Nele Tabler ist eine lesbische Bloggerin aus dem Odenwald, die von Anfang an gegen die sogenannten Bildungsplangegner in Baden-Württemberg geschrieben hat. Also die Leute, die verhindern wollen, dass es irgendjemandem in Stuttgart und Umgebung auffällt, dass es nicht nur Heterosexuelle gibt. Auf Twitter hat sie deswegen auch #idpet erfunden, mittlerweile der Überbegriff für den Streit zwischen Bildungsplangegnern und Bildungsplangegner-Gegnern.
„Sind Sie für oder gegen die Sauerei?“ Eine ältere Frau beäugt die Liebste misstrauisch von der Seite. Wir zucken beide zusammen. Seit über einer Stunde befinden wir uns nun auf dem Stuttgarter Schillerplatz mitten unter den Bildungsplangegnern und glaubten uns bestens getarnt. Ich mit Blümchenstrohhut und Sonnenbrille, die Liebste hat vorher alle verräterischen Zeichen, wie den Ohrring mit dem doppelten Frauenzeichen, abgelegt. Wir haben gelächelt, Buh gerufen, wenn alle Buh riefen und zusammen mit der Menge begeistert geklatscht. An meinem Rucksack hängt sogar ein rosa Luftballon mit dem Logo der „Demo für alle“. Und nun hat die Liebste uns beinah verraten, weil sie sich eine Zigarette drehte.
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Wir lügen wie gedruckt und bestätigten nicht nur verbal, sondern auch mit unserer ganzen Mimik und Gestik, dass wir selbstverständlich hier sind, um gegen die Sauerei namens Bildungsplan zu demonstrieren. Dann sollten wir aber umgehend mit dem Rauchen aufhören, ermahnt uns die Frau energisch und erklärt, dass der Bandit Kretschmann sich mit der Tabakindustrie verschworen habe, um unsere Kinder sexuell zu belästigen. Ihre Arbeitsgruppe habe ihm das auch schon geschrieben, aber der Verbrecher antworte noch nicht mal. Um was für eine Arbeitsgruppe es sich dabei handelt, erfahren wir nicht, die Frau ist wieder in der Menge verschwunden.
„Demo für alle“, benannt nach dem französischen Vorbild „La Manif pour tous“, hatte dazu aufgerufen, an diesem Oktobersonntag inzwischen zum dritten Mal gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung in Stuttgart zu protestieren. Diese Organisation hat anscheinend Geld und kann es sich leisten, Plakate, Flyer, Aufkleber, Sticker, Luftballons und Broschüren großzügig unter den 1200 bis 3000 Teilnehmern zu verteilen. (Polizei- und Veranstalterangaben unterscheiden sich wie üblich bei solchen Veranstaltungen).
Ende letzten Jahres war bekannt geworden, dass im Rahmen eines neuen Bildungsplans künftig die schulische Welt nicht mehr nur aus Heteros bestehen und sexuelle Vielfalt fächerübergreifend zum Thema gemacht werden sollte. Um das zu verhindern, startete ein Lehrer aus dem Schwarzwald die Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“. Innerhalb weniger Wochen kamen 192.000 Unterschriften zusammen, allerdings nicht nur aus Baden-Württemberg, die Unterzeichner stammten aus der ganzen Welt.
Anfang Oktober lehnte der Petitionsausschuss des Landtags schließlich die Petition ab und kündigte an, die Begründung dafür im November nachzureichen. Die Bildungsplangegner reagierten äußerst empört, weil sie sich und ihr Anliegen von der grün-roten Landesregierung missachtet fühlen. „Mit Macht die Petition in die Tonne treten, steht für eine neue Kultur des Gehörtwerdens“ heißt es auf einem Plakat. Als eine Rednerin fragt, warum denn eine Petition mit 100.000 Unterschriften gegen Stuttgart 21 damals angenommen worden sei, ertönen laute Buhrufe, gefolgt von Gelächter auf die Feststellung, wer nicht wisse, dass 192.000 mehr als 100.000 sei, brauche wohl einen ganz persönlichen Bildungsplan.
Genderma(i)n Kretschmann, ein beliebtes Motiv. Die Heilige hatte der Malteser Hilfdienst mitgebracht
Der Schillerplatz ist hermetisch abgeriegelt mit Absperrgittern und Polizei, die Mann an Frau an Mann dicht nebeneinanderstehen. Nach Beginn der Veranstaltung hat es wahrscheinlich nicht einmal mehr eine zu spät kommende Maus geschafft, ohne Kontrolle durchzuschlüpfen. Es erinnert mich an einen umgekehrten Polizeikessel, eingekesselt zu unserem eigenen Schutz vor den ungefähr 200 Gegendemonstranten (Polizeiangaben). Schon in ihrem Aufruf hatte „Demo für alle“ versichert, bester Polizeischutz sei gewährleistet und das wiederholte Hedwig von Beverfoerde gleich noch einmal bei der Begrüßung. Die Sprecherin der „Initiative Familienschutz“ engagiert sich seit Jahren europaweit für tatsächliche und vermeintliche Anliegen von Kindern und gegen Abtreibungen. Kaum verwunderlich also, dass „Demo für alle“ ebenfalls zu ihrer Sache wurde. Ihr Bedrohungsszenario schon im Vorfeld zeigt seine Wirkun. Als wir durch die Absperrgitter gehen, seufzt hinter uns eine Frau vernehmlich: „Jetzt fühle ich mich sicher. Ich hatte ja solche Angst, über den Schlossplatz zu laufen.“
Als Zweite spricht Karin Maria Fenbert, Geschäftsführerin der „Kirche in Not“. Bisher war sie uns nur als Abtreibungsgegnerin bekannt, doch auch die „Gender-Ideologie“ treibt sie um. Sie hat einen „Glaubens-Kompass-Leitfaden“ dazu verfasst, in dem es zum Beispiel heißt: „Die Genderisten wollen … jedwede sexuelle Orientierung—wie zum Beispiel Homosexualität, die Pädophilie ist in dieser Hinsicht zurzeit noch umstritten—als gesellschaftlich akzeptierte geschlechtliche Identität etablieren“. Der angebliche Zusammenhang von Homosexualität und Pädophilie wird auch von anderen angedeutet, einer warnt davor, dass der Missbrauch an der Odenwald Schule Alltag in allen Schulen Baden-Württembergs werde, falls der Bildungsplan in Kraft trete.
Gegenproteste
Ab der Rede von Fenbert ist kaum noch zu verstehen, was auf der Bühne gesagt wird. Von zwei Seiten aus macht die Gegendemo nun Krach und übertönt mit Gesang, Geklapper, Pfiffen und Sprechchören beinah alles. Außer einzelnen Satzfetzen bekommen wir nichts mehr mit, egal wohin wir uns stellen. Um so mehr erstaunt uns der Beifall und die gelegentlichen Buhrufe der Menge. Entweder haben alle ein wesentlich besseres Gehör als die Liebste und ich oder sie orientieren sich an der vordersten Reihe. Wird dort geklatscht, klatscht man eben mit, in der Überzeugung, es wird schon seine Richtigkeit haben. Von draußen ertönt immer wieder: „Hoch die internationale Solidarität.“ Das entbehrt nicht einer gewissen Komik, denn drinnen im „Kessel“ auf dem Schillerplatz findet die internationale Solidarität tatsächlich statt. Auf der Bühne spricht ein Vertreter von „La manif pour tous“ und immer wieder befinde ich mich in der Nähe von Menschen, die sich auf Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und mindestens zwei mir unbekannten Sprachen unterhalten. „Hoch die internationale Solidarität … gegen den Bildungsplan“ könnte tatsächlich ein Slogan von „Demo für alle“ sein.
Vom Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Landtag, Peter Hauk, wird ein Grußwort verlesen und ein Redner erzählt etwas von einem Sex-Führerschein, den Kinder nun in der Schule machen müssten. Da ich sowieso kaum noch etwas verstehe, konzentriere ich mich auf die Gespräche um mich herum. Zwei ältere Herren unterhalten sich darüber, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie an Demonstrationen teilgenommen hätten, aber nun schon zum zweiten Mal bei „Demo für alle“ dabei sind. Und sie würden auch noch ein drittes, viertes und fünftes Mal kommen, solange eben, bis dieser grüne Spuk vorbei sei und Baden-Württemberg wieder eine richtige Regierung habe.
Die Liebste und ich haben uns von Anfang an nicht gerade besonders wohl gefühlt und befürchtet, jemand könne uns erkennen und sich mit dem Schrei „Da sind Lesben!“ auf uns stürzen. Bis sich endlich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, ist aus dem Unbehagen regelrecht Angst geworden. Schon mehrmals hatte sich „Demo für alle“ wenigstens formal von Gewalt- und Hassparolen, wie sie zum Beispiel in den Petitionskommentaren vorgekommen waren, distanziert. Doch das hindert viele Teilnehmer nicht daran, in Gesprächen laut und deutlich ihre Meinung zu äußern. Homosexuelle zwangsweise gesundbeten zu wollen, war da noch eine der harmloseren Äußerungen. Als der Redner von Sex-Führerschein spricht, will ein Mensch neben mir „alle Schwuchteln einschließlich Kretschmann kastrieren“. Je länger die Veranstaltung dauert, desto aggressiver wird die Stimmung und das Vokabular militärischer. Es geht nicht um eine politische oder vielleicht auch religiöse Auseinandersetzung, sondern um einen Überlebenskampf. „Wir oder die Perversen, für beide ist auf diesem Planeten kein Platz“, sagt eine Frau mit Glaubenszwiebel und Gesundheitsschuhen und wie zur Bestätigung werden ein paar Meter weiter riesige Deutschlandfahnen geschwenkt.
Eine Performance der Bildungsplangegner-Gegner am Rande der Demo
„Vater, Mutter, Kinder. Familie voran“, lautet der Slogan der Demo und die Gegendemonstranten kontern aus einiger Entfernung: „Eure Kinder werden so wie wir!“. Schräg vor mir geht ein Mann mit Tonsur. Er hat eine tiefe Stimme und gibt eine Art Vorbeter. „Vater, Mutter, Kinder“, wiederholt er unablässig und eine Gruppe junger Frauen um ihn herum antwortet jedes Mal aus vollem Hals: „Familie voran!“ Rechts und links des Zugs gehen Polizisten dicht hintereinander im Gänsemarsch.
Eine Schauspieltruppe performt am Straßenrand: als 50er-Jahre-Familie, Nazis in Uniformen und in Klu-Klux-Klan-Roben. „Seht her, das seid ihr“, rufen sie. „Was für Kasper“, höre ich hinter mir und dann: „Wenn wir das doch wirklich wären und das Regenbogengesindel vergasen könnten!“ Mir wird schlecht und jetzt reicht es endgültig. Ich packe die Liebste am Arm und zerre sie durch die Polizistenkette raus an den Rand. Dort reiße ich mir den Blümchenhut vom Kopf und verlange nach einer Zigarette. Die Liebste streift sich als erstes ein Regenbogenarmband übers Handgelenk und aus dem Augenwinkel sehe ich noch kurz das grinsende Gesicht eines Polizisten, der eine Weile direkt neben mir gegangen war. Er macht den Eindruck, als hätte er sich gerne zu uns gesellt.
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