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Die ewigen 10 Sekunden: Das berühmteste 9/11-Foto, das fast niemand gesehen hat

Am 11.9.2001 sollte Richard Drew eigentlich als Fotojournalist von der New York Fashion Week berichten. Es dauerte jedoch nicht lange, und sein Arbeitgeber von der Associated Press schickte ihn zu den Türmen des World Trade Centers. Dort schoss er unter anderem eine Serie von zwölf Bildern, die eines der traurigsten Symbole von 9/11 dokumentierten. Der freie Fall des Falling Man, der sich aus einem der oberen Stockwerke der brennenden Türme gestürzt hatte, dauerte rund zehn Sekunden.

Zahlreiche Menschen sahen einen Sprung aus den brennenden Obergeschossen an diesem Tag als ihren letzten Ausweg. Für sie gab es weder über die Treppen noch das Dach eine Möglichkeit der fürchterlichen Hitze zu entgehen. Die Bilder von Drew zeigen die Chronik der letzten Sekunden des Falling Man in einem traumatischen Daumenkino. Der wild taumelnde Körper verliert die Kontrolle, während der Wind und die Beschleunigung ihm kurz vor seinem sicheren Tod noch sein letztes weißes Hemd vom Körper reißen.

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Aus den Dutzenden Bildern in Drews morbider und immer noch erschütternder Sequenz sticht eins ganz besonders heraus. Es ist ein stilles, fast schon intimes und komponiertes Bild: Der Springende steht auf dem Kopf, in einer perfekten Vertikalen trennt er den Nord- vom Südturm. Der fallende Mann wirkt geradezu entspannt. Kontrolliert. In einem Artikel für den Esquire  schreibt Tom Junod 2003, würde der Mann nicht fallen, „hätte er auch genauso gut fliegen können.”

The Falling Man. Bild: Richard Drew via  Wikimedia Commons. Lizenz: Fair Use

Drews Foto wurde am 12. September 2012 im Innenteil der New York Times abgedruckt, genau wie in zahllosen Zeitungen in den USA und überall auf der Welt. Erhaben und verwirrend zugleich zeigt es ein Ereignis in seiner unbegreiflichen Tragweite. Der fallende Mensch wurde nie endgültig identifiziert, und doch verkörperte er all den Schrecken dieses einen Tages.

Die Leser der Zeitungen reagierten entzürnt. Hatte die Presse keinen Anstand? Geschmacklos, krass, voyeuristisch. Von der Times bis zum Memphis Commercial Appeal zog die Tagespresse das Bild zurück und sah sich gezwungen, sofort in die Defensive zu gehen, während sie das Bild aus ihren Online-Archiven löschten.

Das bekannteste Foto, das Niemand gesehen hat.

Don DeLillo entschied sich dagegen, das Bild für das Cover seines Romans Falling Man zu verwenden. Lediglich die Times druckte es 2007 für ihre jährliche Book Review. Abgesehen davon wurde das Foto seit 2001 nicht abgedruckt. Drew selbst nannte es „das bekannteste Foto, das niemand gesehen hat.”

Aber die Selbstzensur konnte den Falling Man nicht aus dem kollektiven Gedächtnis tilgen. Peter Cheney, ein Reporter der Globe and Mail, erhielt schließlich den Auftrag, die Identität des fallenden Menschens zu ermitteln. Die Spur führte zu einem gewissen Jonathan Briley, der am 11. September im Tower-Restaurant Windows on the World arbeitete, welches sich auf den obersten Stockwerken 106 und 107 befand. Doch endgültig konnte die Identität des Falling Man bis heute nicht bestätigt werden—und vielleicht sollten wir es dabei belassen.

„Dieses Bild ist sein Ehrenmal”, schließt Junos in seinem Artikel für den Esquire. In der Dokumentation „Falling Man” aus dem Jahre 2006 sagt Jack Gentful, dessen Frau Elaine aus einem der oberen Stockwerke im Südturm stürzte: „Es muss sich angefühlt haben wie fliegen.”

Der 11. September war das am meisten fotografierte Ereignis der Geschichte und das noch vor der allgegenwärtigen Verbreitung von Smartphones mit integrierter Kamera. Wir waren noch ein paar Jahre von der echten Social Media-Revolution entfernt und wählten uns mit langsamen Modems aus der Internetsteinzeit ins Netz ein. Die Angriffe auf die Twin Towers ereigneten sich in einer grauen Online-Übergangsphase. Es ergibt Sinn, dass auch nach einigen skrupellosen, investigativen Reportagen die wahre Identität des Falling Man immer noch ein Rätsel bleibt.

Ich frage mich, ob wir ein Jahrzehnt später, in einer Welt, in der wir einen Großteil unserer Zeit im großen Panoptikum des Internets verbringen, nicht längst einen Namen für dieses unbekannte, tragische Symbol ermittelt hätten. Wenn 9/11 heute geschähe, gäbe es dann noch immer ein Geheimnis um den Falling Man?

Wir wissen nicht, ob Briley in seinen letzten Minuten überhaupt seine Familie oder Freunde angerufen oder ihnen geschrieben hat. Heutzutage wäre Briley mit recht großer Wahrscheinlichkeit bei Facebook oder Twitter eingeloggt und hätte seinen Status möglicherweise sogar inmitten der um sich greifenden Panik noch aktualisiert. Es macht mich wütend und traurig, dass wir über die letzten Minuten von Briley nie etwas erfahren werden.

Die ernüchternde Wirklichkeit ist, dass wir trotz aller sozialen Netzwerke niemandem zu Hilfe kommen können, der hunderte Meter über der Erde in einem brennenden Hochhaus gefangen und eingeschlossen ist—inmitten einer klaffenden Wunde, die die gekidnappten Passagierflugzeuge im World Trade Center hinterlassen haben.

In Echtzeit durch eine schreckliche Sintflut digitaler Katastrophenmeldungen zu waten, könnte aber dennoch relevante Informationen zu Tage fördern. Wir könnte die Statusupdates mit den Zeitpunkten der letzten Minuten anderer menschlicher Schicksale abgleichen und so tiefere Einblick in die persönliche Dimension des Ereignisses erlangen.

Die beiden jüngsten  Aufstände in London und Vancouver sind nur zwei eindringliche Beispiele, die die unglaubliche Macht aufzeigen, die Schwarmintelligenz und soziale Netzwerke bei der Ermittlung unbekannter Identitäten spielen kann. In beiden Fällen bastelten Programmierer, Hacker und gleichermaßen die Polizei digitale Suchwerkzeuge und ermittelten in Foren, um den auf Kamera gebannten Gesichtern von Plünderern Namen zu geben. Das geschah natürlich im Namen der Gerechtigkeit—oder des öffentlichen Prangers.

Dank Social Media ist es 13 Jahre nach 9/11 vielleicht leichter geworden, ein Bild außerhalb der Mainstreampresse zu verbreiten. Aber könnte die Internetgemeinde heute den Falling Man identifizieren?

Ob wir das überhaupt wollen, vermag ich nicht zu beurteilen. Vielleicht würde es uns helfen, dem Schrecken ein Gesicht zu geben. Vielleicht wäre es geschmacklos, voyeuristisch und unwürdig.

Drews Falling Man wird vermutlich für immer die eindrucksvollste Metapher für all jene bleiben, die an diesem furchtbaren Tag dazu gezwungen wurden in den sicheren Tod zu springen.

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 11. September 2011 auf der englischen Motherboard Seite.