Was Paolo Cirio von Bezahlschranken im Internet hält, machte er vor gut einem Jahr mit einem drastischen Schritt deutlich. Auf der eigens eingerichteten Website dailypaywall.com veröffentlichte der italienische Medienkünstler 60.000 Artikel der Financial Times, des Wall Street Journals und des Economist, die nur hinter einer Bezahlschranke gelesen werden dürfen.
Anstatt für diesen Content zu bezahlen, wurden die Leser—wenn sie nach der Lektüre eines Artikels entsprechende Quizfragen richtig beantworten konnten—sogar von Cirio bezahlt; mit dem symbolischen Betrag von einem US-Dollar. Doch Cirio hatte sich einen gewaltigen Gegener ausgesucht: Nach wenigen Tagen zwangen ihn die Anwälte von Pearson PLC, der umsatzstärksten Verlagsgruppe der Welt, die Seite offline zu nehmen.
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Doch jetzt ist dailypaywall.com zurück—und protestiert mit denselben 60.000 Artikeln abermals gegen die modernen Bezahlsysteme für journalistische Inhalte, die Cirio als Einschränkung des Informationszugangs betrachtet: „Nur wer über die Mittel verfügt, auf Informationen zuzugreifen und diese zu verarbeiten, kann die Macht über andere gewinnen, welche dieses Privileg nicht besitzen. Diese Situation führt zu gewaltigen Ungleichheiten in der Gesellschaft. Die Art und Weise, wie Information verwaltet wird, sollte eines der Hauptthemen auf der Agenda der internationalen Politik sein, um eine freie und gerechte Gesellschaft aufrechtzuerhalten”, so Cirio gegenüber Motherboard per Email.
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Pearson PLC hat sich mittlerweile von Financial Times und Economist getrennt, Cirio weiß also nicht, wie die neuen Verleger auf den Relaunch der unrechtmäßig veröffentlichten Pay-per-view-Artikel reagieren werden. „Es wäre eine Schande, wenn die Verleger so gierig wären, die Seite erneut offline zu nehmen. Zum jetzigen Zeitpunkt fungiert das Projekt als Archiv und öffentliche Bibliothek.”
Schließlich seien die Artikel bereits über ein Jahr alt und würden auf die unfairen Urheberrechtsgesetze aufmerksam machen. Wenn es nach Cirio geht, der auf dailypaywall auch ein Crowdfunding-Spendensystem für die Autoren der Artikel eingerichtet hat, braucht es anno 2016 keine großen Verleger mehr, um Informationen an den Mann und die Frau zu bringen. Die Industrie sei einfach immer noch zu konservativ und erkenne die Möglichkeiten der Sharing Economy, Informationen im Internetzeitalter individuell nach Nutzernachfrage zu verteilen.
Als Beispiel für ein anderes, weniger striktes Business-Modell im Bereich Verlagswesen verweist Cirio auf die niederländische App Blendle. Sie ermöglicht es Lesern, Artikel aus Printveröffentlichungen gegen eine einmalige Zahlung von Mikrobeträgen in digitaler Form zu erwerben.
„Blendle und auch das chinesische WeChat beweisen, dass das Zahlen für individuellen Zugang zu einem Werk gut funktioniert. Diese Lösung kann eine Peer-to-Peer-Wirtschaft erschaffen, die keine Mega-Verlage mehr braucht.”
Die betroffenen Zeitungen und Verlage haben auf Cirios erneute Aktion, welche ihre Geschäftsmodelle und Rechte am eigenen Material ignoriert und umgeht, bisher nicht reagiert. Vor einem Jahr allerdings hatten Vertreter der Financial Times in ihrer Unterlassungserklärung Cirio der Verletzung des Urheberrechts bezichtigt und eine umgehende Löschung des Inhalte erwirkt.
Verlagshäuser und Zeitungen versuchen seit Jahren neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die es ihnen erlauben, im Internetzeitalter Geld mit ihren digitalen Inhalten zu verdienen, um ihre Angebote veröffentlichen zu können und ihre Arbeit auch digital unabhängiger von Anzeigenerlösen zu refinanzieren. Die Modelle sind dabei je nach Medienhaus verschieden und reichen von kostenpflichtigen Sonderbereichen über Aufrufe zur freiwilligen Artikelfinanzierung wie bei der taz (sogenanntes Social Payment) bis zu einem Modell, das nach einer bestimmten Anzahl an Artikeln pro Monat einen geringfügigen Beitrag verlangt.
Im Motherboard-Panel auf der transmediale vor zwei Jahren erläuterte Paolo Cirio seine älteren Projekte, die sich ebenfalls mit Informationsfreiheit und Machtverhältnissen auseinandersetzen. Gerade erst hat der Künstler in China seine Ausstellung „Hacking, Monopolism, Trilogy” präsentiert, in der er anhand der Beispiel Google, Amazon und Facebook die „Konzentration, Veruntreuung und Monetarisierung großer Mengen an Informationen und Nutzerinteraktionen„ durch Internetriesen erkundet.
Cirio, der sich selbt nicht gerne als „Hacker” bezeichnet, nutzte bei diesem wie generell bei allen seinen Projekten auch die technischen Schwachstellen dieser Firmen. Für dailypaywall hatte er sich zunächst ein reguläres Abonnement der drei Online-Publikationen besorgt und anschließend ein Skript geschrieben, das unter Umgehung der technischen Sicherheitsvorkehrungen der Websites die Artikel automatisch in ein Feed auf dailypaywall.com eingespeist hatte.