Ich habe meine Meinung geändert. Ich mache das jetzt einfach so, das haben vor mir andere bedeutende Persönlichkeiten auch schon gemacht: Günter Grass, Karl-Theodor zu Guttenberg oder Mario Götze. Also sage ich es jetzt in aller Deutlichkeit: An den schlechten Arbeitsbedingungen der Assistenzärzte an deutschen Kliniken sind nicht die Chefärzte, sondern die Assistenten selbst schuld! Es war dumm von mir, ehemals die Klinikdirektoren für ihren Mangel an Empathie und den oppressiven Führungsstil zu attackieren. Wie kommt es nun zu diesem plötzlichen Sinneswandel?
„So ist das in der Medizin halt”
Dieser Satz elektrisiert mich besonders. Richtig, die Unterdrückung im Arztberuf ist quasi allgegenwärtig, warum also dagegen auflehnen? Schließlich hat David Goliath nur besiegt, weil dieser beim Angriff stolperte, hart auf die Fresse flog und daraufhin bewusstlos wurde. Ach nee, so war es gar nicht. David hat seinen Mut zusammengenommen und für seine Überzeugung gekämpft, diese wiederum war es, die ihm den Sieg über den schier unüberwindbaren Gegner bescherte. Ein Bruchteil dieser Courage würde uns jungen Ärzten gut zu Gesicht stehen. Fehlanzeige. Stattdessen jagen wir wehleidig von Zimmer zu Zimmer, OP-Saal zu OP-Saal und wieder zurück, beklagen unser Leid unentwegt an jeder Ecke des Krankenhauses, nur dort nicht, wo es hingehört.
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Arbeitszeitgesetz und „Opt-out”
In Deutschland gibt es—wie in den meisten demokratischen Ländern—ein Arbeitszeitgesetz. Der Sinn dessen ist es, den Arbeitnehmer vor Überarbeitung und etwaigen Gefahren infolge Überlastung, die bei Ärzten bekanntlich besonders gravierende Auswirkungen haben können, zu schützen. Nun herrscht in der Ärztewelt ein ungeschriebenes Gesetz, welches besagt, dass ein echter Arzt mindestens 60 Stunden pro Woche streiten muss. Deshalb unterschreibt quasi jeder Deutsche Assistenzarzt das sogenannte „Opt-out“: Es ist eine Einwilligung, aus der gesetzlichen Höchstarbeitszeit auszusteigen! Unglaublich, aber wahr: Das Ganze scheint sogar legal zu sein, sonst würde es nicht schriftlich festgehalten werden. Interessant also, dass der Staat es erlaubt, seine Gesetze zu brechen. Einfach so. Woran könnte das liegen?
„In Deutschland passiert so etwas nicht, da hat alles seine Ordnung.”
Man schaue sich mal die Entwicklung in den deutschen Krankenhäusern an. Mittlerweile sind fast alle privatisiert. Der Staat hat wohl gemerkt, dass das ein äußerst unprofitables Geschäft ist und man mit ganz sauberen Mitteln nicht auf schwarze Zahlen kommt—und das trotz der eigentlich rechtswidrigen Arbeitsbedingungen für die Ärzte. Wenn man nun auch noch anfangen würde, Arbeitszeitgesetzkonform zu beschäftigen, wo würden das denn hinführen? Richtig: Man bräuchte deutlich mehr Ärzte und die sind natürlich teuer. Also wird das Gesetz fröhlich unter den Augen des Staates gebrochen, indem man höflich sagt: „Sorry, ich steige aus.” Ist doch eigentlich eine schöne Sache. Vielleicht könnten wir derartige Verfahren ausweiten. Auf den Straßenverkehr zum Beispiel: Jeder Autofahrer unterschreibt eine Entbindung von der Pflicht, die Geschwindigkeitsvorgaben einzuhalten. Oder wie wäre es mit einer Befreiung von der Steuerpflicht?
Na, jedenfalls wird auch in der Bananenrepublik Deutschland eben nur dann reagiert, wenn die Kacke zu Dampfen beginnt. Auf dem Bau sind Zoll-Razzien an der Tagesordnung, die Krankenhäuser werden aber in Ruhe gelassen, weil man keine schlafenden Hunde wecken will. Der Bundesregierung ist sehr wohl bewusst, dass am Ende eine Krankenkassenbeitragserhöhung unumgänglich wäre, wenn man den Ärzten eine 40 Stunden Woche zugestehen würde. Das wiederum würde sich nicht besonders gut auf die Stimmung im Land und somit das eigene Wahlergebnis auswirken. Die Regierungen werden aber an den existierenden Verhältnissen nichts ändern müssen, solange das bestehende System brav weiter funktioniert. Zu glauben, es käme zu einem Aufbäumen der Assistenzärzte, ist nämlich ungefähr so naiv, wie zu glauben, der Flughafen Berlin-Brandenburg wird bis 2046 fertig.
Bezeichnend hierfür ist die Reaktion meiner Kollegen, als ich vorgeschlagen hatte, wir könnten im Kollektiv kündigen, sollte man unserer Forderung nach Einhaltung des Deutschen Arbeitszeitgesetzes nicht nachkommen. Traurige Stille, ausweichende Blicke. Sie alle wünschten sich ein Schneckenhaus.
Kaputte Vorbilder
Egal wie sehr ein Team zusammenhält, es wird nie gelingen, einen solchen kollektiven Widerstand zu etablieren. Einer der Gründe hierfür ist besonders bizarrer Natur. Es gibt da die ambitionierten, karrierefixierten Assistenten, die zu jenen, ob ihrer fachlichen Fähigkeiten gepriesenen, jedoch auf menschlicher Ebene völlig versagenden, Führungspersonen hinaufblicken. Viel schlimmer noch: Sie bringen ihnen Bewunderung entgegen für Dinge, die sie gut beherrschen, ungeachtet der Tatsache, dass diese zumeist eine Folge langjähriger Erfahrung und nicht übermenschlicher Kräfte sind. Ich sehe die Bewunderung in ihren Augen und möchte weinen. Es ist diese Bewunderung, die manch kleines, geschlagenes Kind seinen Eltern entgegenbringt, weil die Abhängigkeit es dazu zwingt. Lebhaft erinnere ich mich an den Kommentar einer Kollegin über einen Kinderarzt, der als arrogant und im Umgang mit Assistenten als Arschloch verrufen war: „Aber, weißt du, fachlich ist er so gut, da ist es mir echt egal, wenn er mich scheiße behandelt. Hauptsache, er kann den Kindern helfen.” Ich habe dann gefragt, ob sie einen Teil der Facharztausbildung bei Mutter Theresa absolviert hatte.
Und nun?
Scheinbar ist es zu viel verlangt, von Menschen zu erwarten, fachlich gut zu sein (was früher oder später die Erfahrung praktisch automatisch mit sich bringt) UND normalen menschlichen Umgang zu pflegen. Wenn wir aus der vielzitierten französischen Revolution etwas gelernt haben sollten, dann ist es die Tatsache, dass Veränderungen nicht von alleine kommen. Die Waffen von heute—die sozialen Medien—sind sogar schärfer und wirksamer als eine Guillotine. Die Frage ist wohl nur, ob und wann die jungen Ärzte erwachen wollen, denn eines ist klar: Weder der Staat noch die Klinikdirektoren sind unsere Freunde. Unter Berücksichtigung des bestehenden Ärztemangels wäre es ein Einfaches, den Spieß der Abhängigkeit umzudrehen und zu demonstrieren, dass es ohne uns nicht geht. Unvorstellbar, dass plötzlich ein Oberarzt eine Station schmeißt: Alle Patienten visitiert, Austrittspapiere schreibt, Verordnungen für die Pflege macht, Wunden spült.
Und bitte verschont mich mit den ewigen „Es ist doch schon besser geworden” und „Früher war es doch viel schlimmer”. Ja die Arbeitsumstände sind besser geworden und früher war es viel schlimmer und dennoch ist die Schlacht noch längst nicht gewonnen, maximal ist die erste Welle gebrochen.