Amsterdams berühmter Rotlichtbezirk De Wallen könnte bald verschwinden. Wenn gerade keine Pandemie ist, tummeln sich dort Touristenhorden zwischen Coffeeshops und Bordellen. Hier, mitten im Stadtzentrum, stehen allerdings auch einige der teuersten Häuser Amsterdams und die Anwohnenden sind den Massentourismus leid. Auch deswegen will die grüne Bürgermeisterin Femke Halsema die Sexarbeitenden von De Wallen in ein großes Gebäude außerhalb des Stadtzentrums umsiedeln. Der genaue Ort steht noch nicht fest. Halsema sagt, der Bau werde noch drei bis zehn Jahre in Anspruch nehmen. Da allerdings die Mehrheit des Stadtrats das Projekt unterstützt, wird bereits an Plänen gearbeitet.
Halsema, Amsterdams erste Bürgermeisterin, sagt, die Maßnahme sei nötig, um die Sicherheit der Sexarbeitenden zu gewährleisten. In De Wallen seien sie aggressiven Touristen ausgesetzt, illegaler Sexarbeit und Menschenhandel. Wenn sie alle im selben Gebäude arbeiten würden, wäre es leichter, sie zu unterstützen.
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Sexarbeitenden-Verbände sehen das allerdings anders. Quirine Lengkeek, Vorsitzende von SekswerkExpertise – einem Netzwerk von Sexarbeitenden, Unterstützern und Forschenden –, bereitet vor allem Sorge, wie ähnliche Vorstöße in anderen Städten gehandhabt wurden. “Das ist das, was in Het Nieuwe Zandpad in Utrecht passiert ist”, sagt sie. “Vor Jahren haben sie die Bordelle geschlossen, aber aus den Plänen, die Sexarbeitenden umzusiedeln, ist nie etwas geworden.” Als Folge arbeiten viele Menschen in der Stadt illegal an Orten, die nicht sicher sind.
Seit 2000 ist Sexarbeit in den Niederlanden legal. Sexarbeitende sind bei der Handelskammer registriert, verfügen über eine Lizenz und zahlen Steuern. Erst nach der Registrierung kann man ein Zimmer in einem Bordell mieten, was ziemlich teuer sein kann. Bordellbetreibende benötigen ebenfalls eine Lizenz. Wenn die Stadt vermutet, dass ein Sexarbeit-Etablissement in kriminelle Aktivitäten verstrickt ist, kann sie es schließen. Davon wird auch häufig Gebrauch gemacht.
Sexarbeiterin Yvette Luhrs, die auch für die linke Partei BIJ1 bei den anstehenden Parlamentswahlen antritt, bezweifelt, dass bei den Plänen des Stadtrats für De Wallen die Interessen der Sexarbeitenden im Mittelpunkt stehen. Ohne einen Ort, den sie offiziell mieten könnten, seien einige vielleicht dazu gezwungen, illegal ohne Lizenz zu arbeiten – und sich damit Risiken auszusetzen. “Einige Kunden missbrauchen ihre Macht, die sie über illegale Sexarbeitende haben”, sagt Luhrs. “Sie wissen, dass die nicht zur Polizei gehen können.” Ihrer Meinung nach sei die Sexarbeit in den Fensterbordellen, für die Amsterdam berühmt ist, sicherer. “Aber die verschwinden überall.”
Laut einer Studie, die 2018 von der niederländischen Sexarbeitenden-Gewerkschaft PROUD und dem AIDS-Präventionszentrum SoaAids veröffentlicht wurde, sind Sexarbeitende, die in den Fensterbordellen arbeiten, weniger gefährdet, Opfer von Gewalt zu werden, als andere in ihrer Branche. b80ec441/” target=”_blank” rel=”noopener”>De Volkskrant berichtete, dass Amsterdams geplantes Sexarbeitszentrum etwa 100 Arbeitsräume bereitstellen werde. Das ist etwa ein Drittel der geschätzten 290 Zimmer, die es momentan in De Wallen gibt. Auch ist unklar, wie hoch die Miete für die Sexarbeitenden ausfällt – oder wie das Projekt überhaupt finanziert wird. Die Marktforschungsagentur SITE hatte nämlich darauf hingewiesen, dass die Stadt für den Bau wahrscheinlich Unterstützung von Privatinvestoren benötigen werde. “Banken werden kein Interesse haben, wenn die Rentabilität ihrer Investition nicht garantiert ist”, sagt Luhrs. “In Wahrheit verkauft Bürgermeisterin Halsema die komplette Amsterdamer Sexindustrie an eine Handvoll Privatinvestoren.”
Eine Umfrage der Sexarbeitenden-Gewerkschaft Red Light United von 2019 ergab, dass 90 Prozent der Sexarbeitenden in De Wallen bleiben wollen. Sie haben Angst, Kundschaft zu verlieren, wenn sie wegziehen. Die zentrale Lage bringt ihnen internationale Kunden. Lengkeek von SekswerkExpertise sagt, dass zwar einige Sexarbeitende durchaus ruhigere Bordelle mit einheimischer Kundschaft bevorzugen würden, aber “die Stadtverwaltung hat nicht das Recht, diese Entscheidung für sie zu treffen”.
“Ich bin nicht per se gegen ein Erotikzentrum”, sagt Mary*, die seit 2016 in De Wallen arbeitet. “Das Problem ist, dass es De Wallen ersetzen und nicht ergänzen wird.” Ihr gefalle die Arbeit in dem Bezirk, weil die Menschenmengen den Sexarbeitenden eine gewisse Anonymität gewährleisten und sie sich nach der Arbeit sicher fühlen. “Du kannst um 5 Uhr nach Hause gehen, ohne aufzufallen. Du reihst dich einfach in die Massen ein”, sagt sie.
Während ihrer Schicht ist die erhöhte Sichtbarkeit durch die Fenster allerdings ein großes Plus. “Die Polizei und Sozialarbeiterinnen schauen regelmäßig vorbei”, sagt Mary. “Und die Sexarbeiterinnen können sich gegenseitig durch die Fenster grüßen.” Die Fenster erlauben es auch, mit den Kunden zu reden, bevor sie reinkommen. Kolleginnen und Kollegen können besser aufeinander aufzupassen. “Wir teilen Informationen mit der ganzen Nachbarschaft”, sagt Mary. “Ich habe Angst, dass dieser Gemeinschaftssinn in einer neuen Umgebung verloren geht.”
Dem Stadtrat ist vor allem der Tourismus in der Gegend ein Dorn im Auge. Allerdings ergab eine Umfrage unter jungen ausländischen Touristen, die 2020 von der Stadt in Auftrag gegeben worden war, dass nur drei Prozent nicht länger De Wallen besuchen würden, wenn dort keine Sexarbeit mehr angeboten werden würde. Viele halten sich dort wegen der vielen Coffeeshops und Bars auf. In der gleichen Umfrage gab die Mehrheit an, dass sie nicht das neue Sexarbeitszentrum besuchen würde, das die Bürgermeisterin bauen möchte.
Obwohl Sexarbeit in den Niederlanden legal ist, trägt der Beruf ein schweres Stigma mit sich. Mary befürchtet, dass sich das erst recht nicht bessert, wenn man Sexarbeit aus dem Straßenbild in ein abgeschottetes Gebäude verlegt. “Wir werden nie das Opfer-Image von Sexarbeitenden hin zu einer Person ändern können, die über ihren eigenen Körper entscheidet”, sagt sie.
Auch eine Analyse des Non-Profit Fensterbordells My Red Light ergab 2019, dass die Entfernung der Sexarbeitenden aus De Wallen keine Auswirkungen auf den Tourismus haben würde. Trotzdem hat die Stadt Amsterdam das schon mehrfach versucht. 2007 startete die Kommunalverwaltung “Project 1012”, benannt nach der Postleitzahl des Bezirks. Zahlreiche Coffeeshops und Fensterbordelle wurden geschlossen und durch Boutiquen und Modeläden ersetzt. Begründet wurde das mit dem Vorhaben, die Verbrechensrate in der Gegend zu senken. Ein Bericht des Amsterdamer Rechnungshofes ergab allerdings, dass die Maßnahme keine Auswirkungen auf das Verbrechen in der Gegend hatte.
Die Gentrifzierungspläne wurden erstmal wieder auf Eis gelegt und 2018 von Femke Halsema mit ihrem Amtsantritt wieder aufgegriffen. Ihre Regierung hat vier Szenarien entworfen. Eins davon ist die besagte Umsiedlung der Sexarbeitenden. Gegenüber VICE sagte die Bürgermeisterin, dass noch nichts davon finalisiert sei, und sie betonte, dass es nur eine von mehreren Optionen sei. Das Prostitution Information Center allerdings, ein Informationszentrum für die Arbeit im Rotlichtviertel, erhielt im November 2020 einen Brief, in dem stand, dass die Mehrheit des Stadtrats die Umsiedlungspläne verfolgen wolle.
Lengkeek sagt, dass die Stimmen der Sexarbeitenden in dem Entscheidungsfindungsprozess marginalisiert worden seien. “Hin und wieder bekommen wir eine Einladung zu einem Treffen mit dem Stadtrat, aber unser Feedback stößt in der Regel auf taube Ohren”, sagt sie. “Wir haben vorgeschlagen, das Sexarbeitszentrum neben De Wallen zu bauen, aber sie haben uns nie zugehört.” Mary ist auch frustriert. “Wir könnten die negativen Auswirkungen des Projekts nicht noch deutlicher ansprechen.”
Sexarbeiterin Felicia Anna, die an einem Treffen mit dem Stadtrat teilgenommen hat, glaubt, dass die legale Sexarbeit in den Niederlanden nicht gerade nach den Bedürfnissen der Sexarbeitenden ausgerichtet sei. Zum Beispiel rechtfertige die Stadt häufig Reformen in dem Rotlichtbezirk mit dem Kampf gegen den Menschenhandel. Wenn aber eine Bordellbesitzerin vermutet, dass eine Sexarbeiterin, die ein Zimmer in ihrem Etablissement mietet, Opfer von Menschenhandel ist und das bei der Polizei melden will, riskiert sie selbst 25.000 Euro Strafe oder den Verlust der Lizenz. Sie würde nämlich automatisch mit Menschenhandel assoziiert werden. Dieser Teil der Nulltoleranzpolitik gegen Menschenhandel “hält Menschen aktiv davon ab, Ausbeutungsverhältnisse zu melden”, so Felicia Anna.
“Die Vorstellung, dass ein Sexarbeitszentrum sicherer als De Wallen ist, ist offensichtlich nicht anhand der Meinung von Sexarbeitenden begründet”, sagt Luhrs. Vielleicht sollte der Stadtrat zurück an den Planungstisch – und dieses Mal ein paar Sexarbeitende dazu holen.
*Mary ist nicht ihr echter Name.