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Kasachische Dorfbewohner schlafen reihenweise ein und niemand weiß, warum

Schwächegefühl, Schwindelanfälle, Gedächtnisschwund und der Verlust der motorischen Fähigkeiten—das sind die Symptome einer bis jetzt nicht diagnostizierbaren Krankheit, von der ausschließlich ein kleines Dorf in Kasachstan betroffen ist.

Die Einwohner eines kasachischen Dorfes schlafen wahllos ein, manchmal hält dieser Schlaf dann sogar tagelang an. Den Grund dafür kennt niemand. Seit Frühling 2013 wurden in Kalachi, einem Dorf in der Region Aqmola (ein kasachischer Ausdruck, der unheilvoll als „weißes Grab" übersetzt werden kann) ungefähr 240 Kilometer südlich der russischen Grenze, mindestens vier Ausbrüche des Krankheitsbildes beobachtet. Die letzte Welle dauerte von ​Ende August bis ​Anfang September und dabei waren über 60 Menschen, also 10 Prozent der 680 Dorfbewohner, betroffen. Letzte Woche veröffentlichte RT eine dieses Problem behandelnde Dokumentation mit dem Titel ​Sleepy Hallow, Kazakhstan. Die Anwohner erzählten den Journalisten von ihrer Angst, eines Tages einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen.

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Das Ganze wird als Enzephalopathie unbekannten Ursprungs eingestuft (auf gut Deutsch eine komische Fehlfunktion im Gehirn, die wir nicht verstehen): Die Dorfbewohner kippen nicht einfach so um, sie ​berichten von einem Schwächegefühl, Schwindelanfällen, Gedächtnisschwund und dem Verlust der motorischen Fähigkeiten. Mindestens zwei Kinder litten auch an ​Halluzinationen: Misha Plyukhin sah fliegende Pferde, Glühbirnen, seine Mutter mit acht Augen und einem Rüssel sowie Schlangen und Würmer in seinem Bett, die seine Arme fressen wollten; Rudolf Boyarinos kann sich an seine Visionen nicht mehr erinnern, aber vier Leute mussten ihn beruhigen und bändigen, als er die ganze Zeit „Monster!" schrie. Ihr Schlaf ist so tief und fest, dass einige Anwohner befürchten, dass sie einen für ​tot erklärten Mann lebendig begraben haben könnten.

Da die kasachische Regierung und außenstehende Fachärzte ihre ​wiederholten Versprechungen nicht einhalten, die Ursachen der Epidemie herauszufinden, glauben viele Dorfbewohner inzwischen schon an Verschwörungstheorien wie ​Alien-Viren oder Experimente der Regierung. Was allerdings noch viel erschreckender als ein Vertuschungsversuch erscheint, ist die Vorstellung, dass wir es mit einer neuen Krankheit oder Seuche zu tun haben könnten, für die es noch keine Behandlung gibt.

Der erste Ausbruch der Krankheit dauerte vom März bis Mai 2013 an. Dabei wurden ungefähr zehn Dorfbewohner zwischen 14 und 70 Jahren mit ähnlichen Symptomen ins Krankenhaus gebracht. Weitere Epidemien folgten von Januar bis März 2014, im Mai (hier interessierte sich jetzt auch die ​internationale Presse für die Geschichte, die in ​einem Artikel der Siberian Times aufgegriffen wurde) und von August bis September. Im Normalfall wachen die Patienten nach ein paar Tagen wieder auf—manchmal schlafen sie jedoch kurz darauf wieder ein. Es ist noch nicht ganz klar, ob die Betroffenen vollständig genesen oder weiterhin in unpassenden Momenten einschlafen werden.

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Ähnliche Schlafkrankheiten sind bei der Aufklärung des kasachischen Falles keine wirkliche Hilfe.

Die wohlbekannte ​Afrikanische Trypanosomiasis kann ausgeschlossen werden, weil sie eine parasitische Infektionskrankheit ist, die durch den Stich der Tsetsefliege übertragen wird—und das Insekt ist in Afrika beheimatet. Die weniger bekannte ​Nickkrankheit, mit der sich seit den 90er Jahren bereits ​über 3000 Kinder im Südsudan und in Uganda infiziert haben, könnte trotz der Distanz zu Kasachstan mit den dortigen Fällen in Verbindung gebracht werden. Die Nickkrankheit wird jedoch nur selten bei Erwachsenen beobachtet und erst diesen Herbst haben Wissenschaftler Beweise veröffentlicht, die die Erkrankung mit einem in Afrika vorkommenden Parasiten in Verbindung bringen, der durch einen Insektenstich übertragen wird.

Weltweit vorkommende Krankheiten wie das ​Kleine-Levin-Syndrom verursachen die Schläfrigkeit nur bei bestimmten Bevölkerungsschichten (in diesem Fall Jugendliche) und können deshalb nicht als Erklärung für die breiter gefächerten Symptome und die anderen, ebenfalls betroffenen demographischen Gruppen von Kasachstan hergenommen werden. Dann gibt es noch die ​Europäische Schlafkrankheit. Zwischen 1915 und 1926 haben sich ungefähr eine Million Menschen damit angesteckt, fast ein Drittel ist dadurch gestorben und viele andere waren deswegen in einem katatonischen Zustand gefangen (das Ganze diente auch als Grundlage für das Buch Zeit des Erwachens von ​Oliver Sachs). Wegen der unklaren Ursachen und der sporadischen Infektionen in den letzten Jahren, schien die Europäische Schlafkrankheit sehr wahrscheinlich für die Vorfälle in Kasachstan verantwortlich zu sein. Forschungen des letzten Jahrzehnts haben jedoch ergeben, dass hier auf eine einzigartige Form von ​Streptokokken-Bakterien reagiert wird, die so bei den kasachischen Patienten nicht entdeckt wurde. Auch zeigte keiner von ihnen Parkinson-Symptome, die jedoch bei der Europäischen Schlafkrankheit auftreten.

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Ärzteteams aus der Region und des ganzen Landes dachten zuerst, dass eine ​andere bakterielle Infektion wie Meningitis vielleicht für alles verantwortlich sei. Bei den über 7.000 Untersuchungen der Patienten, der Luft, des Essens, des Wassers und der allgemeinen Umgebung des Dorfes wurden allerdings keine Anzeichen einer bakteriellen, viralen, chemischen oder radiologischen Kontamination gefunden. Die derzeit heißeste Spur ist die Beobachtung, dass die Ausbrüche dazu neigen, mit dem Wechsel von kaltem zu warmen Wetter einherzugehen.

In den meisten Reportagen wird die Krankheit mit der Nähe zu einer in den 90ern stillgelegten ​Uranmine aus der Sowjet-Ära in Verbindung gebracht. Im ​März 2014 und bei den aktuellen Nachforschungen von ​RT haben Journalisten leicht erhöhte Radon-Werte in der Umgebungsluft festgestellt. Dafür könnten die Mine und die regelmäßigen Gasverdunstungen während des Tauwetters verantwortlich sein. Aber in Krasnogorsk, einer noch näher an der Mine gelegenen Stadt, wurde ​kein Auftreten der Schlafkrankheit verzeichnet und keiner der Patienten hatte je mit besagter Mine zu tun. Dazu kommt, dass die Symptome einer ​Uranvergiftung—und der meisten anderen ​Schwermetall- und ​Gaskontaminationen, die vor allem die Nieren angreifen—bei keinem Betroffenen festgestellt wurden.

Die einzige Krankheit, deren Symptome mit denen der Einwohner von Kalachi übereinstimmen und die noch nicht ausgeschlossen werden konnte, ist ​Narkolepsie: Das ist ein neurologisches Leiden, das zu plötzlichem und verlängertem Schlafverhalten und selten auftretenden Bewegungs- und Sprechstörungen sowie Halluzinationen im Wachzustand führt. Im Allgemeinen tritt die Krankheit im Jugendalter auf und kommt nur bei 0,03 Prozent der Bevölkerung vor, aber es gibt auch Hinweise, dass sie in jedem Lebensabschnitt ausgelöst werden kann. Das passiert, wenn man Giftstoffen, Stress oder Verletzungen ausgesetzt ist, die die Produktion von ​Hypocretin im Gehirn verändern. Jedoch lassen sich in Kalachi keine eindeutigen Giftstoffe feststellen, was diese Erklärung ebenfalls ziemlich unwahrscheinlich werden lässt.

Ohne eine plausible biologische oder umgebungsbedingte Ursache nehmen viele Menschen an, dass die sich nicht ausbreitende Krankheit die Folge einer ​psychologischen Massenerkrankung ist—auch bekannt als Massenpsychose. Mit Symptomen ​ähnlich einer Vergiftung und ausgelöst durch tiefgreifenden Kollektivstress, verursachen solche Vorfälle beim Einzelnen den Körper und das Verhalten betreffende Symptome, die von Anderen ​wahrgenommen und unterbewusst nachgemacht werden. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die ​Tanzwut: Zuvor stattgefundene Hungersnöte oder Naturkatastrophen ließen die Menschen durchdrehen und anfangen, ekstatisch zu tanzen—das Ganze dauerte dann tagelang an und stellte eine ernsthafte Gefahr für die Gesundheit dar. Ein aktuelleres Beispiel ist der sogenannte ​„Bin Laden Itch", der in der Zeit nach dem 11. September Amerika heimsuchte: Die Bedrohung eines Angriffs mit biologischen Waffen rief im ganzen Land einen psychosomatischen Ausschlag hervor.

Solche psychologischen Epidemien ​legen sich entweder von selbst wieder und verursachen bei den Betroffenen einen gewissen Schaden, oder sie werden mit einem ​Placebo bekämpft und die Leute werden davon überzeugt, dass ihr Leiden angegangen wurde. Heutzutage nimmt man dafür Zuckerpillen her, aber damals in vergangenen Tagen hat auch schon mal ein Exorzismus dabei geholfen, die Psyche der Betroffenen wiederherzustellen und sie zurück ins alltägliche Leben zu bringen. Die Bewohner von Kalachi gehen jedoch davon aus, dass sie an einer modernen Krankheit leiden, die von keinem Arzt richtig diagnostiziert werden kann. Falls es sich nun wirklich um eine Massenpsychose handeln sollte, schließt das den möglichen Einsatz eines Placebos fast aus.

Ein weiterer besorgniserregender Fall, über den die Siberian Times im Mai 2014 ​berichtete, widerlegt die Theorie, dass es sich bloß um eine Reaktion auf Kollektivstress handelt. Alexey Gom kam aus einem weit entfernten Dorf nach Kalachi, um seine Schwiegermutter zu besuchen. Auch er erkrankte schnell und unerwartet, obwohl er als Nicht-Ortsansässiger nicht den gleichen Stressfaktoren ausgesetzt war wie die Einwohner des Dorfes. Außerdem konnten keine Stressfaktoren oder kulturellen Schlafkrankheitsvorstellungen in Kalachi ausgemacht werden, die eine potentielle, massenhaft um sich greifende psychische Erkrankung erklären würden.

Nach anderthalb Jahren wissen die Einwohner von Kalachi immer noch nicht weiter. Sie können sich weiteren Tests unterziehen oder darauf warten, dass das Problem von alleine verschwindet. Da die Wissenschaft sie bisher enttäuscht hat, sind sie vielleicht auch für alternative Behandlungsmethoden empfänglich. Schließlich erinnert diese Geschichte doch an die Neuauflage eines Grimm-Märchens. Der wahren Liebe Kuss mag kein anerkanntes medizinisches Heilmittel sein, aber wenn nichts anderes hilft und es keine logische Erklärung für die Krankheit gibt, können sich die Dorfbewohner entweder für klinische Studien anmelden oder sich verschanzen und mit Vorräten versorgen, um sich auf einen Dornröschenschlaf vorzubereiten.