Fergus Henderson, Trevor Gulliver und Jon Spiteri haben im Oktober 1994 das Restaurant St. John aufgemacht. Heute, 20 Jahre später, zählt ihre Philosophie der (möglichst) kompletten Tierverwertung zu den revolutionärsten und einflussreichsten Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der britischen Gastroszene—mit internationaler Strahlkraft.
Henderson hat in seiner Küche eine Betriebsatmosphäre geprägt, die von einem scheinbar notwendigen und Furcht gebietenden Militärton deutlich abgerückt ist. Ja, die Entenherzen und Schweineohren auf der Speisekarte des St. John mögen ein echter Hingucker sein. Viel spannender ist aber die Beobachtung, unter welchen Bedingungen sie zubereitet werden: Denn bei Henderson ist kein Platz für Herumschreien und fliegende Pfannen. Stattdessen haben hier gegenseitiger Respekt und Liebe fürs Essen das Sagen.
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Schon bald wird im St. John das zwanzigjährige Bestehen des Restaurants gefeiert. Und wie sollte es anders sein: Die Köche, die anfangs noch selbst die Kartoffeln geschält haben, stehen immer noch für eine entspannte Arbeitsatmosphäre und eine unprätentiöse Herangehensweise ans Kochen, bei der die Qualität der Zutaten an erster Stelle zu stehen hat. Für einen seiner ehemaligen Schüler, Tim Siadatan, hat St. Johns wohl bekanntestes Gericht—das sich niemand Geringeres als Anthony Bourdain glatt als Henkersmahlzeit aussuchen würde: Knochenmark mit Petersiliensalat—sogar den Boden für eigene kulinarische Unternehmungen bereitet.
Siadatan, der mittlerweile die Geschicke des Trullo lenkt, hat anderthalb Jahre im St. John gearbeitet. „Ich war 18 und wollte Koch werden. Bei einem Besuch im St. John habe ich mich in ihr Knochenmark-Gericht verkuckt”, erzählt uns Siadatan. „Es hat mich komplett von den Socken gehauen. Daraufhin musste ich einfach die Restaurantleitung fragen, ob ich dort anfangen könnte. Sie waren einverstanden. Das Ganze fühlte sich echt unglaublich an.”
Nachdem er also erste Erfahrungen im St. John sammeln konnte, ging es für Siadatan weiter nach Sydney. Dort angekommen heuerte er in einem noblen Restaurant an, wo er täglich mit fantastischem Essen und überragenden Köchen zu tun hatte, aber gleichzeitig auch die Kehrseite der Spitzengastronomie kennenlernte.
„Die Stimmung in der Küche war total feindselig—noch schlimmer als ich mir es jemals ausgemalt hätte”, erzählt Siadatan mit ernster Mine. „Auch Mobbing stand auf der Tagesordnung. Wenn die Oberen der Auffassung waren, dass ein Gericht nicht korrekt zubereitet wurde, flog es auch schon mal gegen die Wand. Die ganze Zeit über war ich wie versteinert. Und als ich nur mal Austern aus der Schale lösen sollte, zitterten meine Hände wie Espenlaub. Ganz furchtbar.”
Nachdem er dann für einen Fulltime-Job ins St. John zurückgekehrt war, begann laut Siadatan die für ihn wichtigste Etappe auf seinem Weg zu einer erfolgreichen Kochkarriere. Denn während die Köche anderswo nur herumschreien und dich fertigmachen, legt Fergus darauf Wert, stets das Beste aus seinen Mitarbeitern herauszuholen.
„Dank meiner Zeit im St. John wurde ich zu dem, der ich heute bin”, sagt Siadatan. „Im Vergleich zu Sydney ging es im St. John unfassbar ruhig und gesittet zu. Du musstest dich zu keiner Zeit mit unausstehlichen Köchen und deren viel zu großen Egos herumschlagen. Stattdessen haben alle versucht, dich bei deiner Arbeit zu unterstützen. Jeder Tag hat mich etwas Neues gelehrt. Ich war deutlich jünger als der Rest, weswegen mich meine Kollegen unter ihre Fittiche nahmen. Das war von immenser Bedeutung für mich und meine Entwicklung.”
Siadatan meint, dass ihm die Zeit im St. John noch heute bei seiner Arbeit zugute kommt. „An etliche Momente denke ich immer noch oft”, verrät er uns. „Sie waren für mich wie ein Katalysator, denn dank ihnen wusste ich schon bald sehr genau, was ich wollte.”
In diesem Zusammenhang erwähnt er auch das River Café, das neben dem St. John und seinen Ablegern an der Spitze einer Art „Bewegung” steht, die Kochen mit Ehrlichkeit und gegenseitigem Respekt verknüpft und sich einen Offizierston verbietet. Auf diese Weise soll stets das Beste aus den Mitarbeitern herausgeholt werden. Kurzum: Zuckerbrot statt Peitsche.
„Ohne Frage hat das St. John an dieser kleinen Revolution maßgeblich mitgewirkt”, so Siadatan weiter. „Besonders in London und New York folgen immer mehr Restaurants seinem Beispiel. Im Grunde geht es nur darum zu verstehen, dass eine Küche nicht zwangsläufig ein Hort der Unfreiheit und rüder Umgangsformen sein muss.”
Aber natürlich ist auch das Essen im St. John eine Klasse für sich. „Die Tatsache, dass es ein Festival namens FergusStock gibt, sagt doch schon eigentlich alles. Fergus’ Art zu kochen hat mittlerweile echt Schule gemacht.”
Heute kümmert sich Siadatan um seine eigene Belegschaft in seiner eigenen Küche. Dabei versucht er stets, sein Wissen mit seinen Mitarbeitern zu teilen—ganz so, wie er es selbst bei Henderson erleben durfte. Da kann es dann schon mal vorkommen, dass er einem jungen Koch 15 Minuten lang das Wichtigste zur Salatzubereitung erklären muss.
„Das Knochenmark mit Petersiliensalat war mehr als nur ein gewöhnliches Gericht”, erzählt er. „Es steckte mehr dahinter. Fergus meinte einmal zu mir, dass auch ein Salat zu einem unvergesslichen Geschmackserlebnis werden kann, wenn du dein Herzblut in seine Zubereitung steckst. Er ist ein toller Kerl. Ihm bei der Arbeit zuzuschauen ist echt ansteckend. Er ist ein wunderbarer Mentor. Und ich bin nicht der einzige, der so über ihn denkt.”
Die in Großbritannien geborene April Bloomfield, die erst bei Henderson gelernt hatte, bevor sie später in New York das äußerst erfolgreiche The Spotted Pig eröffnete, hat vor Kurzem über Fergus geschrieben, dass das Kochen an seiner Seite „immer eine wundervolle Erfahrung war. Er ist ein großartiger Lehrer, der dir immerzu geduldig erklärt, wann du was zu tun hast. Und das auf eine charmante und lustige Art.”
Die im St. John an den Tag gelegte Achtsamkeit hat viele Nachahmer gefunden. Ein schroffer und aggressiver Umgangston in der Küche, der traditionell mit gehobenen Restaurants assoziiert wird, kommt zwar immer noch vor, doch das St. John hat gezeigt, dass es auch anders geht. Und jeder Koch, der im St. John arbeitet, wird später dessen Philosophie in die weite Welt tragen und dieselben Ideen und Einstellungen in seiner eigenen Küche umsetzen.
James Lowe, Besitzer des Lyle’s, hat Ähnliches zu berichten. Er war selbst fünf Jahre lang Küchenchef im St. John Bread & Wine und betont die „Wichtigkeit” von dem, was in dieser Zeit erreicht wurde. Auch wenn Lowe nie besonders aufbrausend war, hatte er dennoch Schwierigkeiten, immer die Contenance zu wahren.
„Die Arbeit in der Küche ist Stress pur”, so Loew. „Als ich damals im St. John anheuerte, wurde mir gesagt, dass ich erstmal runter kommen soll. Denn für Fergus ist eine positive Stimmung das A und O.
„Erfolg entsteht nicht durch Mobbing oder Beleidigungen. Das ist der ganz falsche Ansatz. Wie sollst du das beste Essen kochen, wenn um dich herum die Fetzen fliegen? Natürlich kommt es in jeder Küche zu kritischen Momenten. Aber genau dann ist es wichtig, einmal tief durchzuatmen. Es geht hier vor allem um das richtige Fingerspitzengefühl.”
Lowe zufolge geht es im St. John zu wie „in einer großen Familie. Alle Köche, die dort gemeinsam gearbeitet haben, stehen noch immer in Kontakt miteinander—wir haben alle sehr viel Respekt für unsere ehemaligen Kollegen.”
Lowe kommt auch gerne auf Hendersons Hartnäckigkeit zu sprechen, die vor allem am Anfang, als noch nicht alles rund lief, äußerst wichtig war. „Seine Philosophie macht Sinn. Er wusste, dass das, was er tat, richtig ist. Denn Ehrlichkeit zahlt sich aus.” Hendersons Küche beschreibt er als einen Ort, dessen „Wärme und Transparenz” sich im Nu auf die Mitarbeiter übertrage.
Lowe hat—so wie Siadatan—seine Erfahrungen aus der Zeit im St. John auf sein eigenes Restaurant angewandt. Bevor er jedoch das Lyle’s eröffnen konnte, haben er und seine Geschäftspartner „Ewigkeiten dafür gebraucht”, die richtige Location zu finden. Die sollte, so wie das St. John, über eine offene Küche verfügen, um so den Teamgeist zu fördern. „Kommunikation und ein gutes Arbeitsverhältnis sind der Schlüssel zum Erfolg”, sagt Lowe. „Darum sollte die Küche im Lyle’s auch eine räumliche Einheit bilden.”
Auch heute noch ist im St. John die Botschaft von positiver Stimmung so allgegenwärtig wie eh und je, wie uns Jonathan Woolway—seit sieben Jahren Souschef —erzählt. „Ich habe schon in vielen Restaurants gearbeitet. Ich will zwar keine Namen nennen, aber ich kann euch sagen, dass mir schon so einige unangenehme Köche untergekommen sind”, so Woolway. „Viele Köche sind zudem mit einer ausgeprägten Hybris ausgestattet.” Das einzige Stereotyp im St. John ist der von gegenseitigem Respekt geprägte Umgang—gepaart mit einer hohen Wertschätzung von Essen. Und sogar die innere Uhr der Mitarbeiter wird hier nicht außer Acht gelassen.
„Im St. John hast du meistens ziemlich geregelte Arbeitszeiten”, ergänzt Woolway. „Ein ausgeruhter Koch wird in der Regel eine bessere Leistung abliefern. Unser Arbeitsumfeld lässt sich mit dem Essensangebot vergleichen—entspannt und ehrlich. Hier wird nicht rumgeschrien, sondern alle gehen respektvoll miteinander um. Und das überträgt sich auch auf das Kochen. Die beiden Sachen stehen in einem engen Zusammenhang.”
Dass das Konzept, möglichst viel von einem Tier zu verwerten, zu mehr als nur einer Modeerscheinung taugen würde, war für viele klar. Es machte einfach Sinn. Wofür Henderson stand und—dem fortwährenden Einfluss des St. John und dem Erfolg seiner Schüler sei Dank—immer noch steht, ist Klarheit. Natürlich gab es auch schon vor seiner Zeit leckeres Essen und Restaurants mit Innereien auf der Karte. Aber Henderson war es, der aufgrund seines erfolgreichen Konzeptes Gerichte wie Knochenmark oder Schweineohren erst wieder salonfähig gemacht hat. Seine Mühen stehen für einen großen Respekt vor allen Ingredienzen und für die Forderung, endlich einzusehen, dass es gar nicht so schwer ist, nicht ein Arschloch in der Küche zu sein. All das ist der Verdient von Henderson.
Denn eins steht fest: Essen schmeckt so viel besser, wenn es aus den Händen von glücklichen Köchen kommt.