“Hier geht es nicht um Geld, es geht um Gerechtigkeit”, sagte Anwalt Daniel Small in einem Statement. Seine Mandantinnen wollen den 23 Jahre alten Nathan Carman vom millionenschweren Erbe seines Großvaters ausschließen.
Small vertritt Carmans Tanten Valerie Santilli, Elaine Chakalos und Charlene Gallagher. Die drei Schwestern sind davon überzeugt, dass Carman im Dezember 2013 ihren Vater John Chakalos ermordet hat. Carman wurde dafür bislang aber nicht angeklagt, geschweige denn verurteilt. Weniger zentral für das Anliegen der Frauen – aber nicht minder problematisch – sind die mysteriösen Umstände, unter denen Carmans Mutter im Spätsommer 2016 bei einem gemeinsamen Angelausflug verschollen ist. Sie war die Schwester der drei Klägerinnen.
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Die ungewöhnliche Klageschrift wurde bei einem Nachlassgericht im US-Bundesstaat New Hampshire eingereicht. Vordergründig handelt es sich bei dem Fall um eine Erbstreitigkeit, eigentlich ist es ein Mordfall. So sehen das jedenfalls Carmans Tanten. Sie sind der Meinung, dass Nathan kein Geld von Menschen erben darf, die er (angeblich) ermordet hat.
Das Boot sank, Carman überlebte, seine Mutter verschwand
Sein Großvater, der Immobilienmogul Chakalos, war in seinem Zuhause in Windsor, Connecticut, in seinem Bett erschossen worden. Er hinterließ ein Vermögen von 44 Millionen US-Dollar, das laut Testament gleichmäßig unter seinen vier Töchtern aufgeteilt werden sollte. Dann allerdings verschwand Nathans Mutter auf hoher See.
Im September 2016 legten Nathan und Linda Carman für einen Angelausflug mit ihrem zehn Meter langen Boot, der Chicken Pox, von der Küste Rhode Islands ab. Das Boot sank und Nathan wurde acht Tage später in einer Rettungsinsel etwa 160 Kilometer vor Martha’s Vineyard aufgegriffen, wie der Boston Globe damals berichtete.
Carmans Mutter wurde nie gefunden und der Mord an seinem Großvater ist bis heute ungeklärt.
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Seine Tanten sind jedenfalls davon überzeugt, dass Carman ihren Vater ermordet hat, um an das Vermögen zu kommen – eine “abscheuliche Tat”, motiviert durch “Bösartigkeit und Gier”, wie es in dem Statement heißt. Tatsächlich ist Nathan das einzige Kind von Linda Carman und hätte somit Anspruch auf den Anteil seiner Mutter.
Sollten die drei Tanten Recht bekommen, wollen sie Carmans Anteil in die Aufklärung des Mordes an Chakalos und das Verschwinden ihrer Schwester investieren. Der Rest solle an Wohltätigkeitsorganisationen gespendet werden, sagte ihr Anwalt.
Carman war die letzte Person, die sowohl seine Mutter als auch seinen Großvater lebend gesehen hat – “abgesehen vom Mörder”, wie er in einem ziemlich unangenehm anzuschauenden Fernseh-Interview beteuerte, das diesen Frühling in der ABC-Sendung 20/20 ausgestrahlt worden war.
Carman beteuert, zwischen den Fällen bestehe kein Zusammenhang
“Dass ich, abgesehen vom Mörder, die letzte Person war, die meinen Großvater lebend gesehen hat. Und dass ich zusammen mit meiner Mutter auf dem Boot war, als es gesunken ist – dazwischen besteht keinerlei Zusammenhang”, sagte der junge Mann im Gespräch mit Linzie Janis. Carman habe zu dem Interview eingewilligt, weil er die Trauer über den Verlust seiner Mutter und seines Großvaters öffentlich habe kundtun wollen.
Gerade für Carman, bei dem das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde, ist es allerdings schwierig, Gefühle auszudrücken. Zu den Symptomen dieser speziellen Autismusvariante gehört auch eine vermeintlich teilnahmslose und überlegte Ausdrucksweise. Ein nicht unerheblicher Teil der ABC-Sendung konzentrierte sich darauf, ob Carmans ungewöhnlich anmutendes Verhalten Beweis für seine Schuld oder Symptom seiner psychischen Verfassung ist.
In der gleichen Sendung sagte Carman auch, dass ihn die Polizei ins Visier genommen habe, weil er durch seine Diagnose “leichte Beute” sei. Sein Anwalt, Hubert Santos, kritisierte außerdem die Polizei von Windsor dafür, ihn öffentlich als Hauptverdächtigen für den Tod seines Großvaters dargestellt zu haben. “Wenn Polizisten mit ihm sprechen, werden sie aufgrund seiner ungewöhnlichen Art schnell misstrauisch”, sagte Santos in der Sendung. Wenn ein ernsthafter Verdacht gegen Carman bestehen würde, ergänzte der Anwalt, hätte die Polizei “ihn bereits verhaftet”.
In den USA ist es nicht ungewöhnlich, dass Angeklagte einen Mordprozess gewinnen, aber dann im Zivilprozess schuldig gesprochen werden
Dem widerspricht Albert “Buzz” Scherr, Juradozent an der University of New Hampshire. Für einen Schuldspruch in einem US-amerikanischen Mordprozess muss die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe ohne begründete Zweifel beweisen können. Um also überhaupt gerichtlich gegen ihn vorgehen zu können, “müssen sie persönlich davon überzeugt sein, ihre Vorwürfe beweisen können”, so Scherr.
Im amerikanischen Rechtssystem ist es allerdings nicht so ungewöhnlich, dass Angeklagte den Mordprozess gewinnen, aber dann in einem Zivilprozess schuldig gesprochen werden. Das berühmteste Beispiel dafür ist der Fall O.J. Simpson. In Zivilprozessen muss die Schuld des Angeklagten nicht über alle Zweifel erhaben sein. Es reicht aus, wenn die Zweifel an der Schuld nicht überwiegen.
Im Gegensatz zu Simpson ist Carman – jedenfalls bislang – nicht in einem Strafprozess angeklagt worden. Stattdessen muss er sich jetzt vor einem Nachlassgericht, das sich normalerweise um Vermögen und Erbe kümmert, quasi für einen Mord verantworten.
“Da ist ein sehr ungewöhnlicher Fall”, sagte Scherr und fügte hinzu, dass die Familie sehr wahrscheinlich Small engagiert hat, weil dieser in der Vergangenheit als Staatsanwalt für die Bundespolizei gearbeitet hatte. “Er ist es gewohnt, Mörder zu überführen.”
Carmans verschwundenes Gewehr und die Tatwaffe haben das gleiche Kaliber
In der 12-seitigen Klageschrift, die im Auftrag der Tanten erstellt wurde, heißt es, dass mindestens eine der Kugeln, die Chakalos getötet haben, aus einer “.308-Kaliber-Waffe” stammte. Einer polizeilichen Aussage zufolge hatte Carman sich vor dem Tod seines Großvaters das Gewehr Sig Sauer 716 Patrol .308 gekauft. Die Waffe ist etwa 3.000 US-Dollar wert, fast einen Meter lang und etwa fünf Kilo schwer. Sie zu verlieren – was er seinen Tanten zufolge angeblich getan habe –, wäre der Klageschrift zufolge “überaus ungewöhnlich”.
Weder Carmans Gewehr noch die Tatwaffe wurden bislang gefunden.
Aber auch das Verschwinden seiner Mutter wirft einige Fragen auf. Keine Woche nachdem Carman von dem Frachter Orient Lucky entdeckt und gerettet worden war, reichte er einen Versicherungsanspruch über 75.000 US-Dollar für das gesunkene Boot ein. Die Versicherungsgesellschaft lehnte allerdings mit der Begründung ab, dass er das Risiko mit schlecht durchgeführten Umbauten an dem Boot selbst erhöht hatte.
Das Notrufsystem des Bootes war ausgeschaltet
Carman hatte vier Löcher von jeweils etwa drei Zentimetern Durchmesser in das Boot gebohrt – angeblich um die Trimmklappen zu entfernen, die der Stabilisation dienen. Dann habe er diese Löcher aber nicht vernünftig gestopft, bevor er mit seiner Mutter auf die Angeltour ging. Die Versicherungsgesellschaft wirft Carman außerdem vor, die Überwachungssysteme nicht eingeschaltet zu haben, die ansonsten einen Notruf ausgesendet hätten.
Gegenüber den Behörden sagte Carman, dass sich der Motorraum schnell mit Wasser gefüllt und er ein “komisches Geräusch” gehört habe. Daraufhin habe er seine Mutter gebeten, die Angelleinen einzuholen. Das sei das Letzte gewesen, was er von ihr gesehen habe.
Auch um diesen mysteriösen Fall wird es in der Verhandlung zum Nachlassstreit wohl gehen.