Adrian Witschi war der erste VICE-Autor in der Schweiz. Und obwohl man als VICE-Autor auch heute noch pro Woche zwei Beleidigungen im Stil von „Isch dis Hirni weich, schaffsch bi VICE” bekommt, veröffentlichte er kürzlich seine erste Novelle beim Salis-Verlag. Und der Salis-Verlag ist unter anderem auch der Verlag von Thomas Meyer (Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse, Rechnung über meine Dukaten). Darum kann man davon ausgehen, dass Adrians Hirn nicht ganz weich ist oder er die Weichwerdung seines Hirns überzeugend in eine literarische Form giessen kann.
Nach der Lektüre von Witschis Erstling Hoffentlich ist niemand verletzt kann ich jedenfalls sagen: Es gibt ein Leben nach VICE. Der Ich-Erzähler versteht, dass er für die Hafenrundfahrt in Jakarta zahlen muss und ist nicht schockiert, dass er nicht auf der Gästeliste steht. Er geht—wegen einer Geschlechtskrankheit—auch zum Arzt und will die Krankheit nicht unbehandelt lassen, um seinen eigenen Verfall in einem Blog zu dokumentieren. Das stimmt mich persönlich hoffnungsvoll. Aber nun zum Buch:
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Vinzent hat mit 30 gerade ein Praktikum bei einer Boulevardzeitung—die viele Ähnlichkeiten mit dem Blick hat—abgeschlossen und reist jetzt an die Hochzeit eines Freundes nach Bali. Wegen Problemen am indonesischen Zoll verpasst Vinz seinen Anschlussflug und muss die Zeit in Jakarta überbrücken. Vinz reist alleine. Seiner Freundin, Ava, schreibt er hie und da eine SMS. Ava ist mutmasslich ungefähr gleich alt, aber ungleich erwachsener als Vinz. Vinz lebt sein Leben so aktiv wie ein Passagier im Bummelzug, weshalb es passt, dass in Hoffentlich ist niemand verletzt Szenenübergänge manchmal abgehackt sind—als würde das Tschu-Tschu-Bähnli durch einen Tunnel fahren. Manche Erlebnisse werden gerafft, andere endlos ausgebreitet. Manchmal kommt der Übergang so überraschend wie das Morgenlicht nach einer hoffnungslos versoffenen Nacht.
Dieser Stil passt zum Protagonisten, denn Vinz träumt sich durch sein Leben, rutscht von Situation zu Situation und wird für seinen verantwortungslosen Lebensart von einem Dermatologen mit einem Stäbchen in der Vorhaut bestraft. Für Vinz ist der Dermatologe Dr. Bühler („… Sieht sehr jung aus, jünger als ich auf jeden Fall.”) die letzte Strafinstanz: Drei rote Punkte auf der Eichel bleiben als Überrest von Vinzs Untreue und Dr. Bühler möchte die Kontrollabstriche möglichst schmerzhaft gestalten: „‚Gewisse Leute’, fügt er an und drückt meine Eichel zusammen, so, dass sich der Harnröhrenausgang zu einem kleinen Loch verformt, ‚verstehen den Schmerz als Bestrafung für ihre Untreue.’” Was bei Verbrechen und Strafe die Partnerin mit tief christlichen Glauben (Dostojewskij, ihr Banausen) und im alten Zürich wohl die Zwinglianische Moral war, ist heute also nur ein Don Quijote-mässiger Dermatologe, der seine Mitmenschen zum korrekten Verhalten erziehen will.
Und bei allem Genuss und aller mit Faszination gefüllter Abscheu—etwa als bei der Hafentour in Jakarta Kacke aus den Schiffslatrinen ins Boot spritzt—ist Vinz froh um die Bestrafung. Denn der Erzähler will erwachsen werden, er krankt an seinem Beobachterblick aufs Leben. Wie die „30-jährigen Pärchen in Berlin”, die Rainald Grebe besingt (und Nina Pauer in der ZEIT zum Generationenporträt zermanscht hat), trampelt Vinz als 30-jähriger Zürcher ziellos durch die Welt, aber im Gegensatz zu den Figuren im Generation Y-Klischeekabarett-Song tut das Vinz ohne den Hedonismus des Angekommenen.
Er ist der Schulbub, der mal zuschaut wie der Layouter der Boulevardzeitung die Headline „Das Monster am Gotthard” setzt. Der Schulbub, der Geld rüberschiebt, wenn ihn der indonesische Zollbeamte dazu drängt („No money—no honey”) und während seine Freundin schläft—sie hat mutmasslich einen Job und muss deshalb morgens aufstehen—Dokus über Woody Allen schaut. Wirklich aktiv scheint Vinz nur beim Sex zu sein. Dort deckt sich die uferlose Beschreibung mit Eigenbeteiligung.
Vinz leidet darunter, dass er dem Leben vom Passagiersitz zuschaut. Darum ist er dankbar für die drei Punkte auf seiner Eichel und den brutalen Dermatologen, denn Jakarta, der ganze Dreck da und das Souvenir, das er von dort mit nach Hause bringt, reissen den Schulbuben ins Erwachsenenleben. Mit 30 kommt er da recht spät an, aber immerhin wird es noch ein paar Jahre länger dauern, bis ihn das Leben so langweilt und ermüdet wie die Generation Rettich-Menschen bei Rainald Grebe („Aaaasien! Aaasien … Ist total überlaufen”).
Natürlich ist Hoffentlich ist niemand verletzt nicht das erste Buch über das Erwachsenwerden, auch nicht das erste über dasverspätete Erwachsenwerden. Über diesen Fakt zu motzen ist müssig, da Bildungsromane—germanistisch für „Coming-Of-Age”-Romane—zu den ältesten Prosagattungen überhaupt gehören.
Und die Wertung ist eh verfehlt, denn egal, wie viel vom eigenen Leben Witschi zu Hoffentlich ist niemand verletzt kondensiert hat: Das Leiden—und die Überwindung dieses Leidens—ist echt. Das Leiden daran, dass man vermisst, was zu wollen. Falls Witschi also wirklich mal weich im Hirn war, hat er diesen Zustand mit Hoffentlich ist niemand verletzt überwunden.
Hoffentlich ist niemand verletzt auf der Homepage des Salis-Verlags.
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