Das wichtigste Schweizer Schul-Singbuch im Rassismus- und Sexismus-Check

Dornröschen, die schlafende, wehrlose Prinzessin, die vom Prinzen gerettet werden muss. Ihre einzige Erlösung ein Kuss wahrer Liebe. Doch möchte das Dornröschen eigentlich? Und findet sie den Prinzen überhaupt sympathisch oder anziehend? Er musste ja nicht einmal seinen Charme und Intellekt spielen lassen, um einen Kuss zu “bekommen”. Nein, er musste sich nur durch Dornen durchkämpfen. Also gewinnt der Stärkste und bekommt die Braut oder wie? Doch was ist wenn Dornröschen mehr auf Intelligenz als auf Muskeln steht? Vielleicht möchte sie doch lieber eine Zukunft mit Goethe anstatt mit Kollegah? Diese Fragen stellen nicht nur wir uns im Kontext des Märchenklassikers Dornröschen und des #MeToo-Diskurs.

Sarah Hall, eine Mutter aus Grossbritannien, beschwerte sich vergangene Woche genau darüber öffentlich auf Twitter, als ihr sechsjähriger Sohn mit einem Dornröschen-Bilderbuch von der Schule nachhause kam:

Videos by VICE

https://twitter.com/Hallmeister/status/932202209068179456/photo/1?ref_src=twsrc%5Etfw&ref_url=http%3A%2F%2F

Mit ihrem Tweet sorgte Hall für Schlagzeilen und Diskussionen rund um den Globus. Auch grosse deutschsprachige Newsportale berichten über den Tweet. Aus diesem Anlass wandte 20 Minuten sich an Elisabeth Müller, Diplompädagogin und Lehrbeauftragte an der PH Zug. Laut Müller sind Märchen nicht für Kinder geeignet, weil sie patriarchale Geschlechterrollen transportieren, mit denen Kinder sich dann zu identifizieren versuchen. Solche patriarchalische Strukturen seien in den heutigen Schweizer Unterrichtsmaterialien aber kaum noch vorhanden, führt sie an.

Ist unser Schulsystem wirklich so fortschrittlich? Das wollen wir genauer wissen und untersuchen etwas fast so Unschuldiges wie Märchen: den Musikunterricht. Wir haben das Unterstufen-Singbuch Sing mit! von der interkantonalen Lehrmittelzentrale bestellt und die Seiten nach sexistischen und rassistischen Inhalten durchblättert – mal schauen, ob Müller Recht hat.

Erstaunlicherweise haben wir im Buch Sing mit! wirklich nur eine Stelle gefunden, an der veraltete Geschlechterrollen vermittelt werden. Dafür gibt es im Buch mehrere Lieder mit unterschwelligen und veralteten Kultur- und Nationendarstellungen, rassistischen Andeutungen und Betitelungen. Ausserdem werden afrikanische und asiatische Menschen in den Abbildungen/Illustrationen fast immer stereotypisch dargestellt.

Sexismus

“Im Märzen der Bauer”
“Die Bäu’rin, die Mägde, sie dürfen nicht ruh’n
Sie haben im Haus und im Garten zu tun
Sie graben und rechen und singen ein Lied
und freu’n sich, wenn alles schön grünet und blüht.”

Im Lied “Im Märzen der Bauer” finden wir die veralteten Geschlechterrollen, die einige konservative Denkern heute immer noch wünschen. Im Lied arbeiten die Bauern und Knechte auf dem Feld und die Bäuerinnen und Mägde im Haus und dem dazugehörigen Garten. In Wirklichkeit schuften Bäuerinnen jedoch seit Jahrtausenden auf den Feldern und schmeissen nebenbei meist noch den Haushalt.

Rassismus

“Mini Farb und dini”
“Schwiizerdütsch cha nöd jede Mensch.
Denk dra, wenn de Francesco kennsch!”

Was eigentlich ziemlich niedlich beginnt, nimmt in der letzten Strophe doch noch eine bedenkliche Wendung. Dabei bezieht sich das Lied auf die Kinder der italienischen Hilfsarbeiter-Generation, welche zwischen den 70ern und 90ern in der Schweiz Arbeit fand und sozial eher ausgestossen war. In “Mini Farb und dini” wird darum gebeten, dass Kinder aus der Schweiz Rücksicht auf die italienischstämmigen Kinder nehmen – denn die können ja kein Deutsch.

“Kinder, Kinder”
“Ob du gelb bist oder weiss, wir sind Kinder einer Welt!
Ob du rot bist oder schwarz, wir sind Kinder dieser Welt!”

Das Lied “Kinder, Kinder” hat ebenfalls einen schönen Grundgedanken, doch die Ausführung und Bezeichnung der verschiedenen Kinder ist etwas schiefgelaufen.


“Pause”
“Wer macht en ‘Schwarze Maa’?”

Im Lied “Pause” wird an einer Textstelle das Spiel “Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann” genannt. Obwohl das Spiel diverse Ursprünge haben könnte – etwa die schwarze Pest oder die Kinderschreckfigur des schwarzen Mannes –, kann es doch auch rassistisch verstanden werden. Heute assoziiert ein Kind mit einem schwarzen Mann wohl eher einen schwarzen Menschen als etwa den schwarzen Tod. Da dieses Spiel schwarze Menschen als gefährlich darstellt, sollte es auf dem Pausenplatz nicht mehr vorkommen.

“Der Trommelkönig von Kalimbo”
“Der Trommelkönig von Kalimbo rief den Regen an,
er trommelte ganz tropfenfein, plötzlich fing es an.”

Die Karikatur zum Lied “Der Trommelkönig von Kalimbo” bedient sich klar an veralteten stereotypischen Bildern von Afrikanern. Dazu wird der “Trommelkönig” ein wenig ins lächerliche gezogen, indem er jedes Problem, wie beispielsweise Krankheiten, nur durchs trommeln lösen kann.

“Kennet dir das Gschichtli scho”
“Kennet dir das Gschichtli scho
vo dem armen Eskimo,
wo in Grönland einisch so
truurig isch um ds Läbe cho.”

Mani Matter, der eigentlich alles andere als rechts ist, hat einen Text, den er wohl heute noch einmal überdenken würde. Es handelt sich um das Lied “Kennet dir das Gschichtli scho”, worin es um einen armen Eskimo geht. Die korrekte Bezeichnung für “Eskimo” ist heute Inuit. Die Inuit wollen nicht mehr Eskimo genannt werden, weil es eine abfällige Fremdbezeichnung ist.

“Ma ke tu me”
“Make tume tume papa.
Make tume tume pa.”

Eigentlich ist es ja ganz nett, ein überliefertes Lied aus einem fernen Land Kindern beizubringen. Das Lied “Ma ke tu me” stammt aus Mosambik. Doch wieso gibt es zu dem Lied keine Übersetzung? Warum muss die Abildung so stereotypische Merkmale wie überzeichnete Körperteile und Klischees, wie grosse Lippen und farbige Gewänder zeichnen? Und wieso musste für das Lied extra ein Tanz erfunden werden?

Der Titel “Dessert-Rap” klingt schon ziemlich nach einer bescheuerten Idee, aber auch ziemlich harmlos. Trotzdem kommt in einer Strophe das veraltete Wort “Mohrenkopf” vor. Passend fand erst gerade in der Schweiz ein Diskurs zwischen der SVP und dem “Komitee gegen rassistische Süssigkeiten” statt, ob dieser Begriff weiterhin benutzt werden darf.

Das Positive

Neben diesen problematischen Inhalten gab es aber auch Momente während des Durchblätterns, bei denen wir positiv überrascht waren.

“Frère Jacques” (auf Portugiesisch)
“Irmao Jaime, dormes tu?
Toca a compainha!”

“Frère Jacques” etwa wurde nicht nur in den vier Landessprachen abgedruckt, sondern auch in vielen anderen Sprachen. Auch “Zum Geburtstag viel Glück” ist in diverse Sprachen übersetzt, damit jedes Kind fast jedem Gspänli in seiner Sprache zum Geburtstag gratulieren kann.

“Im Land der Blaukarierten”
“Im Land der Buntgemischten sind alle bunt gemischt.
Und wenn ein Gelbgetupfter das bunte Land auffrischt,
dann rufen Buntgemischte: ‘Willkommen hier im Land!
Hier kannst du mit uns leben, wir reichen dir die Hand!’”

Am meisten überraschte uns das Lied “Im Land der Blaukarierten”. Das Lied hört sich auf den ersten Moment ziemlich harmlos an, lässt sich aber als gesellschaftskritisch interpretieren. Es handelt davon, dass die Einwohner der Länder verschieden sind und Leute aus anderen Ländern verstossen – zum Beispiel vertreiben die Blaukarierten die Rotgefleckten. Doch es gibt eine Ausnahme: Das Land der Buntgemischten, dort werden alle akzeptiert, egal woher sie kommen und wie sie aussehen.

Wir haben den Hausgeber, den Lehrmittelverlag St. Gallen, kontaktiert und um einen Kommentar zu unserer Untersuchung gebeten. Folgendes schreibt uns die Geschäftsführerin Rabea Huber per Mail: “Lehrmittel nehmen in gesellschaftlichen Fragestellungen eine Vorbildrolle ein, weshalb mit der Thematik in der Entwicklung sehr sensibel umgegangen wird und durch verschiedene Instanzen geprüft wird. Grosser Wert wird beispielsweise auf die Diversität gelegt, also dass Mädchen und Jungen abgebildet werden. Ältere Lehrmittel werden regelmässig bei Neuauflagen überprüft, ob sie diesen Anforderungen entsprechen und bei Bedarf werden hier Änderungen vorgenommen. So wird beispielsweise bei der Auflage 2018 in unserem Mittelstufe-Singbuch Sing Ais der Text eines Liedes angepasst, weil er so heute nicht mehr vertretbar ist.”



Folge Noisey Schweiz auf Facebook, Instagram & Spotify