Wenn Vielseitigkeit das Kennzeichen des modernen Fußballspielers ist, dann ist Joshua Kimmich der Posterboy einer neuen Generation. Von den Bayern als defensiver Mittelfeldspieler geholt, hat er sich letzte Saison beim Rekordmeister als Innenverteidiger einen Namen gemacht, wurde dann bei der EM in Frankreich als Außenverteidiger eingesetzt, bis er diese Saison zum torgefährlichen Mittelfeldspieler mutierte, der in jedem zweiten Spiel für den FCB getroffen hat.
Dabei vergisst man schnell, dass Kimmich mit seinen 21 Jahren noch immer verdammt jung ist. Denn sein Metamorphose hat sich in weniger als 18 Monaten zugetragen. Dass Kimmich zu den aktuell begehrtesten Spielern in Europa zählt, zeigt auch, wie unfassbar schnell Dinge—und Spieler—sich bei den Topclubs entwickeln können (Stichwort Julian Weigl). Nur 14 Monate, nachdem der relativ unbekannte Kimmich sein Bundesligadebüt gab, hat er schon 51 Spiele auf dem Rücken. Und das nicht für irgendeinen Verein, sondern eben den, wo junge Spieler reihenweise untergehen. Und nicht nur seine Einsatzzeiten überraschten, auch seine Rolle im Team. Am letztjährigen Double hat er einen ordentlichen Anteil gehabt. Dazu gilt Kimmich als zukünftiger Hoffnungsträger und Leader einer Nationalmannschaft, der es beileibe nicht an großem Talent fehlt.
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Doch ein Blick auf Kimmichs Karriere lässt gleichzeitig jeden Fußballromantiker zynisch aufschnaufen. Denn die beiden einzigen Transfers in seiner Karriere tragen die Unterschrift von RB Leipzig und dem FC Bayern München. Der Name Kimmich zeigt nämlich auch, wie sehr das Geld im Fußball mittlerweile das Sagen hat.
Geboren wurde Kimmich 1995 in der baden-württembergischen Stadt Rottweil. Und bissig wie die berühmte Hundesorte, die nach der Stadt benannt ist, war Kimmich schon als ganz junger Spieler, der über sich selbst mal gesagt hat: „Ich wollte überall der Beste sein. Wenn ich ein Spiel verloren habe, habe ich immer geweint.” Doch Kimmich hatte nicht nur Ehrgeiz, sondern auch das nötige Talent, das bei seinem ersten Verein, dem VfB Stuttgart, schon früh erkannt wurde. Im Sommer 2013 wurde er als zweibester Nachwuchsspieler in der U-17-Klasse mit der Fritz-Walter-Medaille in Silber ausgezeichnet (Gold ging an Kevin Akpoguma, der heute bei Fortuna Düsseldorf spielt.) Die ehrgeizigen Verantwortlichen von RB Leipzig wurden auf den jungen Kimmich aufmerksam und fädelten ein Leihgeschäft über zwei Jahre ein. Schon damals setzte der Brauseclub auf junge Talente, die RB zum Aufstieg verhelfen sollten. Damals, das war 2013 und RB spielte noch in der dritten Liga. Der Plan der Sachsen ging auf. Leipzig stieg auf, angeführt von einem im Mittelfeld die Fäden ziehenden Kimmich.
Im Jahr darauf gab der Aufsteiger ein starkes Zweitligadebüt. Zwar schaffte Kimmich mit den Bullen nicht den direkten Durchmarsch, dafür bot er so gute Leistungen, dass die Bayern ihre Fühler ausstreckten und mit dem VfB, dem der Spieler noch immer gehörte, in Verhandlungen trat. Sieben Millionen Euro später wechselte Kimmich von Stuttgart nach München, wo er einen Vertrag über fünf Jahre unterschrieb.
Nun hätte man damals argumentieren können, dass Stuttgart ein ziemliches gutes Geschäft gemacht hat: Sieben Millionen für einen Spieler, der keine Minute bei ihren Profis gespielt hat. Einer, der aber so gar nicht amused war, war der neue Trainer der Schwaben, Alexander Zorniger. Denn der wusste am besten, was Stuttgart da durch die Lappen gegangen ist. Warum? Weil er Kimmich zuvor bei RB Leipzig trainiert hatte. Darum fiel seine Reaktion im Nachhinein auch ein bisschen—Achtung, Sprachwitz—zorniger aus: „Ich hätte gerne jeden einzelnen, der an dieser Entscheidung beteiligt war, umgebracht. Das war Selbstmord.”
Doch des einen Leid, des anderen Freud. Und Freude sollte Bayern schon sehr schnell haben. Denn als Pep Guardiola große Abwehrprobleme plagten, schmiss er den 20-jährigen Kimmich ins kalte Wasser.
Guardiola hat in seiner Vergangenheit als Trainer des FC Barcelona wiederholt junge Spieler in extrem erfolgreiche Mannschaften eingebaut und ihnen viel Vertrauen—und damit auch Verantwortung—geschenkt (man denke nur an Sergio Busquets oder Pedro Rodriguez). Und dasselbe Vertrauen sprach er als Bayern-Coach auch Kimmich aus, dessen fehlende Erfahrung als Innenverteidiger ihn nicht davon abhielt, just auf dieser Position starke Leistungen zu zeigen. „Nicht viele Trainer hätten den Mut gehabt, mich spielen zu lassen”, gab Kimmich selbst zu.
Während der EM hat ihn Löw dann zusammen mit Jonas Hector als Außenverteidiger eingesetzt. Seine starke Leistung—samt seiner Ausflüge nach vorne—ließ einige Kommentatoren einen kühnen Vergleich ziehen, den Kimmich selbst schnell runterspielte. „Philipp Lahm ist der beste Außenverteidiger der Welt”, protestierte er. „Ich habe nur einmal als rechter Außenverteidiger für Deutschland gespielt und gerade meine erste Bundesliga-Saison beendet. Natürlich höre ich solche Vergleiche gerne, aber sie machen keinen Sinn.” Anders sah das Hermann Gerland, Co-Trainer bei den Bayern: „Wenn Philipp in zwei Jahren aufhört, müssen wir uns keine Sorgen über seine Position machen. Joshua wird dann Bayerns neuer rechter Außenverteidiger.”
Es gab mal eine Zeit, als Vielseitigkeit häufig ein Kennzeichen mittelmäßiger Spieler war. Hans Dampf in allen Gassen hatte gegenüber den Spezialisten in der Regel das Nachsehen. Doch seitdem Guardiola das Cruyff’sche totaalvoetbaal-Prinzip wiederbelebt hat, ist die Tatsache, auf vielen Positionen einsetzbar zu sein, zu einem Wettbewerbsvorteil geworden. Darum sind es jetzt die Spezialisten, die sich immer häufiger auf der Bank wiederfinden, wie beispielsweise Hakan Calhanoglu oder Daniel Sturridge.
Wenn man weiß, dass Kimmichs Aufstieg unter Peps Ägide stattfand, sollte es auch keineswegs überraschen, dass seine wichtigste Eigenschaft seine gnadenlose Vielseitigkeit ist. Schließlich hat Guardiola als Trainer der Katalanen Spieler wie Yaya Touré, Sergio Busquets, Javier Mascherano und Rafael Marquez bald in der Abwehr, bald im Mittelfeld eingesetzt, während ein Xabi Alonso bei den Bayern kurzzeitig als Innenverteidiger neuerfunden wurde. Kimmich ist sich der taktischen Fortschritte bewusst, die er in den 12 Monaten unter Guardiola aufsaugen durfte. „Pep hat mir Räume auf dem Feld gezeigt, die mir nie in den Sinn gekommen wären”, meinte er mal.
„Er bringt absolut alles mit, ich liebe diesen Jungen”, war Guardiolas (typisch) überschwängliches Urteil über Kimmich in der letzten Saison. Und wer Angst hatte, dass Kimmich ohne seinen Mentor der Sprit ausgehen könnte, kann schon nach wenigen Spieltagen erleichtert aufatmen. Denn zu seiner Spielübersicht und dem guten taktischen Verständnis gesellt sich seit Neuestem auch noch ein veritabler Torriecher, dem neuen Bayern-Trainer Carlo Ancelotti sei Dank. Denn aktuell (!) spielt Kimmich weitaus offensiver—und schießt dabei Tor um Tor. Seine Erklärung: „Wir haben in unserem Angriffsspiel unter Ancelotti vielleicht mehr Freiheiten. Er vertraut unserer individuellen Qualität”, so Kimmich.
Und auch wenn Kimmich am Samstag gegen Dortmund nicht den besten Tag erwischt hat, seine Karriere—vorausgesetzt, ihm bleibt eine Verletzungsseuche à la Badstuber verschont—scheint vorgezeichnet. Wo genau, das wissen nur die Götter (oder sein Berater). Aber auf alle Fälle da, wo er eine Menge Titel gewinnen kann—und wird. Bleibt nur die Frage, auf welcher Position er am Ende seiner Karriere spielen wird. Bis auf die Rolle als Torwart ist ihm eigentlich alles zuzutrauen.
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