Es war eine der größten Razzien der italienischen Geschichte: Die Sonderkommandos der Carabinieri schwärmten in der Nacht zum 9. Januar dieses Jahres über ganz Italien aus und verhafteten 158 mutmaßliche Mitglieder der kalabrischen Mafiaorganisation ‘Ndrangheta. Elf weitere ‘Ndranghetisti wurden aber nicht in Italien, sondern in einem anderen Land verhaftet: in Deutschland.
Die Razzia im Januar war ein weiteres klares Signal, wie wichtig Deutschland für die italienische Mafia mittlerweile geworden ist. Bis heute sprechen deutsche Behörden gerne davon, die Mafia nutze Deutschland vor allem als “Ruhe- und Rückzugsort”. Spätestens seit Killer aus Kalabrien 2007 sechs Italiener vor einem Restaurant in Duisburg mit über 50 Schüssen hinrichteten, sollte aber klar sein: Die Mafiosi kommen nicht hierher, um sich auszuruhen, sondern um Geschäfte zu machen.
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“Solange die Politiker und die Polizei sagen, die Mafia gibt es nicht, solange kann sie weiter im Untergrund wachsen”, sagte ein Ex-Auftragsmörder der sizilianischen Cosa Nostra vor vier Jahren einem deutschen Investigativ-Reporter. “Aber die Mafia ist lebendig wie nie zuvor.” Vieles deutet darauf hin, dass die Expansion nach Deutschland seitdem noch weiter fortgeschritten ist.
Wie die Mafia organisiert ist
Die italienische Mafia an sich gibt es so nicht. Neben der “Original-Mafia”, der Cosa Nostra aus Sizilien, operieren aus Süditalien mittlerweile mindestens vier andere Organisationen: die ‘Ndrangheta aus Kalabrien, die Camorra aus Neapel und Kampanien, die apulischen Organisationen wie die Sacra Corona Unita und die Stidda, eine Abspaltung der Cosa Nostra aus Sizilien. Diese Verbrecherorganisationen sind nicht alle gleich strukturiert, aber allen ist gemeinsam, dass sie sich aus mehreren Familien oder Clans zusammensetzen. Und alle machen Geschäfte in Deutschland – wenn auch nicht auf dem gleichen Niveau.
Die stärkste Gruppierung in Deutschland ist die mit dem sperrigsten Namen: die kalabrische ‘Ndrangheta. Laut einem aktuellen Bericht der italienischen Anti-Mafia-Behörde ist die Organisation in Deutschland bereits so verwurzelt, dass mehrere locali, also örtliche Organisationen, existieren. Offiziell geht das BKA von 350 ‘Ndranghetisti in ganz Deutschland aus. Wenn man alle Strohmänner, Helfershelfer und Sympathisanten dazuzählt, dürfte es sich aber um mehrere tausend Personen handeln, schätzt das Investigativ-Portal Correctiv. Aktiv sind die Kalabrier vor allem in Süd- und Westdeutschland: am stärksten in Baden-Württemberg und Hessen, aber auch in Nordrhein-Westfalen und Bayern. Und laut dem italienischen Bericht breitet sich die ‘Ndrangheta jetzt auch nach Thüringen und Sachsen aus, um ihr illegales Geld in Immobilien zu investieren.
Die sizilianische Cosa Nostra kommt mit 125 beim BKA aktenkundigen Mitgliedern an zweiter Stelle und bewegt sich vor allem in dem Raum Bayern, Baden-Württemberg und NRW (auch hier dürfte die Dunkelziffer laut Correctiv deutlich höher liegen). Als Nächstes kommt die Camorra mit 91 Mitgliedern, die Apulier und die Stidda dürften noch darunter liegen. Insgesamt geht das BKA mittlerweile also von fast 600 Mafia-Mitgliedern im Bundesgebiet aus – dreimal so viele wie noch 2010.
Was sie hier tun
Um zu verstehen, was die Mafia in Deutschland will, muss man erstmal ihr Hauptproblem verstehen: Sie haben viel zu viel Geld. Die ‘Ndrangheta zum Beispiel kontrolliert mittlerweile schätzungsweise bis zu 40 Prozent des weltweiten Kokainhandels, womit sie jedes Jahr einen Umsatz von 25 Milliarden Euro machen. Insgesamt wurde der Umsatz der ‘Ndrangheta schon 2013 auf etwa 53 Milliarden im Jahr geschätzt – “eine geschätzte Wirtschaftskraft wie die Deutsche Bank und McDonald’s zusammen”, wie der Deutschlandfunk das ausdrückt. “Durch den Kokainhandel hat die ‘Ndrangheta praktisch grenzenlos Geld”, erklärt die Investigativ-Journalistin und Mafia-Expertin Margherita Bettoni gegenüber VICE. “Man hat mal ein Gespräch von einem Boss abgehört, der sagt: ‘Das Problem ist nicht, Geld zu verdienen, sondern was wir mit dem ganzen Geld machen sollen!’”
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Für die ‘Ndrangheta ist Deutschland mit seinen Häfen also schonmal ein wichtiger Anlaufpunkt für das Kokain, das sie von den südamerikanischen Kartellen kaufen. Aber Deutschland ist für alle Mafia-Gruppen auch der perfekte Ort, um das Geld zu waschen und zu investieren – aus mehreren Gründen. Zuerst einmal läuft die Wirtschaft gut, es gibt an jeder Ecke und jedem Ende Bauprojekte.
“Es gibt viele Bereiche, die für die Mafia interessant sind, etwa öffentliche Verwaltungen, Ämter und Behörden”, erklärte Sabine Vogt, die Abteilungsleiterin für Schwere und Organisierte Kriminalität im BKA, der dpa im Februar. “Überall da, wo es um große Projekte, lukrative Aufträge, Zulassungen oder Baugenehmigungen geht, muss man sensibel sein.” Letztes Jahr haben Ermittlungen gegen einen Kölner Cosa-Nostra-Paten ergeben, dass sein Clan unter anderem plante, im Rahmen von Stuttgart 21 sieben Häuser mit einer mafia-nahen Firma aus Italien zu bauen.
“Ich habe 50 Kartons … Wenn sie bei dir ankommen, nimmst du sie.”
Zweitens erlaubten die bis vor Kurzem im Vergleich mit Italien noch sehr laschen deutschen Anti-Geldwäsche- und Anti-Mafia-Gesetze es den Clans, ihr Geld in Hunderten von Betrieben, Restaurants und zwielichtigen Immobiliengeschäften zu waschen. “Das ist eine einzige Wäscherei hier”, erzählt ein ‘Ndrangheta-Mitglied aus Deutschland in einem abgehörten Telefonat. Der Stern berichtete im April von Ermittlungen gegen einen Kalabrier, der mit ‘Ndrangheta-Geld in Stuttgart und Umgebung ein Netz “aus mehr als 140 Pizzerien, Restaurants und Eisdielen” aufgebaut hat.
In Deutschland wird aber nicht nur Geld gewaschen, sondern auch Geld verdient. Einer der umtriebigsten Clans auf diesem Gebiet war der ‘Ndrangheta-Clan Farao aus dem kleinen kalabrischen Örtchen Cirò, gegen den sich auch die Razzia im Januar richtete. “Das Spannende an den Faraos ist, dass sie ein ‘Ndrangheta-Clan sind, der erst durch seine Präsenz in Deutschland richtig zu Macht gekommen ist”, erklärt Margherita Bettoni. “Jetzt sind sie einer der mächtigsten Clans in Kalabrien.”
Dahin sind die Faraos vor allem gekommen, indem sie italienische Gastwirte in Deutschland ungefragt mit überteuerten Zutaten aus Kalabrien belieferten – und sie dann zwangen, die zu bezahlen. Da konnte es schonmal passieren, dass einem Gastwirt 200 Kisten sehr schlechten, aber sehr teuren Weins aus Cirò vor die Tür gestellt werden. Um die “Kunden” zu überzeugen, reichte es oft, wenn der Clanchef persönlich anrief. “Ich kann so viel Wein nicht nehmen”, zitiert der Stern ein Opfer dieser Masche, dessen Telefonat mit der Mafia abgehört wurde. “Wenn es ein paar Kartons wären, die würde ich kaufen – aber doch nicht so viele.” Den Clanchef zeigte keine Gnade mit dem Gastwirt aus der Nähe von Frankfurt: “Hör mir zu, ich habe 50 Kartons”, sagte er zu dem Gastronomen. “Wenn sie bei dir ankommen, nimmst du sie.”
Es gibt keine Erhebungen darüber, wie viel Geld die Faraos mit ihren Geschäften in Deutschland verdienen. In Italien hat die Polizei bei der Razzia im Januar allerdings 17 Immobilien, 400 Fahrzeuge und Vermögenswerte von rund 50 Millionen Euro beschlagnahmt.
Die Pax Germanica
Weil die Geschäfte in Deutschland so außerordentlich gut laufen, achten alle Mafia-Gruppen penibel darauf, den Frieden nicht mehr durch auffällige Gewaltverbrechen wie die Morde in Duisburg zu stören. “Dass die ‘Ndrangheta auf so brutale Weise Leute auf offener Straße umbringt, ist sehr untypisch”, sagt Margherita Bettoni. “Vor allem in Deutschland, wo die Geschäfte gemacht werden, versucht die Mafia, so wenig wie möglich aufzufallen.” Tatsächlich hat es ein Massaker wie in Duisburg seitdem nie wieder gegeben. Wenn Mafiosi in den letzten elf Jahren Morde in Deutschland verübt haben sollten, dann sind sie so geschickt vorgegangen, dass keine Verbindung zu ihnen in den Akten aufgetaucht sind.
Ein weiteres vom Stern zitiertes Abhörprotokoll der Faraos illustriert das ganz gut: Nachdem zwei seiner Leute sich im nordhessischen Melsungen bei einem Streit gegenseitig auf offener Straße mit Pistolen bedrohten, brüllte Familienchef Vittorio Farao einen der beiden am Telefon zusammen: “Ich sag es dir einmal und nie wieder: In Melsungen muss es still wie in einer Kirche sein. Hier sind unsere Freunde, die kommen und gehen. Mit solchen Scheißaktionen darfst du die Leute nicht nerven! Verstanden? Du Scheißidiot!”
Wenn zwischen in Deutschland lebenden Mafiosi doch einmal Krieg ausbricht, dann wird der in Italien ausgetragen. Ein berühmter Fall ist der des mutmaßlichen Bosses der Cosa Nostra von Mannheim, Giuseppe Condello. Als Condello einem anderen Paten in Deutschland in die Quere kam, wurde er 2012 nach Sizilien gelockt und dort auf einer Landstraße erschossen. “Nach dem Mord brach in der Bande von Condello Panik aus”, schrieb Der Westen später. “Weitere Italiener aus Deutschland verschwanden oder wurden spektakulär in Sizilien hingerichtet.” Damals sprachen deutsche Fahnder von einem “deutschen Mafiakrieg, der im Ausland geführt wird”.
Wie man sie bekämpfen kann
Bis letztes Jahr konnte man in den meisten Berichten über die Mafia in Deutschland lesen, dass die deutschen Gesetze – anders als in Italien – sich kaum für eine effektive Bekämpfung der organisierten Kriminalität eigneten: In Italien zum Beispiel muss ein Verdächtiger im Zweifel nachweisen, dass er einen Betrieb mit rechtmäßig verdientem Geld erworben hat. In Deutschland musste der Staatsanwalt nicht nur beweisen, dass jemand seine Immobilie oder sein Geschäft mit illegalem Geld gekauft hat – er musste sogar genau sagen können, aus welchem Verbrechen das Geld stammte. Außerdem war die Zugehörigkeit zur Mafia in Deutschland nicht strafbar. Der leitende Oberstaatsanwalt in Palermo, Roberto Scarpinato, nannte Deutschland deshalb oft ein “Schlaraffenland” für die Mafia.
Da hat sich 2017 geändert: Ein neues “Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung” vom 01. Juli 2017 erlaubt es dem deutschen Staat jetzt, Vermögenswerte auch dann zu beschlagnahmen, wenn die Herkunft des Geldes nicht klar ist. Außerdem gibt es seit Juli 2017 im Strafgesetzbuch einen Paragrafen, der bereits die reine Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung strafbar macht. “Es wird interessant zu sehen, ob diese neuen Gesetze wirklich Auswirkungen haben”, sagt Margherita Bettoni.
Erst vorletzte Woche hat die Berliner Staatsanwaltschaft gezeigt, dass sie es ausprobieren will: Sie nutzte das neue Gesetz, um auf einen Schlag 77 Immobilien einer arabischen Großfamilie im Wert von knapp 10 Millionen Euro zu beschlagnahmen, die unter dem Verdacht der Geldwäsche standen. Es ist gut denkbar, dass die Mafiosi in Deutschland den Ausgang des Falles genau beobachten werden.
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