„21 Maß pro Gruppe müsst ihr Trinken!“, begrüßt mich Jan-Ulrich Bittlinger, Präsident vom Verein gegen betrügerisches Einschenken (VGBE). „Je mehr Leute ihr seid, desto besser seht ihr danach aus“, rät er den Freiwilligen und lacht dabei herzlich, während er anfängt, die Anwesenden in Gruppen einzuteilen. Neben mir haben sich noch 30 weitere Freiwillige und 20 Vereinsmitglieder am Haupteingang des Oktoberfests vor dem gelben Toilettenhäuschen eingefunden. Wir sind bereit, um im Namen der bayrischen Bierkultur unsere Bürgerpflicht zu erfüllen. Egal, mit wie vielen Maß Bier wir es dabei aufnehmen müssen.
Uli händigt jeder Gruppe einen dicken Umschlag aus. Der Inhalt: Reservierungsarmbändchen und Biermarken für jeweils drei Zelte. Unser Auftrag heute Abend ist es zu kontrollieren, ob das Bier auch bis zum Eichstrich eingeschenkt wird oder ob die Wiesnwirte, erwartungsgemäß wie in den Vorjahren, betrügen, dass sich die Balken biegen. 100 Maß auf 13 der 14 großen Zelte verteilt werden heute Abend bei der „Volksausschankkontrolle“ bestellt, um ein repräsentatives Ergebnis zu erhalten. Jedes Jahr lädt der Traditionsverein seine Fans über Facebook ein, um so aus der traditionsreichen Einschankkontrolle auf dem Oktoberfest ein gesellschaftliches Ereignis zu machen. Das gehört alles zu den Umstrukturierungsplänen von Präsident Uli. Die ersten 100 Maß gehen heute auf Kosten des VGBE, alles natürlich im Sinne des Verbraucherschutzes, wie er betont.
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Unsere erste Station ist das Paulaner-Zelt „Winzerer Fähndl“. Eine eher unbeliebte Station unter den Vereinsmitgliedern. Die beliebtesten Zelte haben sie bereitwillig an ihre freiwilligen Helfer abgetreten. Aber man mache das hier ja nicht zum Spaß, betont Michaela spöttisch mit erhobenem Zeigefinger. Einen Spruch, den ich an diesem Abend noch oft hören sollte. Seit über 20 Jahren ist sie Mitglied im VGBE und in unserer Gruppe ist sie für die ehrenvolle Aufgabe des Messens zuständig.
Kaum im Zelt angekommen sind schon die ersten sieben Maß bestellt. Genau vier Minuten müssen wir jetzt warten, bis die offizielle Messung stattfinden darf und sich das Bier im Maßkrug gesetzt hat. Während Michaela sorgfältig das Maßband anlegt, um akribisch und mit ernstem Blick zu ermitteln, wie groß der Betrug dieses Jahr ausfällt, ziehen wir langsam Blicke auf uns. Hinter mir höre ich die stereotype Inkarnation des bayrischen Wirtshausgrantlers überrascht „Schaug a moi!“ ausrufen, was dessen Stammtischbruder mit einem entsetzten „Ja sog a moi, jetzt tun se schon die Maß messa!“ kommentiert. Kritisch beäugen die einheitlich gekleideten Männer mit grüner Trachtenjacke und Filzhut Michaelas Abmessvorgang.
Auch der Verein gegen betrügerisches Einschenken wurde noch bis vor einigen Jahren von solchen „Gaudi-Burschen“ regiert, wie Uli sie bezeichnet. Damals waren sie auf der Wiesn noch gern gesehen, auch bei den Wirten. Als Uli vor sieben Jahren Präsident wurde, wollte er, dass Schluss mit der Gaudi-Veranstaltung ist. Das stieß natürlich auf Widerstand bei den Alteingesessenen. Früher wurde er als Präsident noch zum offiziellen Wiesnanstich eingeladen. Doch seit er den Verein vom Spaßverein zum Verbraucherschutzverein umstrukturiert hat, und sie „stunk machen“, wie er es nennt, sind die Wiesnwirte nicht mehr gut auf ihn zu sprechen.
Irgendjemand drückt mir eine der abgemessenen Maßen mit den Worten „Wäre ja schade darum“ in die Hand. Die Krüge klirren und im Hintergrund wird bereits das erste „Prosit der Gemütlichkeit“ angestimmt. Michaelas Urteil zum Paulaner-Ausschank: „Echt gut, im Gegensatz zu anderen Zelten.“ Die Toleranz liegt zwischen 0,6 und 1,7 cm Einschankverlust (d.h. circa zwischen 0,04 und 0,12 Liter). So weit liegt die Biermenge unter dem Eichstrich, der den vollen Liter markiert. Michaela hält es für ihre Bürgerpflicht, als Münchnerin jedes Jahr den Einschank auf dem Oktoberfest zu kontrollieren: „Man muss ja auch was Ehrenamtliches machen.“ Das erscheint mir plausibel.
Nicht nur einfache Münchner so wie Michaela, sondern auch viele Prominente sind Mitglied im Verein, darunter auch der ehemalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber oder der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude. Fast 4000 Mitglieder aus aller Welt hat der Verein. Prominentes Ehrenmitglied wäre fast auch CSU-Politiker Günther Beckstein geworden, erzählt Vize-Präsident Till Reichert, während wir unser Bierchen trinken. Als dieser im Wahlkampf 2008 die schlechte Einschenkpraxis der Festzeltwirte mit den Worten „So wie die meistens eingeschenkt sind, kann man auch mit zwei Maß noch fahren“ mokierte, wollte man ihm beim VGBE augenblicklich die Ehrenmitgliedschaft aussprechen. Leider trat er dann aufgrund der unfairen Interpretation durch die Medien zurück, bevor es dazu kam, und lehnte die Ehrerbietung ab, bedauert Till.
Nach der ersten Maß fängt die Stimmung an, richtig gut zu werden. Uli packt Schnupftabak aus: „Den habe ich extra im Internet bestellt.“ Dreimal so stark wie der, den man auf dem Oktoberfest kriegt. Natürlich darf ich mir das nicht entgehen lassen. Während ich noch am Luftschnappen bin und sich die Anderen über meine Gesichtsfarbe lustig machen, verkündet Uli, es werde Zeit für eine Zweitmessung. Weitere sieben Maß werden bestellt. Diesmal schneidet das Zelt um einiges schlechter ab. Michaelas Urteil ist vernichtend, bis zu 2 cm Einschankverlust (0,14 Liter), das sei nicht zu tolerieren.
Ganz unerwartet handelt es sich beim VGBE trotz seines Status als bayrischer Traditionsverein um eine SPD-nahe Vereinigung. Gegründet wurde er bereits 1899 als „ernsthafter Verein für Arbeiter, die am Monatsende ihren Lohn versoffen haben“, erzählt Uli. Das war eine Zeit, in der in Bayern die Bierpreise noch staatlich festgelegt wurden und es in Bayern zu Massendemonstrationen kam, wenn die Regierung versuchte, sie zu erhöhen. Damals war es für den Gast aufgrund der Tonkrüge nur schwer ersichtlich, wie viel Bier sich tatsächlich im Glas befand, und die Arbeit des Vereins war bitter nötig, um sich gegen betrügerische Wirte zu schützen. An dieser Praxis hat sich auch heute nichts geändert. Im Dritten Reich wurde der Verein dann verboten. Wieder ins Leben gerufen wurde er für einen PR-Stunt der Münchner Boulevard-Tageszeitung tz. Sie nutzte die damalige Popularität des Volksschauspielers und Gründungsmitglieds Rudi Scheibengraber, um im Gespräch zu bleiben.
„Ich kenne den Till bereits seit der ersten Klasse“, verkündet Anna, eine der Freiwilligen: „Seit letzter Woche, als ich erfahren habe, dass er hier der Vize-Präsident ist, ist er immens im Ansehen gestiegen.“ Doch etwas enttäuscht sei sie, man habe ihr versprochen, wir würden mindestens fünf Zelte besuchen. Deshalb müssen wir jetzt schnell austrinken, damit die Vorsitzenden nicht als Weicheier gelten.
Als wir im Hacker-Festzelt eintreffen, ist es bereits dunkel und das Oktoberfest Saufgelage in vollem Gange. Diesmal stürzen wir uns direkt ins Getümmel. Mitten im Gedränge, eingepfercht von schwitzenden Leibern, sehe ich nur noch, wie einer von uns der Bedienung „sieben Maß“ signalisiert. Ob wir tatsächlich gemessen haben, ist für mich nicht mehr ersichtlich. Als mir schließlich die dritte Maß an diesem Abend gereicht wird, habe ich mein Pensum für die Wahrheitsfindung erreicht. Ich habe meine bayrische Bürgerpflicht fürs Gemeinwohl erfüllt.
Wir haben an diesem Abend wiederholt Skandale aufgedeckt. Die Schankmoral der Oktoberfestwirte ist den Vorjahren gegenüber unverändert. Laut Abschlussbericht der VGBE fehlten im Schnitt pro Maß 0,1 Liter Bier. Am besten eingeschenkt war das Bier noch im Löwenbräu-Festzelt. Am schlechtesten schnitt das Festzelt der Fischer Vroni ab. Schon alleine die Vereinskasse des VGBEs wurde an diesem Abend durch die Wiesnwirte um 72,54 Euro betrogen. Bei jährlich 58 Millionen Euro Gesamtumsatz für Bier entsteht dabei ein wirtschaftlicher Betrug von 5,8 Millionen Euro an den Besuchern, den die Wiesnwirte einfahren.
Auch wenn das Kreisverwaltungsreferat die Kontrolle des VGBE als „zweifelhaft und fragwürdig“ bezeichnet, sieht Uli darin keinen Widerspruch: „Die städtische Ordnungsbehörde hat jahrzehntelang die Gäste auf dem Oktoberfest belogen, indem sie vorgegaukelt hat, die Schankmoral auf der Wiesn sei in Ordnung.“ Doch dieses Jahr habe sogar das Kreisverwaltungsreferat zugeben müssen, dass die Zustände so schlimm sind, wie sie seit Jahren von der VGBE angeprangert werden.
Danke VGBE, für diesen ordentlichen Vollrausch und den günstigsten Oktoberfestbesuch meines Lebens. Ich habe als bayrischer Patriot meine Aufgabe fürs Gemeinwohl erfüllt und kann dir nur raten, nächstes Jahr deine Nüchternheit für die „Volksausschankkontrolle“ zu opfern.
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