A 10 – der Berliner Ring. Kaum eine Autobahn in Deutschland wird so stark von Auswärtsfahrern genutzt wie diese Umgehungsautobahn von Berlin. Egal ob Hansa ins verhasste Sachsen muss, Dynamo zu den Störchen düst, Nürnberg bei Union ranmuss oder Dortmund bei der Hertha spielt—alle fahren, wenn sie mit Bus oder Auto am Start sind, den Berliner Ring entlang.
Auf fast 200 Autobahnkilometern durch Brandenburg und ein kleines Stück Berlin habe ich mich auf die Jagd begeben, um zu prüfen, wer wo was hinterlassen hat. Wer klebt viel, wer klebt kreativ, wer überklebt wen? Und wie präsent agieren die Locals, also Hertha und Union? Allerdings kann dieser Bericht nur eine Momentaufnahme aus dem Frühling 2016 sein, denn geputzt und abgerissen wird ständig. Vorab, eine bessere und heterogenere Ultras-Sticker-Open-Air-Galerie habe ich noch nie gesehen, gerade was die Vielfalt betrifft. Und nicht nur deutsche Klebebildchen beherrschen die Parkplätze, Schengen sei Dank.
Videos by VICE
Schönefelder Kreuz Richtung Norden bis Dreieck Havelland – fast nur Ossis
Den östlichen Ring regieren ganz klar die ostdeutschen Vereine, wobei Hertha auch dort Flagge zeigt. Die Sektion Oderspree von Union Berlin hat ein paar Bombings an die Brücken- und Schallschutzwände geschmissen, sogar aktueller Kram prangt an einer Brücke.
Die Graffiti-Fraktion der alten Dame aus dem Olympiastadion hat sich teilweise mit Tags verewigt und gibt sich für Außenstehende nicht unbedingt zu erkennen. 71ers, FGB, DSB und HM lassen sich dann aber doch Hertha zuordnen, schließlich hängen diese Kürzel auch immer in der Ostkurve, Stichwort Hauptstadtmafia.
Bei den Aufklebern führen aber Hansa, Dynamo Dresden und Magdeburg, weit abgeschlagen folgen Cottbus und Halle. Ab und zu meldet sich der BFC, Jena fordert penetrant zum Erhalt seiner Südkurve auf. Tennis Borussia Berlin, Roter Stern Leipzig und Pauli gehören zu den Exoten, überraschen kann der Schwabensturm aus Stuttgart. Zwar sorgen die Sticker aus dem Ländle für Stirnrunzeln, aber das letzte Auswärtsspiel im Ostseestadion liegt gar nicht so weit zurück.
Vielleicht wollten die Schwaben aber auch nach dem Spiel in Cottbus noch schnell mal durch den wilden Osten ans Meer fahren, so nach dem Motto „Wenn wir schon mal da sind”. Oder irgendein Navi hat inklusive Fahrer total bei der Heimreise aus dem Olympiastadion versagt, Spontananfall von Ost-West-Schwäche, wer weiß das schon. Genug Schwaben-Bashing.
Ein paar Kiel-Aufkleber verwundern ebenfalls auf der östlichen Seite des Rings, aber wenn das Navi nach dem Auswärtsspiel in Cottbus den schnellsten Weg anzeigen soll, fahren eben auch die Störche den Ostring hoch. Die Kickers aus Offenbach kleben auch versteckt an ein paar Mülleimern, wohl eher ein Relikt aus besseren Offenbacher Zeiten.
Nicht untypisch fallen auch ein paar Polen-Kleber auf, vor allem Lech Poznan und Gornik Zabrze. Testspiele im Ausland haben für polnische Fans eben auch ihren Reiz. Oder einfach nur Urlaub gemacht. Oder von der Arbeit auf dem Weg nach Hause noch schnell was dagelassen.
Wie weit die Sticker-Kultur schon vorangeschritten ist, zeigen vor allem die in Bildern ausgedrückten Feindschaften der Vereine. Gerade Dresden scheint von der Ablehnung der Erzfeinde ja geradezu beflügelt worden zu sein, was die Motive ihrer Kleber betrifft. Mal filetiert ein sächsischer Fleischer, zu erkennen am bösen Ball auf der Trainingsjacke, einen Fisch, um zu demonstrieren, dass sich ganz Elbflorenz auf die Hansastadt Rostock vorbereitet hat. Ein Streetfighter oder Super Saiyajin in Dynamo-Farben zerschlägt die Kogge, oder ein Panzer, wieder garniert mit bösem Ball, überfährt das Logo vom FC Magdeburg.
Nicht zu vergessen, der Ninja, der ganz Cottbus kriegt, diesmal zu erkennen am Dynamo-D. Halle zertritt ebenfalls den FCM, allerdings zeugen Logo und Spruch, „Good Night Blue White”, nicht gerade von Innovation.
Weiter Richtung Norden und Dreieck Havelland begegnen mir Sticker von Eintracht Oranienburg, überklebt von der Unioner Szene Köpenick, Ekipa Krefeld on Tour und immer wieder Hansa, Dynamo und Union, wobei die Hanseaten sich auch gern mit Markern und Dose so richtig austoben, allerdings nur Tags.
Hotspot Raststätte Linumer Bruch
Nicht mehr ganz A10, aber auch nur einen Katzensprung entfernt, liegt die Raststätte Linumer Bruch. McDonald’s und eine Tankstelle verlocken sehr zum Halt, gerade wenn’s nicht mehr weit bis Berlin ist oder der beseelte Auswärtsfahrer dann, kaum hat er die Hauptstadt verlassen, doch noch mal pissen, kotzen oder fressen muss. Wer Richtung Nord, Nordwest muss, der kommt dort vorbei und das sieht jeder.
Gerade an den großen Laternenmasten herrscht ein regelrechter Kampf um die besten Plätze. Großflächig, bunt, aufwendig. Und wenn das nicht hilft, dann wird eben getaggt und gecrosst. Die Hauptrollen spielen wieder die üblichen Verdächtigen, also Hansa, Dynamo, Union, Hertha, Magdeburg, aber dort spielt sich auch Kiel mächtig auf, Cottbus zeigt Präsenz, sogar Pauli, Dortmund, der HSV, RB Leipzig, Anker Wismar, Kickers Offenbach und wieder ein Pole, dieses Mal Slask Wroclaw aus Breslau. A 10 und A 24 gelten eben als Transitstrecke.
Kleine Randnotiz: Diesmal zielt Hansa auf seine Erzfeinde, allerdings wollen die Rostocker gleich ein ganzes Volk aussperren. Für Küstenkinder hören sich jedoch Thüringer, Sachsen-Anhalter und Sachsen eben alle gleich an. Und Möwen mit Kogge-Goldkette können sowieso schlecht hören. Weitere Raritäten: ein Old-School-Kleber aus dem Plattenbau Rostock, Jubiläums-Union-Kleber und Crimark Union Berlin und dann eine Hertha-Rechnung. Deutsche Reichsbahn, die Ossi-Bahn hieß DR, plus Feuer gleich Hertha, darunter hängt der Spruch „Wir brennen für Hertha”. Kein Wunder, dass die Ost-Bahn nicht mehr fährt.
Außerdem finde ich zwei Raritäten: Ultras Crimmitschau, zweitklassiger Eishockeyclub aus Sachsen und Pritzwalker FHV, unterklassiger Fußball- und Hockeyverein in Brandenburg. Wer klebt, der lebt!
Westlicher Ring, Spandau Richtung Potsdam, die Wessis kommen
Zurück auf dem Ring Richtung Potsdam übernimmt plötzlich Hertha die Spitze, obwohl sich immer noch Hansa-Motive wie Insekten auf der Frontscheibe hartnäckig festgesetzt haben, das gilt auch für Dresden und Magdeburg.
Dazwischen ein paar selbstgebastelte Carl-Zeiss-Jena-Paketaufkleber, die immer noch die Südkurve zum Bleiben auffordern, und dann am Parkplatz Wolfslake erscheinen Bad Balkan Boys in Form der Bad Blue Boys. Eben schnell das FCH im wahrsten Sinne des Wortes ausgecrosst und schnell die eigene Botschaft da gelassen: Dinamo Zagreb 1986, dazu ein „U”, das faschistische Ustscha-Symbol. So werden Vorurteile bestätigt. Schade.
Ein Parkplatz weiter battlen sich Hertha, Hansa und Magdeburg, Rasenball will mit gar nicht mal so schlechten Motiven mitmischen, während die Mansfäller Knappen (Halle) auf einer Kogge die Muskeln spielen lassen. Der Parkplatz scheint irgendwie international beliebt zu sein. Während ein Pogon-Stettin-Aufkleber noch mutig gegen eine Hertha-Fahne kämpft, bestärkt ein Racing Club Strasbourg wohl eher die Fanfreundschaft der Harlekins von Hertha BSC und den Ultra Boys 90 aus Straßburg. Von einer weiteren Freundschaft zeugt der Cologne Hammers Sticker. West-Ham-Fans aus Köln pinkeln in den Brandenburger Wald und verteilen einen Aufkleber. Entweder zahlen die weniger für einen Flug von Berlin nach London als von Köln aus oder die Piloten haben in NRW gestreikt. Unerwartet: Steyr und Lübeck, doch noch gefunden: Union, Dresden und tatsächlich wieder Pauli.
Raststätte Michendorf bis Raststätte Am Fichtenplan – jeder gegen jeden
Spätestens ab der Raststätte Michendorf melden sich die alten Bundesländer an und teilen in alle Richtungen aus, die bisherigen Platzhirsche halten sich aber teilweise. Die völlig zugeklatschte Telefonzelle sieht wie eine Litfaßsäule aus und bekannt ist, wer dran ist. Zwar besetzen auch Ostvereine die Papierkörbe dort, aber das Hauptangriffsziel bleibt die Telefonzelle. So richtig in Erscheinung treten jetzt Chemnitz, Braunschweig, Nürnberg, Hannover, Schalke, Dortmund und auch Sachsen Leipzig.
Der BfC Dynamo begeistert mit einer Zigarettenschachtel-Optik, Dresden pflegt seine enge Fanfreundschaft mit Zwickau in Bud-Spencer-und-Terence-Hill-Manier und Braunschweig sieht Hannover-Fans eher als weibliches primäres Geschlechtsorgan. Ein wundervoller Sticker preist in erster Linie die dänischen Bierqualitäten von Faxe an, entpuppt sich aber als innovativer Weiterdreh von ACAB.
Ich lerne auch, wer die New School der Hooligans sein sollen: Braunschweig, Magdeburg, Waldhof Mannheim und Basel—aka die Achse des Bösen. Schalke denkt da lieber an den Nachwuchs und die Jungen Chaoten fangen mit Aufklebern noch Mal ganz von vorne an, wahrscheinlich von Sprühern angelernt. Back to the roots.
Weiter Richtung Dreieck Schönefeld finde ich tatsächlich Ulis Erben und damit Bayern-Fans und auch den EFFZEH Köln. Kurz vor dem Parkplatz Am Fichtenplan präsentiert sich Union Berlin mit einem fetten Bombing, bei näherer Betrachtung gesellt sich noch ein getaggtes HBSC und eine Hertha-Fahne mit Schablone gesprüht dazu. Auf dem Parkplatz macht Preußen Münster Alarm und mich grinst ein schön verarbeiteter Dynamo-Clown an, wahrscheinlich der sächsische Bruder vom Ostseekasper. Eine einzelne Arminia-Fahne beweist, dass Bielefeld doch existiert, der VfB Stuttgart blättert langsam ab und verschwindet und dann rattert die Lok aus Leipzig an mir vorbei und vergisst nicht zu betonen, dass sie mit Chemie Halle sehr gut kann. Dem FC Magdeburg gefällt das gar nicht und ganz im Abseits steht RB Leipzig in der Hannover(r)ecke, Braunschweig war also auch dort.
Ich weiß jetzt auch, dass es schon über 65 Jahre Grün Weiß Dessau gibt und dass die Supporter von Crystal Palace Holmesdale Fanatics Ultras heißen. Deutschlands Autobahnen zählen eben weltweit zu den besten. Das wissen auch Viertligisten aus Polen, wenn sie aus Hrubieszow kommen. Keine Ahnung, wo das liegt, aber Google Maps sagt fast schon in der Ukraine. Kurwa. Auf Wiedersehen und gute Fahrt, Ihr Claus Kleber.
Fazit: Den Berliner Autobahn-Ring beherrschen wenig überraschend nicht Hertha, Union oder der BFC, sondern die aktuellen Drittligisten. Außer bei den Bombings, da gewinnt die Hauptstadt eindeutig. Und beim S-Bahn-Ring.