis die Schar von Verwandten sich um den Tisch mit der Weihnachtsgans gezwängt hat. Wenn die Gespräche dann an Fahrt verloren haben, das Besteck klappert und Münder schmatzen, werfen sie die Frage so beiläufig in die Runde wie Opa Herbert die Geschichte seiner Hüft-OP. Den Kloß, der eben noch im Mund lag, schluckt man fast ungekaut runter, das Gesicht läuft rot an. Man schaut seine Mutter mit zugekniffenen Augen feindselig an. Sofern man selbst oder die Freundin nicht zufällig wirklich schwanger ist, gibt es auf die Frage einfach keine gute Antwort.
Peinliche Geschichten
Tante, bei der die Sippschaft sich traditionell jedes Jahr versammelt: “Wer will noch Glühwein?”
Du: “Ich!”
Tante: “Nicht, dass du dann wieder alles vollbrichst, wie letztes Weihnachten.”
Onkel: “Die Hauswand zum Beispiel.”
Du: “Das war vor acht Jahren. Einmal!”
Tante: “Eine richtige Sauerei war das. Ich arbeite im Garten und denke schon: ‘Es riecht aber seltsam.’ Dann schaue ich hoch und sehe eine Kotzespur vom Fenster die ganze Fassade herab. Da hat der Suff deutliche Spuren hinterlassen.”
Papa: “Eine Stunde lang habe ich geschrubbt, bis das Rot von der Wand ab war.”
Peinliche Geschichten über die jüngste Generation am Weihnachtstisch gehen immer. Für viele Verwandten ist es einer der Hauptgründe, überhaupt Kinder zu haben: lustige Geschichten für Jahrzehnte, für Geburtstage, Familientreffen, Hochzeiten, Weihnachten. Weil die Älteren am Tisch ihre wilde Zeit meist schon hinter sich haben, bleibt einem leider nur wenig, mit dem man sich wehren kann, außer mit den Augen zu rollen und deutlich hörbar zu schnaufen.
Eskalation
Mama: “Deine Jeans hat ein Loch am Knie.”
Du: “Das muss so.”
Mama: “Findest du das schön?”
Du: “Ja.”
Mama: “Na, ich weiß ja nicht. Hättest du nicht was Schickes anziehen können an Weihnachten?”
Du: “Dein Kleid sieht ja auch nicht gerade danach aus, als würdest du in die Oper gehen.”
Mama: “Sei nicht so frech, ich bin deine Mutter!”
Du: “Was soll das denn bedeuten?”
Mama: “Schrei mich nicht an!”
Du: “Tu ich doch gar nicht! Du schreist mich an.”
Mama: “Ich bin deine Mutter!”
Von wegen “O du fröhliche, o du selige”. An Weihnachten ist die Luft dick, und das nicht nur wegen des Bratendufts und der Räucherkerzen. Familienzusammenkünfte bergen in etwa so viel Explosionsgefahr wie ein Haufen Dynamit, das im Heizraum eines Kohlekraftwerks aufbewahrt wird. Es fängt mit einem Wort an, mit einem Nebensatz, der für Außenstehende harmlos wirkt. Doch nach jahrzehntelanger Reibung reicht ein kleiner Funke und die Bude brennt lichterloh.