Dichter und Umdenker: Jonathan Galassi im Gespräch über FSG, Inspiration und Fiktion

Aus der Fiction Issue 2015

Im Jahr 1986 fing ein junger Journalist und Dichter namens Jonathan Galassi bei dem ehrwürdigen New Yorker Verlag Farrar, Straus and Giroux an. Das kleine Haus mit dem großen Ruf wurde 1946 von dem faszinierenden Charismatiker Roger W. Straus, Jr. gegründet und hat die dichterischen Werke mehrerer Nobelpreisträger (Joseph Brodsky, Derek Walcott, Seamus Heaney) veröffentlicht sowie Romane und Essays von Elizabeth Hardwick, Susan Sontag, Jamaica Kincaid, Ian Frazier und John McPhee—Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die nicht nur die Sprache bereichert, sondern auch deren formale Grenzen erweitert haben. Außerdem auch deutsche Autoren wie Peter Handtke, Christa Wolf und Christian Kracht in der englischen Übersetzung.

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Vor seiner Arbeit bei FSG studierte der Harvard-Absolvent Galassi mit der Dichterin Elizabeth Bishop und wurde bald darauf zum Stammübersetzer des italienischen Dichters Eugenio Montale. Galassi war zehn Jahre lang Redakteur für Poesie bei Paris Review und veröffentlichte in dieser Zeit drei Bände eigener Dichtkunst: Morning Run (1988), North Street (2000) und Left-Handed (2012). Sein letzter Band kündigte eine Entwicklung hin zu einer neuen Art Erzählung an: emotional, unmittelbar, intensiv und verletzlich.

Dennoch war Galassi hauptsächlich als Redakteur tätig und als Straus 2004 verstarb, wurde er zum Präsidenten und Herausgeber der Firma, die seit fast 30 Jahren sein berufliches Zuhause ge­wesen war. Diesen Juni hat sich Galassi in noch anderer Hinsicht einen Namen gemacht: Sein erster Roman, Muse, ist bei Knopf Doubleday erschienen.

Die Geschichte eines romantischen jungen Journalisten, der zum Schützling eines extravaganten Verlegers wird und beruflich sowie privat mit ihm konkurriert, ist eine Satire auf eine Welt, die dem Autor sehr vertraut ist. Das Buch ergründet außerdem Familie und fragt danach, was uns antreibt, deren komplexe und notwendige Bande außerhalb unserer vier Wände zu imitieren. Ich habe mich in diesem Frühjahr mit dem 65-jährigen Galassi im Union Square Cafe in Manhattan zusammengesetzt, wo er oft mit anderen Autoren gediegen und teuer zu Mittag isst.

VICE: Wie kam es zu deinem ersten Roman?
Jonathan Galassi: Ich hätte nie gedacht, dass ich das Zeug dazu habe, Fiktion zu schreiben, doch vor ein paar Jahren kam ich zu dem Schluss, dass die Zeit gekommen war, wenn ich es jemals versuchen wollte. Ich habe mich der Sache von hinten genähert, wie allen Dingen des Lebens. Wenn ich es nicht jetzt tat, dann würde es nie etwas werden. Was hatte ich schon zu verlieren?

Wie hat sich Muse dir offenbart? Stückchenweise?
So muss es gewesen sein. Ich weiß es nicht wirklich. Ich fing eines Tages im Sommer an, kurze Szenen zu schreiben. Ich schrieb, ohne sie hinterher noch einmal durchzulesen, und dann packte ich alles für ein Jahr weg.

War die Erzählperspektive von Anfang an in der dritten Person?
Ja. Ich versuche jetzt, etwas aus der Ich-Perspektive zu schreiben, was ganz anders ist. Doch Muse fing als so etwas wie Memoiren in der dritten Person an.

Basiert die Figur Ida, die Dichterin, die im Zentrum von Muse steht, auf jemandem? Auf mich wirkt sie wie eine rein literarische Figur.
Nein, und dasselbe gilt für Morgan Dickerman, die Buchhändlerin, die sozusagen das Gewissen unseres Helden ist. Beide sind komplett erfundene Figuren.

Beim Lesen des Romans ist einem spätestens ab der Mitte klar, dass Paul, der naive Redakteur, zwei Vaterfiguren anhimmelt. Und er gibt sich große Mühe, die Fehler der beiden zu entschuldigen. Ihre Schwächen rühren aus ihrem Charisma, und beide sind auf sehr unterschiedliche Weise charismatisch. Es handelt sich um einen Haufen Außenseiter, die einander finden, genau wie Paul selbst.
Paul will definitiv Teil dieser Welt werden. Von außen betrachtet sieht sie immer anziehend aus, doch von innen sieht man die Sprünge und den bröckelnden Putz.

Aber auch die anderen wollen irgendwo dazugehören, nicht? Was sieht Sterling deiner Meinung nach in diesem jungen Mann?
Er braucht jemanden, der ihn bewundert, einen narzisstischen Spiegel. Sterling ist heroisch, bewundernswert. Doch er braucht einfach die Bewunderung einer jüngeren Person, die seine Arbeit in den Himmel lobt, und solch überzeugte Anhänger sind eine Seltenheit.

Du sagtest, du hättest es ein Jahr lang weggepackt. Offensichtlich spukte es dir aber noch im Kopf herum?
Ja, doch ich habe nicht allzu viel darüber nachgedacht, weil ich so viel zu tun hatte. Dann, im darauffolgenden Sommer, dachte ich: „Ich hole es jetzt mal hervor und sehe nach, ob es verwertbar ist.” Dann fing ich an, die Handlung zu konstruieren und auszubauen. Es ist ein kurzes Buch.

Du hast drei Jahre an dem Buch gearbeitet. Wie hat sich das mit deiner normalen Arbeit vereinbaren lassen?
Unter der Woche habe ich die Arbeit an dem Roman ruhen lassen. Ich denke, ich habe im Prozess des Schreibens einiges über mich selbst gelernt. Es fiel mir immer schwer, Dinge aufzugeben, doch das ist der Schlüssel: Man muss Sachen kürzen. Ich habe so eine pingelige Haltung beim Schreiben und damit brauchte ich Hilfe. Der Roman ist eine Satire, die sich zu etwas anderem entwickelt. Und er ist eine Liebesgeschichte. Ich fügte immer mehr Schichten hinzu—doch ich musste auch abtragen.

Die einzige wirklich verantwortungsbewusste Person ist Paul, denn er nimmt Freundschaften sehr ernst. Die Figuren, die auf Joseph Brodsky und Susan Sontag basieren, haben mich sehr zum Lachen gebracht.
Sagen wir es so, viele der Figuren in dem Buch teilen sich Eigenschaften mit Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die ich gekannt habe.

Ich fand diese Figuren großartig.
Das Buch will die familiäre Atmosphäre in einem altmodischen, unabhängigen Verlagshaus einfangen. Bei Purcell & Stern gibt es den Papa, Homer Stern, und lauter Cousins und Cousinen, die zu Besuch kommen, also die Autoren und Autorinnen. Und dann gibt es die ganzen Arbeitsbienen, die alles erledigen und dabei oft zerquetscht werden.

Einige frühere Begleiter von Homers Karriere überlebten diese Familie nicht. Er konnte nur wenig Konkurrenz tolerieren. Doch Muse spielt zu einem späteren Zeitpunkt, als Homer Hilfe braucht, und Paul ist nicht direkt daran interessiert, ihn herauszufordern. Paul sucht nach einer Vaterfigur. Wie du sagtest, findet er sich gewissermaßen zwischen diesen beiden Männern wieder, zwischen Homer und dessen Erzfeind Sterling Wainwright, die unterschiedliche Aspekte derselben Sache repräsentieren.

Pauls Liebesleben ist auf Sparflamme: Er hat Gefühle für andere Männer, die nie wirklich entwickelt oder unter die Lupe genommen werden. In gewisser Hinsicht ist er noch unreif. Er ist innerlich ein wenig in der Jugend hängen geblieben.

Ich mochte seinen Optimismus sehr.
Das ist einer der Gründe, warum er sich zu diesen abgeklärten, teils sogar zynischen Menschen hingezogen fühlt: Er lebt sein Leben durch sie. Paul wird im Laufe des Buchs letztendlich erwachsen. Ihm wird endlich klar, dass Ida nicht das ist, wofür er sie gehalten hat, doch sie ist noch immer großartig, auf eine andere und vielleicht sogar bedeutsamere Art.

Sie ist nur ein Mensch, wie wir alle.
Genau. Und diese Erkenntnis repräsentiert sein Erwachsenwerden. Ihm wird klar, dass seine Vorstellungen von der Kunst und dem Leben aus Büchern stammen. Ich hoffe, du hattest am Ende den Eindruck, dass es für Paul Hoffnung gibt und er eine andere Art Liebe finden wird.

Ich halte ihn gar nicht für hängen geblieben; ich finde, er ist ein Romantiker. Und ich finde, Morgan ist so gut dazu geeignet, uns seinen Charakter zu zeigen, denn wir hören geradezu, wie sie die Augen verdreht, wenn er mit ihr telefoniert. Sie ist eine großartige und wichtige Figur und eine ganze Person. Ich liebe es, dass Paul immer versucht, die Menschen in seiner Vorstellung ganz zu machen, während der Roman uns ihre Unzulänglichkeiten zeigt. Man fühlt sich zwischen Pauls Romantik und der Realität dieser Personen hin- und hergerissen.
Es soll durchklingen, dass Homer in der Vergangenheit Morgan nachgestellt hat. Man hat das Gefühl, dass sie ihn in die Schranken weisen musste. Doch sie hat es ihm nicht übel genommen; so war er einfach.

Hattest du das Gefühl, mit anderen Schriftstellern im Dialog zu stehen? Gab es welche, mit denen du dich gern ausgetauscht hättest?
Ich hatte das Gefühl, diesen Weg alleine zu bestreiten, aber das war sicher nur eine Illusion zum Selbstschutz. Ich finde, viele von Dichtern verfasste Romane sind nicht so wirklich dreidimensional ausgearbeitet, und ich habe gehofft, mich wenigstens in dieser Hinsicht besser zu schlagen.

Dichter wissen, wie man komprimiert. Mit Expandieren und Dramatisieren kennen sie sich nicht so aus.
Nimm James Merrills Romane. Ich habe gehofft, etwas schreiben zu können, das ein bisschen ausgefüllter ist als das. Ich liebe Merrills Poesie, doch ich wollte mich selbst herausfordern und einen Roman über Dichter schreiben, der gleichzeitig Poesie in Romanform ist.

Mich würde interessieren, was du herausgestrichen hast.
Es gab einen ganzen Teil über Pauls Liebesleben; er versucht es mit Onlinedating. Es ist witzig, ich erinnere mich nicht, wie das in die Handlung passen sollte, und Robin Desser, meine fantastische Lektorin, sagte: „Nimm das raus, bitte!” [lacht] Und ich habe auf sie gehört. Robins Antrieb war immer, das Buch realistischer zu machen. Es ist kein ganz realistisches Buch, doch dieser Druck von ihr hat mir geholfen, ihm mehr Kontur zu geben.

Es geht nichts über ein gutes Lektorat. Man muss selbstlos sein, um diesen Job gut zu machen.
Sie hat es vier Mal lektoriert. Ich habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Sie grub immer weiter, manchmal auf sehr nervige Art. [lacht] Doch ihre Vision des Romans war ein bisschen näher am Boden der Tatsachen als meine, und das hat mir sehr dabei geholfen, das Buch mehr an die Realität zu binden.

Ich finde, du könntest auch ein Theaterstück schreiben. Die Dialoge waren so gut. Reizt dich als Dichter das Theater?
Ich wollte schon immer ein Musical schreiben. Larry Kramer wollte, dass ich eins schreibe. Ich habe ein paar Songtexte geschrieben und er hat mich wissen lassen, dass sie ihm sehr gut gefielen.

Dieses Buch und die Gedichte sind richtige Coming-outs.
Tatsächlich hat er die Texte sogar Elton John geschickt, doch der hielt nicht viel davon [lacht].

Ich liebe die Figur Sterling. Beim Lesen habe ich mir John Lindsay vorgestellt, mit seiner aristokratischen Aufgeräumtheit. Homer ist Chaos pur. Sterling ist auf eine seltsame Art ein Apollo, sehr rational. Das liegt zum Teil daran, dass seine Wildheit auf seine Kunst beschränkt ist. Homer hat nicht einmal dieses Ventil—er besteht ganz aus seinem Es.
Homer ist ganz Es, das stimmt. Er ist unersättlich, hat immer unstillbaren Appetit. Das macht ihn zu einem guten Verleger. Sterling dagegen ist mehr olympisch, mehr apollinisch. Ich bin so froh, dass du ihn mochtest. Ich hatte fast Gewissensbisse, als ich ihn umgebracht habe [lacht].

Warum?
Paul macht beiden Vätern den Garaus. Das ist Absicht, es soll lustig sein. Aber es kommen dabei auch Schuldgefühle auf.

Schuldgefühle gibt es immer.
Wenn Ida Pauls literarische Mutter ist, dann bringt sie ihn gewissermaßen dazu, seinen Vater zu töten. Und sie hat, wie man später erfährt, ihre eigenen Gründe dafür. Es ist eigentlich eine sehr ödipale Geschichte.

Mir ist dabei etwas schlecht geworden. Aber es fühlte sich notwendig und wichtig an.
Ich weiß auch nicht, woher das kam.

Das ist das Großartige an Fiktion: Du musst gar nicht wissen, wo sie herkommt. Als Sachbuchautor macht einen das neidisch. Ein Dichter wird nie gefragt, ob es wahr ist oder nicht—es ist einfach. Das habe ich auch an dem Buch geliebt. Ob es wahr ist oder nicht, ist für Leser, die nichts über die Verlagswelt wissen, uninteressant.
Das hoffe ich, denn es ist eine Geschichte über Familie, Romantik und Liebe.

Erzähl mir, wie es jetzt weitergeht.
Ich arbeite an einem weiteren Roman, der komplett anders sein wird. Ich schreibe ihn in der ersten Person. Ich würde sagen, es geht um eine Figur in einer anderen Lebensphase als Paul. Ich schreibe schon mein ganzes Leben lang, doch erst vor Kurzem habe ich festgestellt, dass es mir viel Spaß macht, auch größere, weniger komprimierte Dinge auszuprobieren.