Am Freitag um 12:56 Uhr wurde das erste derartige Foto aus Budapest auf Facebook gepostet: Es zeigt eine Reihe von Flüchtlingen, eine Traube von Menschen, die vom Budapester Bahnhof Keleti aufbrechen—zu einem Fußmarsch Richtung Österreich. Seither gibt es viele solcher Fotos. Sie fluten das Netz wie die Flüchtlinge die Straßen in und aus Budapest. Unter dem Hashtag #marchofhope kommen minütlich neue dazu.
Wie verzweifelt die Teilnehmer des Marsches sein müssen, ist anhand der Fotos nur schwer zu sagen. Die einzelnen Menschen sind nur Punkte innerhalb einer zielstrebigen Masse, die der aktuellen Entwicklung in Ungarn zu entkommen versucht und dafür den letzten Ausweg nimmt, den sie aktuell sieht. Auch, wenn für ihr Ziel ein ununterbrochener Marsch von 50 Stunden nötig sein wird.
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Auf gewisse Weise versagt hier die Bebilderung der wahren Katastrophe. Denn das Problem ist nicht das, was die Flüchtlinge durch ihr Gehen—entlang der Autobahnroute Richtung Westen—sichtbar machen. Das Problem ist eins, zu dem es kein greifbares Motiv gibt. Das Problem ist ein politisches. Eins, das durch einen für uns unsichtbaren Krieg ausgelöst wird.
Was wir in der Zwischenzeit zeigen können, ist nur der Abdruck, den die Krise gerade auf den Straßen zwischen Budapest und Wien hinterlässt.
Direkt am Straßenrand machen die Menschen kurze Pausen, obwohl sie die Zeit und den nahenden Sonnenuntergang gegen sich haben.
Nahe des Bahnhofs Keleti, von wo immer noch laufend Flüchtlinge zum Fußmarsch aufbrechen, hat sich in der Zwischenzeit auch der rechte Mob aus selbsternannten „Asylkritikern” eingefunden—schlägernde Fußball-Hooligans stehen unvermummt und unbeeindruckt Schlange, zeigen Gesicht und warten auf passierende Menschen mit anderer Nationalität, um sie dafür zu verprügeln, dass sie es wagen, vor einem Bürgerkrieg zu fliehen, der bereits über 250.000 direkte Todesopfer gefordert hat.
Einige Rechtsextreme bewerfen die Fliehenden unverhohlen mit Steinen. Aus dem Krieg, in die Schande.
Zur Erinnerung: Auch Ungarns Geschichte ist unweigerlich mit Flucht—nicht der von Fremden, sondern der eigenen—verknüpft. Hier einige Bilder ungarischer Flüchtlinge aus dem Jahr 1956.
Währenddessen geht der Marsch entlang der Autobahn weiter. Hier bekommen die Flüchtlinge, deren Auszug aus Ungarn von Menschen vor Ort als „biblisch” bezeichnet wird, mittlerweile Polizeigeleit—nicht zuletzt zum Schutz vor anderen Fahrzeugen.
Aber auch abgesehen von der Polizeieskorte gibt es in Ungarn nicht nur Flüchtlingsgegner, wie dieser Tweet uns erinnert, der uns gleichzeitig dazu ermahnt, weder das offizielle, noch das rechtsradikale Ungarn als repräsentativ für die Gesamtbevölkerung zu sehen.
Andere freiwillige Unterstützer reihen währenddessen Hilfsgüter wie Wasserflaschen und Essenspakete für die vorbeiziehenden Fliehenden auf.
Repräsentativ sind natürlich auch einige Hundert Helfer nicht—aber sie helfen, die Repräsentation Ungarns, im Inland und im Ausland, um eine Komponente zu erweitern, die nicht zu einer weiteren Verfestigung radikaler Klischees passt. Auch, wenn das offizielle Ungarn sich alle Mühe gibt, mit neuen Gesetzesentwürfen das Bild vom unnachgiebigen Flüchtlingsfeindesland aufrechtzuerhalten.
Unter anderem sieht das neue Migrationsgesetz, das am Freitag erst verabschiedet wurde, dreijährige Haftstrafen vor, wenn jemand die 175 Kilometer lange Grenze zu Serbien trotz des Grenzzauns unrechtmäßig passiert.
Dass die westliche Aufregung über Ungarns Politik selbst heuchlerisch ist, weil Ungarn nicht im Alleingang, sondern auch im Interesse der EU und der Erhaltung des Dublin-Abkommens handelt, haben wir bereits hier ausgeführt.
Grenzen und Gesetze sind allerdings nur beschränkt wirksam, solange beides noch umgehbar ist. Vor allem Menschen, die vor Assad und der Terrormiliz IS geflohen sind, lassen sich davon vorerst nicht stoppen. Auf dieser Karte lässt sich der Fortschritt der Fliehenden entlang ihrer Fußreise nach Österreich nachvollziehen:
Aber wie eingangs erwähnt sind unsere Mittel trotz sozialer Medien und endlos vieler Bilder erschöpft, das volle Ausmaß der Flüchtlingskatastrophe anhand von Karten und abgefilmten Menschenmassen zu erfassen. Als Bertolt Brecht seine erste Zeppelin-Fahrt über Berlin unternahm und die großen Arbeiterfabriken aus der Ferne sah, schrieb er, dass ihm schlagartig klar wurde, wie wenig angeblich objektive Bilder noch über unsere moderne Wirklichkeit aussagen können. Das stimmt heute immer noch. Wer damals den Arbeiterkampf aus der Vogelperspektive erfassen wollte, war notgedrungen zum Scheitern verurteilt. Dasselbe gilt auch bei Situationen wie der aktuellen Flüchtlingskrise.
Die großen Fragen bleiben—und noch gibt es keine Bilder, mit denen man sie beantworten könnte.
Unsicherheit bestimmt immer noch die Einstellung der Flüchtlinge gegenüber den ungarischen Behörden. Nachdem in den vergangenen Tagen Fliehende unter falschem Vorwand in Züge gelockt und anschließend in Lager gebracht wurden, sieht man auch am Freitagabend noch eine gewisse Skepsis, wenn es darum geht, auf Angebote nach einer Weiterreise einzugehen.
Das alles ist, naturgemäß, eine Sammlung von Momentaufnahmen und steht nicht wirklich stellvertretend für die Gesamtsituation. Trotzdem gibt es vereinzelt Momente, die bei aller Einzigartigkeit (und ganz ohne Fotos) ein gutes Stimmungsbild vom großen Ganzen zeichnen. Zum Beispiel, wenn Journalisten anmerken, dass die ungarischen Schläger-Ultras absolut keine Chance gegen syrische Kriegsüberlebende haben:
Wie Freitagabend bekannt wurde, hat die ungarische Regierung dem Anschein nach beschlossen, die Flüchtlinge offiziell in Bussen über die Grenze nach Österreich zu bringen:
Währenddessen posten diejenigen, die zu Fuß unterwegs sind, noch Selfies vom Fortschritt ihres Marsches. Zumindest die Hoffnung scheint ungebrochen zu sein.
Eines ist jedenfalls klar: Vom Glauben dieser Flüchtlinge an die Europäische Union könnten sich ihre Bürger noch einiges abschauen.
Das österreichische Innenministerium betont in einem neuen Statement via OTS-Aussendung, dass sowohl Polizei als auch Rotes Kreuz auf die Füchtlingsströme vorbereitet seine und man nach Dublin-Abkommen eventuelle Rückführungen prüfe—aber auch, dass bei Personen, die sich nur auf der Durchreise durch Österreich befinden würden, weitere Maßnahmen „nur im Lichte der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen” seien.
Dass auch Verhältnismäßigkeit auf mehr als eine Art ausgelegt werden kann, zeigt die Schlafstelle dieser Flüchtlinge, die während der Nacht direkt auf der Strecke schlafen. Mit Decken aus der Bevölkerung und Asphalt von der Regierung.
Und sie telefonieren doch: Um Mitternacht gibt schließlich auch Werner Faymann eine Stellungnahmeüber seine offizielle Facebook-Seite ab. Selten sind mittelfristige Milde und langfristige Härte so nah beieinander gelegen.
So entschlossen der Marsch weitergeht, so skeptisch und verängstigt sind die Flüchtlinge anscheinend immer noch, was das Angebot der Busse nach Österreich angeht.
Kurz vor 1:00 Uhr setzt schließlich erste Erleichterung ein: Die Flüchtlinge vom Bahnhof Keleti besteigen die Busse Richtung Österreich. Auch, wenn der #MarchofHope eigentlich Deutschland zum Ziel hat (was sich besonders jene in Erinnerung rufen sollten, die den Marsch gern zum Anlass für verklärende österreichische Selbstbeweihräucherung nehmen würden), steuern die Menschen damit doch auf einen wichtigen Etappensieg zu.
Am Samstagmorgen erreichen über 2.500 Flüchtlinge Österreich in den von Ungarn bereitgestellten Bussen. 6500 Menschen sind es zu Mittag bereits—und bis zum Abend werden sogar 10.000 erwartet. Bundeskanzler Faymann und Bundeskanzlerin Merkel hatten zuvor in einer gemeinsamen Stellungnahme verkündet, dass den fliehenden Menschen aufgrund der Notlage die Durchreise durch Österreich und der Übertritt nach Deutschland erlaubt werden würde.
Die Grenze mussten die Menschen zu Fuß passieren; der österreichischen Forderung, die Fliehenden bis zur Nova Rock-Halle in Nickelsdorf zu bringen, kam die ungarische Seite nicht nach. Stattdessen wurden die Flüchtlinge vom Bahnhof bis unmittelbar vor die Grenze gefahren—wohl auch, um sich von offizieller Seite nicht zu unmittelbar an ihrer Ausreise zu beteiligen. Währenddessen wird in Österreich weiter Hilfe benötigt.
Der Fußmarsch vom Bahnhof Keleti über die Autobahn—dieser unwahrscheinliche Akt von ungebrochenem Willen und eisernem Glauben der Kriegsvertriebenen an ein besseres Leben in Deutschland—wirkte dabei als Initialzündung.
Noch ist er aber trotz der eingerichteten Busse und dem Entgegenkommen von offizieller politischer Seite nicht für alle vorbei. Rund 100 Menschen befinden sich immer noch auf dem Weg.
Auch im Netz entstehen währenddessen neue Hilfsprojekte, wie das von einer deutschen Domain gehostete Refugee Phrase Book, in dem speziell auf die Situation der Flüchtlinge abgestimmte Phrasen der deutschen Sprache zusammengetragen werden.
Selten war eine einfache Kolonne aus alten Bussen als derart positives Symbol für Grenzdurchlässigkeit und Menschlichkeit wie in dieser Nacht.
Selten war Naivität eine so starke Währung und der Glaube an die EU—von Menschen, die jeden Grund hätten, diesen Glauben längst verloren zu haben und spätestens im Steinhagel der Neonazis von Budapest Keleti jede Aussicht auf Besserung fahren zu lassen—ungebrochener.
Selten war auch die Hilfe aus der Zivilbevölkerung so präsent und so selbstverständlich.
Selten war die Solidarität so laut und der Mob so leise.
Selten war die historische Tragweite der Ereignisse so klar.
Selten war es so OK, ein bisschen stolz auf Österreich zu sein.
Selten waren Nachrichten angesichts der furchtbaren Gesamtlage so gut.
Markus auf Twitter: @wurstzombie