Eine Kurzgeschichte aus der Fiction Issue 2015
Als ich 19 Jahre alt war, bekam ich einen Brief von Klaus Wouters. Er arbeitete als Handwerker und Musiklehrer für Silver Springs, eine Schule für verhaltensauffällige Kinder in den San Gabriel Mountains nördlich von Los Angeles. Er wusste (oder erriet), dass ich noch in Südkalifornien lebte. Er erzählte, ein behinderter Junge namens John Cressey sei verschwunden. Er erinnere sich daran, dass John und ich befreundet gewesen seien. Er schlug vor, sich Sonntags zum Essen zu treffen, doch er habe kein Auto zur Verfügung.
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Ich hatte nicht damit gerechnet, jemals wieder von Klaus oder sonst jemandem aus Silver Springs zu hören. Mit dem Brief kam die Erinnerung, wie Rudy, der Betreuer, mein Gesicht in den rotzfeuchten Teppich rieb, sein Knie in meinen Rücken drückte und mir ins Ohr flüsterte, dass er mich liebe und ich, wenn ich nicht mit dem Egotrip aufhören und mich meinen Gefühlen öffnen würde, ganz sicher AIDS kriegen und in der Gosse verrecken würde.
Doch Klaus hatte sich meiner angenommen. Ich hatte ihm beschämende und peinliche Dinge erzählt, Dinge, die ich am liebsten aus dem Gedächtnis des Universums streichen wollte. Vielleicht hatte ich das Gefühl, ihm etwas schuldig zu sein. Am folgenden Sonntag lieh ich mir ein Auto und fuhr hoch nach Little Eagleneck Village.
Als ich vor dem Blockhüttenrestaurant hielt, sah ich Klaus auf der Veranda. Er trug eine gefranste, gelbbraune Jacke, die ich nicht an ihm kannte, wie eine Cowboy- oder Westernjacke, und starrte ausdruckslos in die Ferne. Ein Anflug von Angst überkam mich. Ich war sicher, dass ich einen Fehler beging. Ich wollte wieder fahren, doch Klaus hatte mich schon gesehen und kam aufs Auto zu.
Er blickte kurz zum Restaurant zurück und die Straße hoch, als wolle er schauen, ob ihn jemand beobachtete, öffnete die Tür und stieg ein.
„Lass uns nicht hier essen”, sagte er und deutete auf das rustikale Restaurant. Er wirkte kleiner und dicker, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er trug weite Jeans und ein senfgelbes Hemd. Seine Wangen waren rosig, das zurückgekämmte Haar sammelte sich in seinem Nacken zu Locken. Ich konnte die Wildlederjacke riechen und noch etwas, vielleicht Haaröl.
Ich fragte, wohin er wolle. Er sagte, es sei ihm gleich, er esse fast alles. Er erinnere sich an ein gutes Burgerrestaurant im Valley, doch der Name fiel ihm nicht mehr ein. Vielleicht Pop’s oder Happy’s.
Ich schob eine Kassette rein. Die Straße wand sich ins Vorland hinunter und erreichte die Kreuzung mit der alten Route 66. „Hier links”, sagte Klaus und meinte damit nach Osten, Richtung Wüste. Ich fing an, mich vor dem leeren Schweigen zu grausen, das vor uns lag. Klaus sah immer wieder in den Außenspiegel und ich hatte den seltsamen Eindruck, dass er den grauen Minivan beobachtete, der sich hinter uns eingeordnet hatte.
Wir erreichten das Stadtgebiet von Casterly und Klaus meinte, sich an ein Restaurant in der Form eines Bootes zu erinnern. „In so einem Restaurant zu essen hab ich mir immer interessant vorgestellt”, sagte er. Als wir auf dem Highway das Stadtzentrum erreichten, fragte ich nach dem Namen des Restaurants. Klaus schüttelte den Kopf: „Du kannst es nicht verfehlen”, sagte er. „Es ist riesengroß und blau.”
„Fahr hier links hoch”, schlug er vor. Kein bootsförmiges Restaurant weit und breit. Am Ende hatten wir ein Casa Dinero und ein Steakrestaurant in einem Lehmziegelhaus zur Auswahl. Das Casa Dinero war geschlossen.
Wir saßen uns in der Tischnische gegenüber. Klaus bestellte den Garnelenkorb und ich nahm einen Burger mit Pommes. Das Essen war köstlich. Klaus tauchte seine Garnelen zuerst in die Cocktailsoße und dann in die Remoulade und hielt dabei seinen guten Arm ein wenig über dem Tisch, damit sein Jackenärmel nicht im Essen landete. Er biss die Garnelen am Schwanzende ab; sein Schnurrbart bewegte sich beim Kauen auf und ab und er grunzte sanft vor Zufriedenheit. Als er fertig war, rief er die Kellnerin und bestellte einen zweiten Korb und fragte, ob ich noch einen Burger wolle; das Essen gehe auf ihn, sagte er, auch das Trinkgeld.
„Was ist mit John Cressey passiert?”, fragte ich.
Klaus sah mich mit von schweren Lidern gerahmten Augen an und kaute eine Weile weiter. „Die haben da oben jetzt einen Seelenklempner”, sagte er, als ob das irgendwie Cresseys unbekanntes Schicksal erklärte. Ich wusste, dass Klaus Seelenklempner hasste und fürchtete. „Ich würde gern glauben”, sagte er, „dass John nichts zugestoßen ist. Vielleicht kannte er Leute, die ihn da rausgeholt haben.” Der letzte Satz ging mir unter die Haut.
Dann fing er an, Geschichten aus der Zeitung von vor ein paar Jahren zu erzählen. Ein Wanderer habe in einer Schlucht am Lake Elsinore Knochen gefunden. Ein Kieferknochen mit Zahnspange dran sei dabei gewesen. Sie hätten gedacht, es habe vielleicht etwas mit dem Jungen zu tun, der in den 70ern verschwunden war. Doch als sie die Knochen Tests unterzogen hätten, hätten sie festgestellt, dass sie von einem Mädchen waren. „Natürlich”, fügte Klaus hinzu, „hat das nichts mit John zu tun.”
Er bestellte einen Brownie-Eisbecher mit Vanilleeis. Als er von der Toilette zurückkam, bemerkte ich, dass er spitze schwarze Stiefel trug und dass seine Füße ungewöhnlich klein waren. Er grinste breit.
Draußen war es in den spätnachmittäglichen Schatten kühler geworden und ich zog den Reißverschluss meiner Kapuzenjacke hoch. Klaus wirkte von der Mahlzeit gestärkt und von der frischen Luft belebt.
Er meinte, wir sollten weiter ostwärts auf der Route 66 fahren und etwas von der Wüste sehen. Ich fragte, ob das nicht mehr oder weniger schon die Wüste sei.
„Nein, ich meine die richtige Wüste.” Er wollte Kakteen und Yucca-Bäume und Reihen von hohen, dünnen Palmen, die sich bis zum weißen Horizont erstreckten. „Ein Ort, an dem du deine Stiefel ausklopfen musst, weil ein Skorpion drin sein könnte.”
Ich sagte, wir hätten keine Karte dabei und vielleicht sollten wir besser ein andermal fahren. Er sagte, wir müssten einfach nur immer nach Osten fahren. Ich war auch noch nie in der Wüste gewesen, doch ich sagte Klaus, die Sonne gehe bald unter und wir würden es auf dem alten Highway niemals vor Sonnenuntergang schaffen. Er stimmte zu, der Freeway sei besser.
„Es ist noch lange nicht dunkel. Wir sind im Handumdrehn dort.”
Auf dem Freeway schob ich eine Grateful-Dead-Kassette rein, eine Liveaufnahme von einem Konzert aus den 70ern.
„Ich erinnere mich an diese Musik”, sagte Klaus. „Darin konnte man sich verlieren.”
Er strich immer wieder sein Hemd über dem Bauch glatt. Wenige Minuten darauf bat er mich, rechts ranzufahren.
„Klaus”, sagte ich, „was ist los?”
„Schmerzen. Schlimme Schmerzen.” Sein Gesicht hatte eine grünliche Farbe bekommen.
„Wo hast du Schmerzen, Klaus?”
„Bauchkrämpfe.”
Ich fuhr an der nächsten Ausfahrt raus und hielt auf dem Seitenstreifen. Als das Auto stehen blieb, hörte ich, dass er leise stöhnte.
„Brauchst du einen Krankenwagen? Soll ich Hilfe holen?”
Klaus schüttelte den Kopf und öffnete die Tür. Ich stieg aus und ging auf seine Seite rüber, um ihm zu helfen, falls er brechen musste. Doch stattdessen setzte er sich auf die Rückbank. Er legte sich auf verirrte Papiere, Kleidung, Kassetten und CD-Hüllen. Er hatte die Knie gebeugt und seine kleinen spitzen Stiefel ruhten auf dem Sitz.
Ich beobachtete ihn eine Minute lang.
„Du brauchst einen Arzt, Klaus”, sagte ich.
Ich befürchtete, dass er Durchfall bekommen würde. Es gab in der Gegend nicht viel; entlang einer Anliegerstraße konnte ich ein niedriges weißes Gebäude sehen, vielleicht eine Raststätte oder ein kleines Lagerhaus.
„Fahr weiter”, sagte Klaus. „Bewegung ist das Beste.”
Als ich den Motor anwarf, sagte ich, ich würde ihn nach Hause bringen.
„Die Wüste”, sagte Klaus. „Wir werden die Wüste sehen. Ist schon in Ordnung. Ich kenne das hier.”
„Wir schaffen es nicht rechtzeitig”, sagte ich. „Wir müssen zurück.”
„Es ist noch genug Licht”, sagte er.
Es klang auf absurde Art schicksalsergeben, wie ein letzter Wunsch, und plötzlich machte ich mir Sorgen, dass niemand seine Leiche abholen würde, falls er hier draußen starb. Ich fuhr mit leerem Beifahrersitz, Klaus lag hinten wie ein Patient. Das Tal öffnete sich vor uns.
„Ich erinnere mich an solche Fahrten”, sagte Klaus. Er erklärte, er sei in einem Präriestädtchen aufgewachsen, und wenn die Sommerhitze erdrückend wurde, habe seine Mutter ihn und seine Schwester Gerthe auf lange Fahrten durch die Lösshügel mitgenommen. „Wir saßen zu dritt vorne und hatten trotzdem jede Menge Platz. Damals trug niemand einen Gurt.” Einmal, sagte er, hätten sie an einem Touristenmotel gehalten, das einen Pool und eine dieselbetriebene Eisenbahn hatte, mit der man um das Motel fahren konnte. „Das war der Sommer, nachdem ich aus dem Krankenhaus kam.”
Und dann fügte er hinzu: „Es sind alles einfach nur Bilder, stimmt’s?”
Dann wurde er still. Wir fuhren an der Ausfahrt von Banning vorbei. Dämmerung legte sich über die Landschaft. Ich glaubte, Klaus würde schlafen, doch als er fortfuhr, merkte ich, dass er hellwach war.
„Ich war fünf”, sagte er, „und ich dachte, ich würde nie wieder nach Hause dürfen. Ich steckte in einer eisernen Lunge und sie sagten mir, sie würden mich vielleicht nie mehr rauslassen. Sie haben vorne einen kleinen Spiegel dran gemacht, damit ich hinter mich sehen konnte. Ich konnte sehen, wenn Leute das Zimmer betraten und verließen.”
Das sei 1952 gewesen, erklärte Klaus. Ich hatte noch nie gehört, dass er von seiner Krankheit sprach. Ich erinnerte mich, wie Klaus beim Gitarrenspiel den Hals mit seiner guten Hand hielt und die Bünde mit stumpfen, starken Fingern griff, während er mit seiner behinderten Hand die Saiten schlug; er verwendete dabei die dicken, bräunlichen Nägel an Daumen und Zeigefinger.
Er sagte, seine Erinnerungen an jene Jahre seien durchzogen vom Klang von Hochwassersirenen und Tornadosirenen und einem Song namens „Young Lovers”, der sich in einer Tour auf dem Plattenspieler seiner Schwester Gerthe drehte.
***
Ich musste pinkeln. Ich sah eine Ansammlung von Lichtern in der Ferne und noch näher auf der linken Seite eine Tankstelle, die ins Dunkel strahlte. Als ich die nächste Ausfahrt nahm, fand ich mich in einer Einbahnstraße wieder, die uns von der Tankstelle fortführte, doch ich fuhr weiter, denn ich hoffte, so nah am Freeway eine weitere Tankstelle oder einen McDonald’s zu finden.
Die Straße endete in einer Sackgasse an einem hohen Maschendrahtzaun. Es sah aus wie die Abgrenzung eines kleinen Flughafens oder eines Gefängnisses, doch ich konnte keine Gebäude sehen, nur ein dunkles und offensichtlich riesiges Grundstück. Ich bog links ab. Die Straße führte durch eine kleine Siedlung oder ein Dorf, in dem alles geschlossen war, und dann sah es so aus, als seien wir endgültig draußen auf dem Land. Schließlich fuhr ich rechts ran und stieg aus, um in einen Graben zu pinkeln. Klaus sagte: „Lass uns noch nicht anhalten. Ich muss noch ein bisschen fahren.” Der Mond schien hell und im Laufe des ausgiebigen Wasserlassens gewöhnten sich meine Augen an die Landschaft und ich sah schwarze Formen, die sich krumm dem Mondlicht entgegenreckten—Bäume wie Seelen, wie uralte oder bestrafte Seelen bei Dante, aufgereiht bis ans Ende meines Sichtfelds.
„Klaus, das musst du dir ansehen”, sagte ich, als ich wieder im Auto saß. „Ich glaube, das ist die Wüste, die richtige Wüste.”
„Aber jetzt bin ich müde”, sagte Klaus aus der Dunkelheit der Rückbank.
„Du willst die Wüste nicht sehen?”
„Ich seh’ sie ja morgen früh.”
„Was meinst du?”
„Wir sind bestimmt durch halb Kalifornien gefahren. Wir sind bestimmt schon auf halber Strecke nach Phoenix.”
Es fühlte sich tatsächlich unglaublich spät an, doch als ich das Auto anließ und wieder auf die Straße fuhr, zeigte die Uhr auf dem Armaturenbrett nicht mal zehn.
„Wir schaffen es heute Nacht nicht mehr zurück”, sagte Klaus. „So viel steht fest.”
„Ich glaube nicht, dass das ein Problem wird. Wir müssen einfach nur den Freeway finden.”
„Um diese Zeit sind zu viele Bullen auf der Straße. Du hast sie nicht gesehen, ich schon.”
Etwas huschte durchs Scheinwerferlicht, ich trat auf die Bremse und das Auto brach auf die Gegenfahrbahn aus. Ich schwenkte zurück und wusste, dass ich das Tier, ein Kaninchen oder einen Hasen, verfehlt hatte, doch plötzlich sah ich im Scheinwerferkegel einen Jungen auf dem Schotter des Seitenstreifens stehen. Ein Blinzeln und wir waren an ihm vorbei. Ich fuhr langsamer. Ich war fest überzeugt, dass ich ihn in diesem Blitzlichtmoment gesehen hatte, ohne Hemd und barfuß, mit blondem Bürstenschnitt und einer Narbe quer über der Brust. Ich hielt an und blickte zurück. Klaus hatte sich aufgesetzt und sah ebenfalls durchs Heckfenster. Ich dachte, wir würden beide den Jungen auf dem Seitenstreifen suchen, und wollte etwas sagen, als ich merkte, dass er auf ein Paar Scheinwerfer in der Ferne sah. Es war schwer zu sagen, wie weit hinter uns sie waren, doch sie schienen nicht näher zu kommen, als hätten sie ebenfalls angehalten.
„Wer ist das?”, sagte ich.
„Die?”, sagte Klaus. „Das ist die Familie Grey.”
Ich wusste nicht, was er meinte, und dachte kurz, dass ich dabei war, verrückt zu werden—doch dann lachte Klaus, hustend und prustend, und ich verstand, dass er nur gescherzt hatte.
Wir näherten uns einem Geschäftsviertel, mit einem Fastfoodrestaurant und ein paar Motels. Ich wusste, dass der Freeway nicht weit sein konnte und wir nach dem Weg fragen konnten. Doch Klaus sagte, wir sollten in einem Motel übernachten. „Ich muss für heute langsam Schluss machen.” Er sagte, er würde das Zimmer bezahlen—zwei Zimmer, wenn nötig.
Ich sagte: „Musst du nicht zurück zur Schule? Musst du morgen nicht arbeiten?”
„Kann sein, dass ich mit dieser Schule fertig bin”, sagte Klaus nach einer Pause. „Sie stellen auf das medizinische Modell um.”
Wir hatten die Wahl zwischen dem Desert Palms Motel und dem Desert Oasis Motel. Vielleicht hießen sie auch nicht so, aber sie hießen auf jeden Fall so ähnlich, und das Motel, das ich wählte (das Desert Palms), warb mit einem neonblauen Schild, dass umrahmt war von gelben Glühbirnen. Ich parkte unter dem Überdach und sah, dass die Tankanzeige auf leer stand. Als ich ausstieg und Klaus mir nicht folgte, ging ich ohne ihn in die Lobby. Ich konnte mir schon vorstellen, was passieren würde. Ich bezahlte das Zimmer in bar. Als ich das Formular ausfüllte, wusste ich das Autokennzeichen nicht und ging hinaus, um nachzusehen. Klaus saß aufrecht auf der Rückbank. Er winkte, als er mich sah.
Wir fuhren um die Ecke und ich parkte vor unserem Zimmer. Es standen nur zwei oder drei andere Autos auf dem Parkplatz.
„Wenigstens haben wir einen Ort, wo wir die Beine ausstrecken können”, sagte Klaus, als ich die Tür aufsperrte. Er sprach, als seien wir Landstreicher oder bis auf die Knochen erschöpfte Pilger. Das Zimmer war ein Raucherzimmer und roch auch so. Es gab zwei Betten. Ich machte das Licht an und stellte das Rädchen der Klimaanlage auf „Ventilator”. Klaus saß auf dem Bett am Fenster. Er klopfte die Bettdecke, schüttelte die Kissen auf. Er öffnete die Nachttischschublade und holte die Gideonbibel heraus und inspizierte die Buchdeckel, als habe er noch nie eine gesehen. Ich lag mit Schuhen auf dem anderen Bett und sah zu, wie Klaus seine Westernjacke auszog und sie ordentlich in den kleinen Einbauschrank hängte. Meine Wohnung, dachte ich, konnte nicht mehr als ein paar Stunden westlich von hier sein. Ich könnte ganz leicht bis Mitternacht dort sein und in meinem eigenen Bett liegen. Ich war kein bisschen müde. Doch Klaus schien mit der Situation zufrieden zu sein. Ich wusste immer noch nicht, wo er normalerweise wohnte.
„Keine Zahnbürsten”, sagte er, als er aus dem Bad kam. „Früher haben sie einem diese kleinen Zahnbürsten hingelegt.” Er überlegte laut, ob es wohl in der Nähe so etwas zu kaufen gäbe.
Ich bot an, uns Toilettenartikel zu suchen. „Ach, egal”, sagte er. Dann änderte er seine Meinung und meinte, das sei eine gute Idee. Er holte einen dicken braunen Geldbeutel heraus. Er spähte hinein und schien ein wenig zu suchen. Dann zog er einen lapprigen Geldschein heraus und überreichte ihn mir feierlich. Es war ein Zehner. Als ich das Zimmer verließ, zog Klaus seine Hose aus. Ich hoffte, dass er vorhatte, auf die Toilette zu gehen.
Draußen in der Nacht sah ich ein kleines Stück die Straße runter einen Minimarkt und beschloss, zu Fuß zu gehen. Ich holte die Zahnbürsten, eine Reisetube Zahnpasta und ein Fläschchen Mundwasser. Ich nahm außerdem etwas Dörrfleisch, eine Tüte Erdnüsse und eine kleine Flasche Orangensaft mit. Dann fiel mir Klaus ein und ich holte von allem noch eins. Als ich an der Kasse stand, bemerkte ich zwei ungewöhnliche Männer, die langsam vom hinteren Ende des Ladens zum Ausgang liefen. Sie trugen dunkle Anzüge und Scheitelkäppchen und hatten lange rötliche Bärte. Der kleinere Mann war blind und tastete mit seinem Stock über den Boden, während der größere Mann ihn am Ellbogen führte. Ich fragte mich, ob es amische Kolonien in der Wüste gab.
Ich saß auf einer Bank in der Nähe der Lobby, aß Dörrfleisch und Erdnüsse und rauchte danach eine Zigarette und sah den wenigen Autos nach. Als ich zum Zimmer zurückkehrte, schaute ich durch die Lücke im Vorhang. Ich konnte Klaus auf dem Bett sehen. Fernsehlicht flackerte über sein Gesicht und seine Arme. Ich versuchte, die Tür leise zu öffnen. Das Zimmer roch dunstig und ein MTV-Moderator plapperte. Ein Badehandtuch hing überm Stuhlrücken. Klaus’ Kleidung war ordentlich auf dem runden Tisch zusammengelegt. Ich stellte meine Einkäufe auf den Sekretär und sah verstohlen zu Klaus. Ich beobachtete seine Augenlider. Ich konnte nicht beurteilen, ob er schlief oder nur so tat. Ich zog meine Schuhe aus, schlug die Decke zurück und legte mich angezogen hin. Ich sah eine Weile MTV und musste eingedöst sein, denn ich fand mich in einem unangenehmen Telefonat mit der Rezeptionistin wieder, die mir erklären wollte, dass etwas mit dem Badezimmer nicht in Ordnung sei und dass ich es nicht betreten solle. „Mein Bad? Was stimmt damit nicht?”, verlangte ich zu wissen. „Es ist behindert”, sagte die Rezeptionistin, und ich wusste nicht, ob sie meinte, dass das Bad für Behinderte reserviert sei oder dass es selbst behindert war. Dann wurde mir klar, dass ich beide Seiten dieser Unterhaltung kontrollierte, dass ich geträumt hatte und nun nicht mehr träumte. Im Fernsehen lief ein Video von den Cranberries. Ich blickte zu Klaus: Er hatte sich auf den Bauch gedreht, sein Gesicht war zum Fenster gewandt. Ich stand auf und machte den Fernseher aus. Dann versuchte ich, wieder einzuschlafen—doch ich kannte dieses unruhige Gefühl und wusste, dass ich nicht schlafen können würde. Also schlich ich aus dem Zimmer und versuchte, den Türriegel so leise wie möglich zu schließen. Draußen in der Nacht sein fühlte sich besser an. Der Pool war beleuchtet und das Wasser angenehm warm, als ich meine Hand hinein tauchte. Urplötzlich war ich von einer dringlichen Geilheit erfüllt—vielleicht war es auch Euphorie, doch ich drückte meine Zigarette aus, zog mich nackt aus und ließ mich ins Wasser gleiten. Ich atmete langsam aus und sank, bis ich am Grund kauerte. Dann stieß ich mich ab und brach durch die Oberfläche, das Chlorwasser aus Haar und Augen schüttelnd. Ich paddelte die Länge des Pools auf und ab und hielt dabei an, um den Kopf zurückzulegen und über die unfassbare, zerbrechliche Vielzahl von Sternen zu staunen. Ist es traurig, dass dieser Moment eine der wahrhaft erotischsten Erfahrungen meines Lebens war? Nicht nur bis zu jenem Zeitpunkt, sondern überhaupt je?
Ich wrang meine Haare aus, trocknete mich mit meinen Boxershorts ab und zog dann meine Jeans, mein Hemd, meine Kapuzenjacke, Socken und Schuhe wieder an. Ich lag auf einer Plastikliege und rauchte eine Zigarette. Wieder an der Zimmertür, merkte ich, dass ich meinen Schlüssel nicht hatte.
Durch die Lücke im Vorhang konnte ich kaum etwas sehen. Ich klopfte sanft ans Fenster.
Ich wartete und lauschte. Ich wollte Klaus nicht wecken, aber klopfte trotzdem noch mal. Dann ging ich all meine Taschen durch und fand den Schlüssel in meiner Kapuzenjacke.
Als ich hineinging, spielte der Fernseher leise ein Video von Alanis Morissette. „Ich wünschte, sie würden das immer und immer wieder senden”, sagte Klaus. „Die Musik ist heute besser als früher. Irgendwie. Die Produktionsqualität ist besser.”
„Bist du nicht müde, Klaus?”, sagte ich. „Willst du nicht mehr schlafen?” Ich stand auf und machte die Vorhänge zu und legte mich wieder ins Bett.
Er schüttete sich Erdnüsse in die Hand, warf sie in den Mund, kaute und zuckte die Schultern.
„Wir könnten zurückfahren”, sagte er. „Ich weiß, du willst wahrscheinlich zurück.”
„Du meinst jetzt?”
Er zuckte wieder die Schultern. Er sagte, er fühle sich erholt. Er habe nur den Kopf freibekommen müssen. Er sagte, er fühle sich gut, er könne das Fahren übernehmen, wenn ich das wolle.
„Hast du einen Führerschein?”
„Ist schon OK”, sagte er. „Ich bin ein ziemlich guter Fahrer.”
„Klaus”, sagte ich. „Was hast du vor? Wenn du nicht wieder zur Schule zurückgehst?”
Er überlege, sagte er, sich wieder der Bewegung anzuschließen. Es gäbe einige Leute, mit denen er wieder Kontakt aufnehmen könne.
„Leute aus San Francisco?”
Er antwortete nicht. Dann sagte er: „Ich hab gehört, in Deutschland passiert viel. Jetzt, nach dem Eisernen Vorhang. In Europa werden Dinge passieren. Viele Leute werden Hilfe brauchen.” Er fragte, ob ich je in Europa gewesen sei. Ich könne ihn begleiten, sagte er. Wir würden bald abreisen müssen. Alles sei im Begriff, sich zu öffnen.
„Klaus”, sagte ich. „Weißt du noch, wie du ‚Puff, the Magic Dragon’ gespielt hast?”
„Welches Mal?”
„Beim Sprechkreis”, sagte ich.
An der Schule gab es eine runde Grube im Kaminzimmer, mit zwei Stufen nach unten, wie ein Amphitheater, mit orangefarbenem Teppich. Wir setzten uns dort zur Gruppentherapie zusammen, dem sogenannten Sprechkreis. Wir mussten schreien und theatralisch weinen, einander anfeinden und zurechtweisen. Rudy, der Betreuer, beschwor unsere kindlichen Ichs herauf; er enthüllte Informationen, die er angeblich von unseren Eltern hatte.
Im Sprechkreis sollten wir unsere eigene Lüge entlarven. Es musste etwas Pikantes und Verdrängtes sein, ein waschechtes Trauma. Alle mussten teilnehmen. Das Gefährlichste, das man in Silver Springs sagen konnte, war, dass man nicht verstand, warum man dort war. Also hielt ich einmal eine Tirade über einen älteren Cousin, eine Halloweenparty. Ich erfand Details über ein Dracula-Cape und Glitzer auf seiner Haut und die Plastikfangzähne. Ich benutzte den Namen eines echten Cousins—Jamie—und sagte, ich hätte Tage und Wochen später noch kleine Glitzerpartikel in meinem Bett gefunden. Ich schämte mich, Jamies Namen verwendet zu haben, und dachte, ich würde meinem Cousin nie wieder in die Augen sehen können.
Klaus schüttelte den Kopf. „Nicht beim Sprechkreis”.
„Doch, das hast du. Du hast oben auf den Stufen gesessen. Mit deiner Gitarre. Ich weiß es noch.”
Er lächelte. „Ich erinnere mich an das Lied. Ich hab es ab und zu gesungen. Aber nicht beim Sprechkreis.”
Ich blickte auf Klaus’ kleine Füße, seine stämmigen weißen Schenkel und seinen kräftigen Oberkörper, seine Arme, der eine stark und der andere verkümmert.
„Aber warum”, sagte ich, „wolltest du denn jemals überhaupt an so einem Ort arbeiten?”
Er dachte kurz nach. „Ich schätze, ich wollte auf der Seite der Underdogs sein. Bei denen, die Probleme hatten.”
„Aber Klaus”, sagte ich, „die Schule war das Problem. Sie war ein Witz. Ein Albtraum. Sie haben mir beigebracht, niemandem zu trauen.”
„Sie haben gesagt, ihr Kids wärt auf einem Angsttrip. Wir haben einen Liebestrip daraus gemacht.”