Der Tag, an dem die 90er starben – Woodstock ’99 war eine einzige Katastrophe

Woodstock war nicht einfach ein Hippie-Festival, es war das Hippie-Festival. Wer alt genug ist, Ronald Reagan oder Helmut Kohl auf einem Foto zu erkennen, hat zu “Woodstock” sofort lebhafte Bilder im Kopf: LSD, Nächstenliebe und Jimi Hendrix mit brennender Gitarre. Körnige Aufnahmen von Leuten, die diese taumelnden 60er-Jahre-Tanzbewegungen mit viel Fingergewackel machen. Diverse schreckliche Interpretationen des Konzepts “Hose”. Das Original-Woodstock, damals angepriesen als “An Aquarian Exposition: 3 Days of Peace & Music”, fand auf einer Milchfarm in den Catskill Mountains im Staat New York statt. Es war der bittersüße Anfang vom Ende der Gegenkultur der 1960er, bevor ihre größten Stars an Überdosen starben.

Woran wir definitiv nicht denken, wenn wir “Woodstock” hören: Kid Rock, der angezogen ist wie ein Zuhälter aus einem Blaxploitation-Film und sich durch eine besonders lange Version von “Bawitdaba” fuchtelt. Und dennoch bot sich Zuschauern dieser Anblick auf dem Woodstock ’99, der vermutlich bescheuertsten Version des Festivals – vielleicht war es sogar das bescheuertste Festival überhaupt.

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Schon 1979, 1989 und 1994 hatte man versucht, das Original-Woodstock von 1969 wiederaufleben zu lassen. 1999 war alles dabei, was kurz vor der Jahrtausendwende Rang und Nahmen hatte – also Creed, Insane Clown Posse, Jamiroquai und Bush. Statt einer Milchfarm in den Bergen diente ein baum- und damit schattenloser Luftwaffenstützpunkt aus Asphalt und Beton als Austragungsort. Verne Troyer, bekannt als “Mini-Me” aus Austin Powers, führte an einem der Tage durchs Programm. Eine Kerzen-Aktion, die während des Sets der Red Hot Chili Peppers stattfinden sollte, führte zu mehreren ausgewachsenen Bränden, die Anthony Kiedis mit Szenen aus Apocalypse Now verglich. Eine Pizza kostete 12 Dollar. Eigentlich sollte das Festival zum 30. Jubiläum von Woodstock ein Fest “des Friedens, der Liebe und des Glücks” werden, doch stattdessen nannten viele es “den Tag, an dem die 90er starben”.


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Aber das ist vielleicht doch ein bisschen unfair. Wenn Woodstock ’69 Dreh- und Angelpunkt der Jugendkultur der Nachkriegszeit ist, dann ist Woodstock ’99 doch wohl dasselbe, nur für die Generation X. Frieden, Liebe und Glück: Bereitschaftspolizei, Vergewaltigungen im Pit und eine werbelastige Live-Übertragung im Bezahlfernsehen. The Grateful Dead, Janis Joplin und Jefferson Airplane: Limp Bizkit, Kid Rock und Korn. Eindeutig dasselbe, nur eine Generation später. Das Woodstock von 1999 ist tatsächlich repräsentativ für den Spirit jenes Jahrzehnts – es war einfach nur ein fucking furchtbares Jahrzehnt.

Checken wir doch ein paar der Performances aus, die das so anschaulich wie möglich belegen:

Kid Rock

Wie bereits erwähnt, war Kid Rock “in the house”, denn es war der Höhepunkt der Rap-Rock-Ära. Das hier war kurz nach der Veröffentlichung seines Albums Devil Without a Cause und kurz bevor er Doppelplatin erreichte. Letztere Tatsache solltest du dir vor Augen halten, während du zusiehst, wie er mit Pelzmantel, Hut und Gehstock auf die Bühne stolziert – die er alle eigens zum Auf-die-Bühne-Stolzieren angelegt hat.

Dann macht er sich mit folgendem Move bereit für seinen Einsatz:

Und dann kündigt er sich mit diesem außergewöhnlichen Hühner-Manöver und ein paar Dampf-Fontänen an:

Im darauffolgenden Song “Bawitdaba” fordert er: “Get in the pit and try to love someone”, was Tausende junge weiße Männer zum Anlass nehmen, sich nackt zu machen und einander die Grütze aus dem Leib zu dreschen. Und da sage jetzt bitte noch mal einer, man hätte die Trump-Ära “niemals kommen sehen”.

Limp Bizkit

Wie kommt es eigentlich, dass Rap-Metal a) Künstler dazu bringt, sich einzubilden, dass ihre Songs wirklich lange Einleitungen brauchen und b) Zuhörer dazu bringt, ihre Titten rauszuholen? Ist Limp Bizkit sexy? Haben Menschen zu Limp Bizkit Sex? Na ja, weiter im Text.

Ist das hier nicht die Limp-Bizkit-igste Show, die Limp Bizkit jemals hingelegt haben? Leute crowdsurfen auf Spanplatten, die sie von der Bühne gerissen haben und die sie später verbrennen werden. Fred Durst schiebt einen Wutanfall über sein ausgefallendes Mic. Seine Darbietung der Strophen klingt buchstäblich wie meine Mutter, die sich über Rap lustig macht, den sie aus meinem Zimmer gehört hat. Als Durst dann mitkriegt, wie gefährlich der Pit inzwischen ist, und nicht den Arsch in der Hose hat, dazu eine ordentliche Ansage zu machen, ruft er die Crowd auf, “positive vibes” zu verbreiten, während er fast schon spöttisch über die Bühne springt und gestikuliert. Zu diesem Zeitpunkt waren Berichten zufolge aber auch schon Hopfen und Malz verloren. Die Welle gewaltverherrlichender Macho-Kultur kulminierte in mehreren Vergewaltigungen im Moshpit, ein Turm für Live-Übertragung wurde zerstört und 10.000 Menschen brauchten im Laufe des Festivals ärztliche Hilfe. Die 90er waren doch geil, oder? Dinge ernst nehmen oder gut aufpassen ist so was von uncool.

Lit

Wir haben uns schon mal eingehend mit Lit beschäftigt und 1999 schien wirklich das Jahr der ernstesten Pop-Punk-Band der USA gewesen zu sein. Beim Woodstock-Auftritt verzichtet Sänger A. Jay Popoff auf sein Markenzeichen (die weiße Weste) und performt stattdessen oben ohne. Beim Intro-Riff des Smash-Hits “My Own Worst Enemy” packt Popoff dazu noch Windmühlen-artige Bewegungen auf seiner Luftgitarre aus und entscheidet sich später dazu, sich ganz der anzüglichen Atmosphäre des Festivals (Stichwort: Titten im Publikum) hinzugeben. Er schraubt nämlich ein wenig an den Lyrics herum und singt: “… kick the living FUCK outta me!” Ein ganz schlimmer Finger!

Buckcherry

Zum Glück war ich 1999 noch keine Teenagerin, denn sonst hätte ich mit Sicherheit auf diese schmierige Kalifornien-Version von Ville Vallo mit “CHAOS”-Bauchtätowierung gestanden. Der Typ hat doch mit Sicherheit auch einen dieser aufblasbaren Riesenaliens im Zimmer stehen gehabt. Eigentlich keine Überraschung, dass Buckcherry mal mit Papa Roach und Avenged Sevenfold getourt haben, weil … Naja, schau sie dir doch an. Ihnen haftet eine Art From First To Last x AFI x Velvet Revolver-Vibe an, den ich nicht wirklich verstehe. Und ich glaube, dass Woodstock-Publikum hat das auch nicht getan. Das macht die ganze Sache ja so interessant. Sind Buckcherry etwa wirklich … gut?

Everclear

Was du hier siehst, sind fünf erwachsene Männer in ärmellosen Hemden inklusive schwarzen Krawatten, einer Reihe an unvorteilhaften Gesichtsbehaarungen und einer gehörigen Portion Butt-Rock. “Mann, das hier ist das Paradies!”, sagt Sänger Art Alexakis ganz ohne Ironie und mit dem Tonfall eines Familienhotel-Entertainers. “Da schau an! Frauen in Bikinis!” Ja. Ganz toll. Richtig wild. Anschließend fordert er das Publikum mehrmals ziemlich verzweifelt dazu auf, mit ihm nach Hause zu gehen, und erinnert dabei an einen kürzlich geschiedenen Vater, der nach ein paar Bierchen zu viel vor einer Kneipe ins Leere schreit.

Ich wünschte, ich wäre tot.

Creed

Immerhin ein Mensch versucht bei dieser gottverdammten Veranstaltung, den Glanz der vorhergegangenen Jahrzehnte zu erhalten. Leider muss das natürlich Creed-Frontman Scott Stapp mit seiner Grammy-gewinnenden Stimme sein, der zum wohl alternativsten Festival aller Zeiten in einem flatternden weißen Hemd, weiten Jeans und mit einer mustergültigen Charles-Manson-Frisur auftaucht. Wie das leidenschaftliche Stiefel-Stampfen zum Christenrock schon verrät, basiert die Faszination für den Sänger auf seiner Ehrlichkeit – und das (diesmal komplett angezogene) Publikum fährt voll drauf ab. Es schmeißt sogar Toilettenpapier! Und Scott Stapp wirft seine Mähne wie ein Pferd hin und her, dem etwas nicht passt! Er beugt sich beim Singen sogar mit einem Arm hinter dem Rücken nach vorne, so wie dein Chef es bei der Betriebsfeier mit der Karaokeband immer macht!

Creed tun mir tatsächlich ein wenig leid. Rein optisch und akustisch könnte man sie dem Grunge zuordnen, aber die Band war einfach ein paar Jahre zu spät dran. Außerdem sind sie doch ein wenig zu soft und brav, so wie dieser eine Typ aus der Schule, der damals zwar Nu Metal hörte, aber dann trotzdem immer mit seinen Eltern wandern ging. So kam es, dass die Fans von Creed alle einen Kinnbart tragen und die Band in ihrer Hochzeit immer mit Bush und Godsmack zusammenspielen musste.

Red Hot Chili Peppers

Während dieses Auftritts fangen Sachen an zu brennen. Wenn man bedenkt, dass das Lied eigentlich recht entspannt ist, überrascht dieser Umstand doch ziemlich. Noch überraschender ist eigentlich nur, dass sich selbst bei einem Song über die Isolation nach Drogenmissbrauch eine Frau dazu entscheidet, die Brüste rauszuholen. Überhaupt nicht überraschend ist hingegen der Typ, der besagter Frau auf die Titten starrt und dabei die Hand aufs Herz legt – so als ob er schwört, ein jungfräulicher Creep zu sein.

Das Aufnahmen von einem nackten Flea und einem fragwürdig angezogen John Frusciante, die die letzten Töne von “Under the Bridge” spielen, während im Hintergrund ein riesiges Feuer entzündet wird, ist schon recht prophetisch. Der Rest des Jahres hätte genauso gut nie passieren können. Ich meine, die Zeichen sind eindeutig. Anthony Kiedis mit blondiertem Haar. Chad Smith raucht, während er Schlagzeug spielt. Die Menge applaudiert, als ein unkontrolliertes Feuer vor der Bühne immer größer wird. Nicht wenige Leute wurden von der Gewalt beim Woodstock 1999 ordentlich mitgenommen, aber bei diesem Auftritt sehen wir dennoch nur eine Menschenmenge, die trotz drohender Gefahr jubelt und des puren Nihilismus wegen die Fäuste reckt – auf eine Art und Weise, die fast schon an Freude erinnert. Es wird niemals ein symbolischeres Bild für die 90er Jahre geben.

Korn

Alle Menschen im Publikum haben inzwischen Kinder.

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