Mit Hilfe von Agentur-Tickern oder aus Parteizentralen berichten, das können die Kollegen von Spiegel Online besser, dachten wir uns. Wir berichten von jenen Orten, wo sich Sonntagabende angenehmer verbringen lassen und sich die Welt trotz Wahl-Wahnsinn weiterdreht: vom Berghain, aus einer Eckkneipe auf St. Pauli und vom Oktoberfest. Von dort halten wir euch auf dem Laufenden – über die letzten Stunden vor der Wahl und das, was die Deutschen tatsächlich bewegt, nachdem sie den Wahlausgang kennen. In vino veritas und so.
15:30 Uhr, Berghain
Dicke Wolken über Berlin – gut möglich, dass das in vielen Nachrichten zur Wahl stehen wird. Der Himmel weint, bedeckte Aussichten, alles mehr grau als bunt. Mittendrin das Berghain, ein Betonquader hingerotzt in diesen trüben Sonntag. Eine Eisentür führt wie ein Loch in die dunkle Höhle. Dort schwimmen Tänzer im tiefen Bass. Die Sorgen des Alltags: vergessen. Der bevorstehende Erfolg der AfD: verdrängt. Hunderte stehen an, um hineinzukommen. Ein Kollege von VICE meinte: “Das Line-up des Jahres.” Am Line-up im Bundestag gibt es wesentlich weniger Interesse. Nebenan, im Wahllokal im Erdgeschoss der Rosa-Luxemburg-Stiftung, steht nur eine Wählerin, um ihre Stimme abzugeben. Der Bundestag, in den die erste rechte Partei seit dem Zweiten Weltkrieg in wenigen Stunden einziehen könnte, ist nur knapp sechs Kilometer vom Berghain entfernt. Tanzend also in etwas mehr als einer Stunde zu erreichen.
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15:45 Uhr, Oktoberfest
Eben ist die Sonne verschwunden, aber sonst ist es ein ziemlich schöner Sonntagnachmittag auf dem Oktoberfest. Als das Fest vor einer guten Woche anfing, gab es eine aufgeregte Diskussion darüber, ob die Wiesn zu wenig Besucher haben könnte. Mittlerweile ist klar: Es sind mehr als letztes Jahr, aber nicht ganz so viele wie in den Jahren davor. Für alle, die hier sind, ist das eigentlich ganz angenehm. Sicherheit ist auch mehr als früher: Am Haupteingang läuft eine Durchsage, dass man keine große Taschen oder Koffer auf die Festwiese mitnehmen darf. Die Ansage kommt auf Deutsch, Englisch – und Bayerisch.
16:00 Uhr, Reeperbahn
Im Elbschlosskeller auf St. Pauli ist die Bar immer noch, schon oder schon wieder voll besetzt. So genau kann man das nicht sagen. Der Lärmpegel könnte sich nicht krasser von der Sonntagsbesinnlichkeit der Wahllokale unterscheiden. Aus den Boxen ballert “Das geht ab” von den Atzen. An der Bar steht Peter. Sein Alter ist wie bei den meisten hier schwer zu definieren, zwischen 50 und 65.
Weißt du, was heute ist? “Sonntag”, sagt er. Und was noch? “Waaaaaaaahl! Hätteste jetzt nicht gedacht, dass ich das weiß, ne?” Wählen geht Peter aber nicht, weil er keine Wahlunterlagen bekommen habe, sagt er. “Aber is’ egal. Angie gewinnt und alles bleibt wie immer. Ich krieg trotzdem keine Arbeit. Is’ aber auch egal.”
16:10 Uhr, Oktoberfest
Dieses Wochenende ist übrigens das “Italiener-Wochenende”. Da kommen traditionell an die 100.000 Italiener aufs Oktoberfest. Um die zu bewältigen, holen die Veranstalter schon seit Jahren italienische Polizisten und Sanitäter dazu.
Im Schützenzelt sitzen Vanessa, Carola und Sandra, alle drei aus München, alle haben gewählt. Besonders Sorgen machen sie sich über den Wahlausgang nicht, Hauptsache Merkel gewinnt und die AfD bekommt nicht zu viele Sitze. “Ich finde, Merkel repräsentiert uns gut, auch international”, sagt Carola. “Irgendwie sind die eh alle gleich, aber bei Merkel weiß man, was man hat.” Die Band spielt “Sweet Caroline”.
16:20 Uhr, Reeperbahn
Ein gedrungener Typ in Jack-Wolfskin-Jacke mit mächtiger Gesichtsform und mahlendem Kiefer kommt im Elbschlosskeller auf mich zu. “Ich heiße Ali”, sagt er. “Warst du schon wählen?”, frage ich. “Wollen wir eine ziehen?”, antwortet er.
16:35 Uhr, Berghain
In der Schlange vorm Berghain ist die Stimmung wie bei einer Beerdigung: viel Schwarz, lauter verschränkte Arme und alle warten, dass das Rumgestehe bald vorbei ist. Bei allen ein bisschen Panik, vergleichbar mit den kleinen Parteien: Schaffen wir es rein? Gerüchte machen die Runde. “Ich habe gehört, die Türsteher gehen manchmal durch die Reihen und ziehen schon vorher Leute raus”, sagt ein Typ mit Ohrring, Schnauzer und Kette. Ohnehin ist eine der wichtigsten Erkenntnisse des Wahlsonntags im Berghain schon jetzt: Ketten, gerne die massiven vom Hund der Nachbarin, sind wieder im Trend.
Eine Gruppe von vier Personen, zwei mit Kette, einer mit Lederhalsband und eine mit Leopardenmantel: Alle haben gewählt, die Grünen und die Linke. Das könne man aber schonmal vergessen, sagt einer der Kettenmänner: “Wenn man Samstag ins Berghain geht und Montagmorgen rauskommt.” Dann holt sein Kumpel eine Tupperdose raus, es dampft, Kartoffeln und Gemüse. Das Warten geht weiter.
16:40 Uhr, Oktoberfest
Paul, 21, und Carlotta, 19, haben beide zum ersten Mal gewählt. Welches Ergebnis sie sich wünschen? “Schwarz-Grün wär ganz geil”, sagt Paul. “Hauptsache Merkel”, findet Carlotta. Beide sind gerade erst auf der Wiesn angekommen, aber: “Jetzt wird geballert!”
17:10 Uhr, Reeperbahn
Jasha, 46, ist zum ersten Mal im Elbschlosskeller: “Hauptsache nicht die CDU wählen”, sagt er, “da steckt die Atomlobby dahinter. Und auf keinen Fall AfD, alles Spacken.” Danach hält er einen Vortrag darüber, dass Ursula von der Leyen niemals einen Krieg anfangen würde, weil sie so viele Kinder hat und man da froh drüber sein könne. Er selbst darf nicht wählen, er hat nur einen türkischen Pass, obwohl er in Deutschland geboren ist.
17:10 Uhr, Berghain
Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im vergangenen Jahr hatte das Berghain am Sonntag geschlossen und forderte Besucher auf: “Wählen gehen, Rechtspopulisten verhindern!” Diesmal erinnern zumindest Plakate davor daran, was heute wichtig ist. “Wenn man gleich viel leistet, sollte Frau auch gleich viel verdienen”, steht auf einem Plakat der Grünen. “Häuser denen, die drin wohnen”, auf einem anderen. Und auch Christian Lindner hängt, auf eine Pappe gepresst, über den Feiernden herum: “Digital first, Bedenken second.” Da ist er hier natürlich richtig. Die Telefone glühen, auch weil viele wegen der langen Schlange nun versuchen herauszufinden, ob die Party im Kater Blau nicht die bessere Option ist.
17:15 Uhr, Oktoberfest
Bei den Oktoberfest-Besuchern ist die Wahl noch immer kein großes Thema. Die Gespräche drehen sich darum, wann das nächste Bier getrunken wird, wie man noch ins Käfer-Gourmet-Zelt reinkommt und wie teuer das Bier geworden ist.
Ein plötzlicher Platzregen treibt die Leute unter die Zeltdächer.
17:30 Uhr, Reeperbahn
Die Bardame im Elbschlosskeller sagt, sie wähle seit Jahren SPD. Ein weiblicher Gast reicht ihr eine Packung Schmerztabletten und man fragt sich, ob die für jetzt sind oder für den Moment, in dem die ersten Wahlergebnisse kommen. Man muss gar nicht lange warten, bis die Leute einen hier ansprechen. Es ist ja auch ihr Wohnzimmer. Hier im Kiez habe sich seit den 70ern viel verändert, erzählt die Barfrau weiter: “Dass hier geklaut wird und es mal Stress gibt, war schon immer so, das ist nicht das Problem.” Sondern? “Zu viele Neureiche”, sagt sie.
“Is so”, bestätigt Ali, der plötzlich wieder aufgetaucht ist und seine Einladung auf die Toilette erneuert. Noch mal ablehnen wäre unhöflich, also bleibt nur zu sagen: “Ich muss los.”
17:35 Uhr, Berghain
Die Wahlkabine im Berghain heißt Darkroom. Alles etwas undurchsichtig, nicht nur am Wahlsonntag. Man kann nie genau wissen, was einen am Ende erwartet. Und unter Umständen bereut man, was man getan hat. Auch hier gilt: keine Selfies erlaubt. Wenigstens bekommt man vom Wählen in der Regel keine Geschlechtskrankheiten.
Bis zum Darkroom ist es noch ein weiter Weg. Fünfzig Meter, um genau zu sein. Und dann muss man noch vorbei an Sven Marquardt, der so etwas wie die Angela Merkel der deutschen Türsteherszene ist. Irgendwie schon immer da, gelassen im Auftreten, gnadenlos im Entscheiden. Nur Wenige lässt er heute rein, mit hängendem Kopf trotten die anderen davon. Ein Sven Marquardt wäre auch bei der Bundestagswahl wahnsinnig hilfreich gewesen. Dann hätten wir das Problem mit der AfD nicht erst, die hätte es nicht reingeschafft. Vor allem wegen Gaulands Sakkos.
17:40 Uhr, Oktoberfest
Yannik, 24, aus München, hat keinen Bock auf die “Schwarzen”, die sind ihm zu asozial. Er wünscht sich eine Jamaika-Koalition, “aber nicht nur, weil mein Vater Jamaikaner ist”. Wir stehen mittlerweile gedrängt wie Vieh, um dem Regen zu entkommen. Stimmung: trotzdem gut. Im Zelt spielen sie: “Rätttätä, rättätä, morgen hamma Schädelweh!”
Riesiger Donnerschlag genau über der Festwiese, die Gäste jubeln. “Des hat gescheppert! Des hat gescheppert!”, schreit ein freudestrahlender junger Mann. Noch mehr Jubel.
17:50 Uhr, Reeperbahn
Drunk Fact von der Reeperbahn: In Hamburg hatten bis 11 Uhr schon 37,4 Prozent aller Wähler ihre Stimme abgegeben. Denn:
17:55 Uhr, Oktoberfest
Der Regen wird immer schlimmer. “Des hast’ davon, dass du die Grünen wählst, du Orschloch!”, ruft einer seinem Freund zu. “Ja, weil mit der AfD hätt’s Sonne gegeben, oda? Selber Orschloch!”, ruft der zurück.
18:02 Uhr, Berghain
Es ist passiert: Die erste rechte Partei seit dem Zweiten Weltkrieg ist im Bundestag. In diesem Moment fragen sich in der Schlange drei Männer, alle um die vierzig und mit schwarzgrauen Vollbärten: Ist Tanzen das neue Joggen? “Eure Schritte heute Abend, das sind 30.000 und mehr”, sagt einer, die Haare nach Hinten gegelt. “Das schafft ihr, wenn ihr einfach nur tanzt bis um 12.”
Die AfD jedenfalls muss diesen Ort hassen. Niederländer, Iraner, Italiener, Russen, Engländer stehen hier nebeneinander. So gleich die schwarzen Klamotten, so unterschiedlich die Herkunft der Leute. Ein Muslim redet darüber, wie schwierig es ist, in Jordanien schwul zu sein und LSD zu nehmen. Eine Koreanerin beschwert sich, dass es unfassbar kompliziert sei, an ein deutsches Visum zu kommen. In der Schlange treffen sie sich, trinken Sekt und Bier zusammen. Sie reden über Angela Merkel, und dass sie ihren Job doch gut mache. Und jetzt vermutlich auch weiter machen wird. Ist das dieses Deutschland, von dem die Kanzlerin redet – in welchem wir so gut und gerne leben? Oder ist es jetzt ein anderes?
18:10 Uhr, Reeperbahn
Die ersten Prognosen sehen die CDU klar vorne. Wenn auch mit dem schlechtesten Ergebnis seit 1949: 32,5 Prozent. Vor dem Elbschlosskeller schreien zwei Obdachlose ein paar älteren Männern mit Harley-Davidson-Jacken hinterher: “Ey, wo wollt ihr denn hin, ihr Rocker-Rentner?” Zur örtlichen CDU-Party eher nicht.
18:15 Uhr, Oktoberfest
Im Gang hinterm Klo wird heftig über die Wahl diskutiert. “Wenn der Scheiß-Seehofer die Merkel nicht so getriezt hätte!”, ruft ein großer Mann in Samtjacke. “Und der Lindner nicht so ein Idiot wäre!”, ein anderer. “Und es pisst draußen immer noch wie bescheuert!”, wirft ein Mädchen ein. “Und Bier gibt’s hier auch nicht …”, sagt ein Vierter, bevor sich alle zusammen wieder in den Regen stürzen.
18:20 Uhr, Berghain
Die Musik brummt hörbar hinter der Fassade des Berghains. Die Leute, die es ausspuckt, schleppen sich in den Abend. Leere Blicke, hängende Schultern, kaum ein Wort. Mehr hat dieser Tag auch nicht verdient. Die meisten davor interessiert aber nicht, dass die AfD als drittstärkste Kraft in den Bundestag gekommen ist, sondern eher, ob sie es selbst ins Berghain schaffen. Sie kämpfen härter mit ihrem Datenvolumen als mit dem Wahlausgang. Aber schauen wir nach vorne: Nach drei Stunden in der Schlange ist es nur noch etwa eine bis zur Tür. Danke, Merkel!
18:30 Uhr, Oktoberfest
Vor den Eingängen zum Zelt stehen durchnässte Menschen und streiten sich mit den Türstehern, aber die lassen keinen rein. “Du bist doch auch ein Mensch!”, ruft ein verzweifelter junger Mann dem Türsteher zu. Danach erklärt er mir, dass die CSU “eigentlich nix Falsches sagt”, aber er sie leider nicht wählen kann, weil er aus Frankfurt kommt.
18:39 Uhr, Oktoberfest
Ich habe es ins Zelt geschafft, weil ich einer Gruppe Unternehmensberatern entschlossen hinterhergelaufen bin. Es ist sehr schön, nicht mehr im Regen zu sein.
18:40 Uhr, Oktoberfest
Die Band spielt ein Mash-up aus “Skandal um Rosi” und “Zicke zacke zicke zacke hoi hoi hoi!” Das Zelt kocht.
18:45 Uhr, Reeperbahn
Egal welche Ergebnisse die AfD hat, die Discokugel im Elbschlosskeller dreht sich einfach weiter. Und die Leute tanzen um die Striptease-Stange in der Mitte des Raumes. Ob das hier immer so ist? “Nein, unter der Woche am Vormittag tanzt manchmal auch keiner”, sagt die Barfrau, und Jan Delay singt tatsächlich: “Auf St. Pauli brennt noch Licht”. Das Wahlergebnis ist historisch. Historisch schrecklich. Hier lässt man sich den Abend davon nicht versauen.
18:50 Uhr, Oktoberfest
Die Leute springen auf den Bänken. “Die Scheiße in Bayern ist ja, wenn man die Kanzlerin unterstützen will, muss man hier CSU wählen!”, schreit mir jemand ins Ohr. “Und das habe ich in meinem Leben noch nie übers Herz gebracht!”
19:08 Uhr, Oktoberfest
Der größte Verkaufs-Hit auf dem Oktoberfest dieses Jahr: ein Hühnchen-Hut, der auf Knopfdruck mit den Beinen wackelt.
19:10 Uhr, Reeperbahn
Peter ist wieder da, von der Wahl hat er draußen gar nichts mitbekommen. Aber dass die SPD jetzt absackt, wundert ihn gar nicht: “Der Schulz, der hat vielleicht gewollt, aber der hat zu wenig Geld gehabt für Wahlkampf. Kein Ölgeld!” Und dann teilt Peter der Runde noch ein kleines Stück Kiez-Weisheit mit: “Du kannst die scheiß Suppe halt nicht fressen, wenn sie dir nur eine scheiß Gabel hinlegen”, sagt er, ohne genauer zu erklären, was er damit meint.
19:30 Uhr, Oktoberfest
Yannik ist plötzlich wieder aufgetaucht. Bevor ich ihn fragen konnte, was er von den neuesten Hochrechnungen hält, ist er vor einer der Wackelhühnchenhutverkäuferinnen auf die Knie gefallen und hat um ihre Hand angehalten. Sie hat sich sehr gefreut, aber wir haben trotzdem keinen Hühnchenhut bekommen.
19:38 Uhr, Berghain
Doch, da sind sie: Leute, die interessiert, was gerade mit Deutschland passiert. “Krass, jetzt haben wir Rechte im Bundestag!”, sagt Joe, man hört ihn von weitem. Denn tatsächlich ist es eher ein Murmeln hier vor dem Berghain. Leise Unterhaltungen, kein Getöse. Unter seiner Jeansjacke trägt Joe einen Strickpullover gegen die Kälte, die mit dem Sonnenuntergang jetzt vor das Berghain kriecht. Er hat mit seinen Freunden eben die ersten Hochrechnungen gesehen. Sie sind wütend, sie alle haben die Grünen oder Linken gewählt. “Es gibt Gold, Silber und Bronze”, sagt Stefan. Er bewegt seine Hände an den Kopf, Augen geweitet. “Die AfD ist die drittstärkste Partei.”
Sein Vater habe auch die AfD gewählt. Nicht, weil es ihm schlecht ginge. Aber vor allem die Flüchtlinge hätten ihn aufgeregt. An seinen Sohn schickt er regelmäßig Artikel mit Überschriften wie: “Deutschland schafft sich ab”. Wer Schuld an dem Wahlergebnis hat? Für die Gruppe ist klar: Nichtwähler. Joe dreht sich zur Schlange, die sich immer noch ewig vor dem Berghain entlangzieht: “Na klar und die waren alle wählen, deshalb ist die ja so lang.”
19:52 Uhr, Reeperbahn
“Das war’n einfach viele Protestwähler bei der AfD, die die Schnauze voll hatten von Merkel”, sagt die Barfrau. “NA UND!”, brüllt ein Hüne mit Iro, der hinter dem Tresen eine Kiste Bier einräumt, auf seinem Shirt steht “24 Stunden Kneipenboxen”. Obwohl die Gäste im Elbschlosskeller vor allem sagen, dass sie die Linke oder SPD wählen oder gewählt hätten, wenn nicht die Verstrickungen des Universums oder ungerechte Gesetze sie daran gehindert hätten, ist die Stimmung immer noch prima. Links neben der Tür macht ein muskulöser Typ Liegestütze zwischen zwei Tischen, um eine Frau mit großen Kreolen-Ohrringen zu beeindrucken. Ein anderer Gast brüllt mich laut, aber freundschaftlich an: “Was daddelst du Idiot mit dem Handy da andauernd?” Irgendwie ist Deutschland hier in diesem Mikrokosmos und in diesem Moment trotz allem doch ziemlich OK.
19:55 Uhr, Berghain
Ich möchte korrigieren: Das hier ist ein Deutschland, in dem wir gut und gerne stehen. Zumindest vor dem Berghain. Mittlerweile regnet es, aber die Leute verharren. Selbst in der Schlange für die Gästeliste warten um die 200 Menschen. “Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen”, sagt Alexander Gauland. “Wir sind gekommen, um zu bleiben”, sagt Alice Weidel. Während die Spitzenkandidaten der AfD das Wahlergebnis feiern, hoffen vor dem Berghain alle nur, dass sie den Rotz hier draußen hinter sich lassen können. Die grauen Wolken, den Regen. Und, wenigstens für ein paar Stunden, diese Welt und diese Wahl. Sie machen es schon ganz richtig, vielleicht sollten wir das heute Abend alle tun: Bier trinken gegen die Fassungslosigkeit, Tanzen gegen Rassismus. Den Kopf abschalten. Aber, ob wir nun vor dem Berghain hängen oder vor dem Fernseher – morgen wacht jeder von uns in einem Deutschland auf, in dem bald knapp 90 Abgeordnete, manche rechts, andere rechter, im Bundestag sitzen.
19:59 Uhr, Oktoberfest
Ich habe Pablo, 25, und Scott, 26, um eine Beurteilung gebeten. Scott meint, er sei froh, dass Merkel es geschafft hat: “Immer gerne wieder!”, ruft er. Pablo freut sich, weil er auf die Ergebnisse gewettet hat und richtig lag. Abgesehen davon ist er der Meinung, dass Instagram die beste Plattform von allen ist. “Weil Bilder, das ist die Zukunft!”
20:02 Uhr, Oktoberfest
Die Band spielt zum Abschied “Marmor, Stein und Eisen bricht”. Die Gäste tanzen glücklich und müde auf den Bänken und in den Gängen. “Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu!” Neben mir knutscht ein Paar. Fast, als wäre diese Wahl nicht das Wichtigste, nicht mal heute Abend.
Zurück ins Hauptstadtstudio.
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