„Siehst du, wie ich auf ihn schieße? Du Bruder einer Hure. Das ist nicht fair. Ich habe kein Scharfschützengewehr. ” Hauptmann Abdul Chadir beschoss die Scharfschützen, die in den Häusern auf der anderen Straßenseite hockten, mit 7.62-mm-Patronen und mit wütenden Beschimpfungen. „Hurensohn! Gott weiß, ich treffe ihn!”, schrie er und feuerte einen weiteren Schuss ab. Ich verhielt mich ruhig und dachte mir beim Anblick seines ausladenden Sombreros und herabhängenden schwarzen Schnurrbarts, dass er doch eher wie Pancho Villa als wie ein Peschmergakämpfer aussah.
Die Peschmerga sind die Sicherheitskräfte der kurdischen Gebiete im Nordirak. Ihr Name bedeutet so viel wie „Die dem Tod ins Auge Sehenden”. Hauptmann Chadir ist Nachrichtenoffizier im Zweiten Bataillon, Dritte Brigade. Anfang Juli 2014 begleitete ich seine Einheit in Dschalawla, einer Kleinstadt 130 km nordöstlich von Bagdad. Die Schlacht um Dschalawla war lange unentschieden. Mal hatten die „Pesch” die Oberhand und manchmal wurde das Geschehen von den Kämpfern des selbst ernannten Islamischen Staats dominiert.
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Wenn der Ausgang der Gefechte von der Intensität der Beschimpfungen abgehangen hätte, hätte Chadir seinen Gegner sicher problemlos bezwungen. Aber er hatte sein Ziel noch nicht getroffen und nach jedem seiner Schüsse „antwortete” sein Gegenüber mit Gegenschüssen auf die umlagerte Schuruk-Mittelschule, die dem Zweiten Bataillon als Hauptquartier diente. Ich konnte spüren, wie die Kugeln gegen die Dachkante klirrten und lehnte mich hinter die schützende Wand.
Kurz vorher hatte ein Peschmerga einen Handschuss abbekommen. Ein anderer hatte fast ein Auge verloren, als ihm ein von einer abprallenden Kugel aus der Wand gerissener Betonsplitter ins Auge flog.
Auf einer Trage lag ein 25-jähriger, in Binden gewickelter Mann namens Anwar Salah. Eine Kugel hatte ihn in den Oberschenkel getroffen. Wenn sie seine Oberschenkelschlagader durchtrennt hätte, wäre er in vier Minuten ausgeblutet und gestorben.
Als der Schusswechsel noch einmal an Heftigkeit zunahm, zeigte ein anderer Offizier, der sich mit mir auf dem Dach befand, zu einer Stelle, wo die Kugeln des IS einschlugen. Er deutete auf den kleinen Umfang der Einschusslöcher in der Wand. „Fünf fünf sechs”, sagte er, womit er sagen wollte, dass die Salven aus einem Gewehr kamen, das mit den 5.56 x 45 mm NATO-Patronen schoss.
Diese Kugeln konnten aus einem M16 amerikanischen Ursprungs oder einem M4 stammen. Sogar der Klang war ein anderer. Wenn der Scharfschütze auf uns schoss, gab es einen hohen Ton, wie das Knallen einer Peitsche, während Chadirs Kalaschnikow ein lautes tiefes Ka-ka-ka-kaa machte.
Wenn sie mit M16ern auf uns schossen, hieß dass, das die Gefechtsstärke des Islamischen Staates die unsere in jeder Hinsicht weit überstieg.
Es war ein Vorteil, der zum Teil damit zu erklären war, dass die von den Amerikanern ausgerüstete irakische Armee aus Mosul geflüchtet war, und dabei die Ausrüstung einer kompletten Division zurückgelassen hatte, die der IS dann nur noch einzukassieren brauchte. Darunter waren große, schicke Militärfahrzeuge und Waffen wie Panzer, Artillerie und minenresistente und anschlagssichere MRAP-Fahrzeuge, daneben aber auch eine riesige Anzahl hochpräziser, in Amerika produzierter Kleinwaffen, die sich in den Händen der IS-Kämpfer als die möglicherweise noch größere Gefahr erweisen könnten.
Die im Irak einst dominante sunnitische Mehrheit hat seit der von den USA angeführten Entmachtung Saddam Husseins ihre Privilegien eingebüßt, nachdem eine mehrheitlich aus Schiiten bestehende Regierung die Macht übernahm—eine Regierung, die viele Kritiker für ebenso korrupt und brutal hielten, wie die des gestürzten Diktators. Die militante Sunnitengruppe, die früher unter dem Namen ISIS (oder ISIL) gegen die schiitisch-alawitische Regierung Baschar al-Assads in Syrien kämpfte, begann sich bald auch nach Osten zu orientieren, wo sie unter den unzufriedenen Sunniten im Irak ihre Chance witterte.
Anfang Januar begann sie die Grenze zu überqueren und Allianzen mit ein paar baathistischen Gruppen zu bilden, die sich mit ihren früheren Verbindungen zu Saddam Hussein brüsteten. Ende Mai kontrollierte ISIS bereits einen großen Teil der Provinz Anbar im Westirak, darunter Falludscha. Menschenrechtsgruppen schätzen, dass fast eine halbe Millionen Iraker flüchten mussten.
Diesen Sommer gelang ISIS der bisher größte Erfolg, indem sie mit nur 3.000 Kämpfern die Kontrolle über Mosul, die zweitgrößte Stadt des Irak übernahm. Eine komplette Division der irakischen Armee—bis zu 15.000 Soldaten—floh, fast ohne jede Gegenwehr, und ließ Mosul, ebenso wie die ölreiche Stadt Kirkuk, ohne jeglichen Schutz zurück.
Es folgte ein Blitzkrieg weiterer Attacken gegen Städte wie Sindschar und Tal Afar. Die Brutalität der Methoden von ISIS wurde von den Videoaufnahmen von Massenhinrichtungen, Kreuzigungen und Enthauptungen untermalt. Eine Atmosphäre der Unbesiegbarkeit und des Terrors umgab die Gruppe.
Nachdem sie die Grenzen zwischen dem Irak und Syrien ausradiert und Truppen von circa 30.000 Mann um sich geschart hatte, rief ISIS ein neues Kalifat aus—einen souveränen Staat, der die absolute Autorität über alle Gläubigen beanspruchte. Eine Million Iraker flohen daraufhin aus ihrer Heimat.
Ermutigt marschierte der IS weiter in Richtung Süden auf Bagdad zu und in den Osten zu den kurdischen Territorien. Die Kurden schlugen jedoch zurück. Sie schickten Peschmergatruppen, um die Ölvorkommen Kirkuks zu sichern, einer Stadt, die für die Kurden seit jeher zu Kurdistan und zu ihrem historischen Erbe gehört.
Die Autonome Region Kurdistan hatte sich bereits seit Anfang des Sommers um amerikanische Waffenlieferungen bemüht, um den gemeinsam Feind ISIS bekämpfen zu können—ohne Erfolg. Die Amerikaner haben die Kurden im Laufe der Geschichte schon etliche Male im Stich gelassen. 1975 gelang es den irakischen Truppen Saddam Husseins nicht, die kurdischen Gebiete zu kontrollieren oder die Peschmerga niederzuschlagen—vor allem wegen der direkten Unterstützung der Kurden vonseiten des damals noch proamerikanischen Irans. Als Hussein und der Schah mit amerikanischer Unterstützung einen Deal abschlossen, setzte der Iran seine Unterstützung der Kurden aus und der irakische Diktator konnte einmarschieren und den kurdischen Widerstand niederschlagen.
Am Ende des Zweiten Golfkriegs 1991 forderte die Regierung von Präsident George H. W. Bush sowohl die Schiiten im Süden als auch die Kurden im Norden auf, gegen Saddam Hussein zu rebellieren. Aber als sie es dann taten, blieben die USA ihnen, abgesehen von der Einrichtung von ein paar Flugverbotszonen, jede Hilfe schuldig und Hussein blieb an der Macht.
Der dritte und ultimative Verrat an den Kurden kam nach dem Sturz Husseins durch die von den USA angeführte Invasion von 2003. Anstatt den Kurden die Schaffung eines eigenen Staates zu ermöglichen, setzte die USA sie unter Druck, die erzwungene Ehe mit dem Irak aufrechtzuerhalten, der nun von der schiitischen Minderheit regiert wurde. Auch diesen Sommer sträubten sich die USA, den Peschmerga Waffen zu liefern. Regierungsvertreter machten sich Sorgen, dass die Bewaffnung die Kurden ermuntern würde, sich doch vom Irak abzuspalten.1 Und jetzt, wo die Kurden Kirkuk und sein Öl nach der Flucht der irakischen Armee wieder unter ihrer Kontrolle hatten, gab es für die Kurden wenig Grund zu bleiben.
Dennoch übten die USA Druck auf die Peschmerga aus, in der Union zu verbleiben, da sie ihnen einen erfolgreichen lokalen Widerstand gegen den IS zutrauten. Ich war nach Dschalawla gekommen, um zu schauen, ob diese zur Peschmergaarmee ernannte ehemalige Guerillagruppe das Zeug dazu hatte, dem Kalifat des Hasses in seinem Siegeszug Einhalt zu gebieten.
1 Die Enthauptung des amerikanischen Journalisten James Foley scheint für die USA der Wendepunkt gewesen zu sein. Mit der Hinrichtung hatte der Islamische Staat nicht nur die rote Linie überschritten, sondern auch noch vor den Augen aller Welt drauf getanzt. Anfang August ordnete Präsident Obama Luftangriffe an, um dem Vormarsch der IS auf die kurdische Hauptstadt Erbil Einhalt zu gebieten und einer Koalition von Kommandos der kurdischen Peschmerga und der irakischen Armee zu helfen, den Mosul-Staudamm von den IS-Kämpfern zurückzuerobern. Die Luftangriffe sind inzwischen auf andere Ziele im Irak und das Hauptquartier des Islamischen Staats in Raqqa, Syrien, ausgeweitet worden.
Ich landete am 4. Juli 2014 in Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Es war der 238. Geburtstag der USA und der Beginn der zweiten Woche des heiligen Monats Ramadan.
Als ich den Irak 2006 das letzte Mal besucht hatte, war der Internationale Flughafen von Erbil noch eine Hütte mit einem einzigen Terminal. Bei meiner ersten Fahrt durch die Stadt erkannte ich sie kaum wieder. In jedem Straßenblock waren neue Wohn- oder Geschäftsgebäude entstanden. Ich kam an großen, westlich anmutenden Malls und mehrstöckigen Hotels vorbei. Ich wollte mir den Strom der Flüchtlinge ansehen, die der IS losgetreten hatte, als er in den Irak vordrang.
Das Chazir-Flüchtlingslager liegt 40 Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Hier hatte man Tausende Iraker, die nach der Eroberung Mosuls, Tal Afars, Sindschars und anderer Städte geflohen waren, in der Hitze der Wüste in Zelten untergebracht. Jeden Tag erreichten Hunderte weitere Menschen das Camp. Wer Glück hatte und früh genug angekommen war, wohnte in einem der Zelte der UN-Flüchtlingskommission. Andere lebten in ihren Autos und Trucks.
Ich kam am frühen Abend an, als die Sonne gerade am Horizont unterging. Auf unserem Weg zu Fuß durch das Camp waren wir bald von Leuten umringt, die ihre Geschichten erzählen wollten. „Mein Cousin war Polizist, und obwohl alle flohen, blieb er in der Station und versuchte zu kämpfen”, sagte ein Turkmene aus Mosul namens Hadschib Mustafa Muhammad. „Daesch2 erwischten ihn, schlugen ihm den Kopf ab und warfen seine Leiche auf die Straße. Dann fanden sie sein Telefon und riefen mich an. ‚Wenn du Manns genug bist, komm und hol die Leiche’, sagten sie.”
Viele Sunniten waren der Meinung, dass die schiitisch dominierte irakische Regierung für ihre aktuellen Probleme verantwortlich war. Aber sie waren auch keine Freunde des Islamischen Staats.
Der 23 Jahre alte Odai Saadun, der auch aus Mosul kam, erzählte, dass er und seine Frau, sein Vater und sein Bruder seit einem Monat in einem Zelt im Flüchtlingslager lebten. „Wir haben vor beiden Seiten Angst”, erklärte er. „Wir sind wegen der irakischen Armee geflohen, aber Daesch hat uns auch willkürlich bombardiert.”
Abdul Hadi Mustafa, seine Frau und sieben Kinder waren erst in der Nacht zuvor aus Tal Afar, in Syrien, angekommen: „Wir haben Granateneinschläge gehört, also sind mein Nachbar, ein Lehrer und ich nach draußen gegangen, um nachzuschauen. Eine Granate explodierte ganz in unserer Nähe und mein Nachbar wurde verletzt. Wir brachten ihn ins Krankenhaus. Der Arzt der noch dort war, sagte, dass eine wichtige Arterie getroffen worden sei, und er nichts mehr tun könne.”
Mustafa erfuhr später, dass der Lehrer in einem irakischen Armeehubschrauber nach Bagdad ausgeflogen wurde und überlebt hatte. Nach einem weiteren Tag des Beschusses floh er aus der Stadt in die Sicherheit des Flüchtlingslagers.
2 „Daesch” ist das arabische Akronym für den Islamischen Staat des Irak und des Levant. Arabische Linguisten sagen aber auch, dass „Daesch” ähnlich klingt wie ein Wort, das so viel bedeutet wie „jemand, der etwas mit dem Fuß zertritt, oder jemand, der Zwietracht sät” und dass es meist eine negative Konnotation hat.
Ich kehrte am nächsten Abend noch einmal in das Camp zurück. Dessen Bevölkerung schien sich in den letzten 24 Stunden noch einmal verdoppelt zu haben. Familien campten am Straßenrand und als die kurdischen Pick-ups mit Eis und Nahrungsmitteln vorfuhren, stürzten sich Männer und Frauen panisch auf sie, um zu ergattern, was sie irgend konnten.
Es werden immer mehr Peschmergasoldaten nötig, um Ordnung zu bewahren. Manche benutzten Gummischläuche oder Elektroschocker, um die Flüchtlinge davon abzuhalten, sich auf die Trucks zu stürzen. Hunderte Hände griffen über die Seitenwände der Trucks nach den Plastiktaschen mit Essen aus den Restaurants des Ortes oder dem Eis, das Schutz vor der gnadenlosen Hitze bieten sollte.
In den Zeltlagern ging es etwas ruhiger zu. Die Leute hatten sich einen etwas geregelteren Lebensrhythmus angewöhnt, nachdem sie schon einen Monat oder mehr als Flüchtlinge in dem Lager lebten. Wir fanden Odai wieder, einen der jungen Männer, mit denen wir am Vortag gesprochen hatten und der gerade einen Eimer mit Erde füllte, mit der er die Außenkanten seines Zelts abdichten wollte. Die Erde sollte als Schutzwall gegen die Skorpione oder Schlangen dienen, die in den Zelten nach Wärme und Feuchtigkeit suchten.
Odai lud uns zu sich ins Zelt ein, das seiner Frau, seinen Kindern, seinen Eltern und seinem Bruder Abd mit dessen Familie als Behausung diente. Es war ganz anders, als ich erwartet hatte. Obwohl ich sicher bin, dass es weit von dem Komfort ihres eigenen Hauses entfernt war, war das Zelt geräumig, und Teppiche und Matten bedeckten den blanken Boden.
Es gab einen großen Propankocher, und ein 20 Zoll Fernseher mit Dutzenden Kanälen war mit einer mobilen Satellitenschüssel vor dem Zelt verbunden. Eine ihrer Töchter, die an einer kognitiven Behinderung litt, schaute sich Trickfilme an, während der Rest der Familie im Halbkreis am Boden saß und Reis und Gemüse aus Styroporkisten zum Abendessen aß, die sie von einer örtlichen Hilfsorganisation erhalten hatten.
Odais Vater, Saadun Lafta, sagte, dass die Familie Mosul vor über einem Monat verlassen hatte. Sie waren dort um ein Uhr nachts losgelaufen und am gleichen Tag um 15 Uhr in dem Lager angekommen. Sie waren sunnitische Araber. Saadun sagte, er wäre unter Saddam Hussein Unteroffizier in der irakischen Armee gewesen und hätte 1980-88 gegen den Iran gekämpft. Wie sein Sohn sah auch er die Schuld auf beiden Seiten.
„Irak steht am Rande des Abgrunds”, sagte er. „Die Sunniten und Schiiten werden nicht miteinander verhandeln und sie werden beide verlieren.” Er fügte hinzu, dass die Amerikaner einen ebenso großen Anteil Schuld an ihrer misslichen Lage trugen.
„Sie sagten, sie würden hier nach Massenvernichtungswaffen suchen. Sie fanden keine. Dann zerstörten sie die Armee und das Land. Und dann überließen sie uns unserem Schicksal.”
Trotz ihrer gegenwärtigen Schwierigkeiten war Saadun vehement dagegen, das Land entlang religiöser oder ethnischer Linien unter den Sunniten, Schiiten und Kurden aufzuteilen. „Wir sind ein Volk, ein Land”, sagte er. „Mit einer neuen Regierung können wir überleben.”
Aber in diesem Moment sah es leider wirklich nicht danach aus.
Nachdem wir das Chazir-Flüchtlingslager gesehen hatten, fuhren wir nach Südosten entlang der Biegungen des Dukan und an dem majestätischen Berg Piramagrun vorbei zur zweitgrößten Stadt Kurdistans Sulaimaniyya.
Unser erstes Ziel war ein ehemaliger Posten der irakischen Armee namens Banmaqan. Die Basis befindet sich auf einem Hügel, der das ehemalige Schmugglerdorf Dschamdschamal von der Ölstadt Kirkuk trennt. In den 90ern war Banmaqan der Schrecken der Anwohner. Die irakische Armee feuerte von der Basis aus mit Artilleriegeschossen auf Dschamdschamal und die Anwohner lebten in der Angst, dass Saddam Hussein sich, wenn er mal einen schlechten Tag hatte, jederzeit entschließen konnte, das Dorf einfach komplett auszulöschen.
Dschalawla ist einer der strategisch wichtigsten Punkte der Frontlinie zwischen dem Islamischen Staat und den kurdischen Peschmerga. Wenn der IS die Stadt übernähme, könnte sie ihm als Einfallstor für die Invasion des nur zwei Stunden südlich gelegenen Bagdads dienen. Ich entschied also, dass es am Wichtigsten für uns war, herauszufinden, was in Dschalawla passierte, aber um dorthin zu gelangen, brauchte ich die Hilfe eines der wichtigsten und am besten vernetzten Männer der Region: Scheich Muhammad Schakeli.
Der Scheich ist ein ehemaliger Peschmergakommandant und jetzt inoffizieller Berater der Autonomen Region Kurdistan. Er lebt ein paar Kilometer außerhalb der florierenden kurdischen Stadt Chalar, die ein kleines Stück nördlich von Dschalawla liegt. Ich hatte Glück, dass er ein Freund der Familie meines Übersetzers Muhammad Dschalizada war. Es war bereits später Nachmittag, als ich sein Haus erreichte, am Rande eines üppigen, fünf Hektar großen Obstgartens. Hier, inmitten der glühenden Wüstenhitze Garmians, tat sich eine Oase auf. Bäume mit Zitronen, Granatäpfeln und Oliven reihten sich aneinander.
Hier lebten Kurden und Araber auf bescheidene, aber eindrucksvolle Weise Seite an Seite. Der Verwalter des Scheichs war ein Araber, ebenso wie die Schäfer und die Pächter, die auf seinem Land leben und arbeiten durften und einen Teil dessen, was sie produzierten, selbst behielten.
Der Obstgarten war noch vor nicht allzu langer Zeit ein Schlachtfeld gewesen. Nur 50 km südlich war Dschalawla das immer noch. Das Land gehörte seit Generationen der Familie des Scheichs. 1988 hatte man sie während Saddam Husseins Al-Anfal-Kampagne enteignet, eine einem Völkermord gleichkommenden Militäroperation, die den kurdischen Widerstand gegen die irakische Herrschaft ein für alle Mal ausmerzen sollte. Männer im wehrfähigen Alter wurden zusammengetrieben, hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Die kurdischen Behörden sind der Meinung, dass in der fast ein Jahr andauernden Operation 182.000 Kurden ermordet wurden, Human Rights Watch geht von zwischen 50.000 und 100.000 Toten aus.
Der Scheich, der Anführer der Garmianer Einheit der Peschmerga, war damals in die Berge geflohen. Als sich die Kurden 1991 während des Zweiten Golfkriegs unter dem Druck der USA gegen das Regime erhoben, kehrte er nach Hause zurück, um sein Land zurückzufordern. Bei seiner Ankunft musste er feststellen, dass ein irakischer Kommandeur und seine Offiziere dort lebten. Statt sich zu rächen, ließ er sie ziehen und erlaubte ihnen, in ihre Armeebasis zurückzukehren.
Als ich ihn fragte, warum, zuckte er nur mit den Schultern. „Was für einen Sinn hätte das gehabt? Es waren ja genug Leute gestorben.”
Heute wirkte der Scheich dünn, fast zerbrechlich. Er war ein bloßer Schatten des robusten Guerillakommandeurs, den wir auf den Fotos an den Wänden seines Hauses sahen. Dennoch strahlte er, wenn er leicht gebeugt durch seinen Obstgarten lief immer noch das konzentrierte Selbstvertrauen eines Mannes aus, der ein gerechtes Leben geführt hat und sich nun an seiner irdischen Belohnung erfreut.
Der Scheich hatte, wie die meisten kurdischen Iraker, gemischte Gefühle gegenüber den USA. „Die Kurden haben Amerika mit Blumen begrüßt, aber die Amerikaner haben sie ignoriert oder sogar zurückgewiesen”, sagte Scheich Schakeli. „Aber wenn es diese Art von Druck gibt, können sich politische Entscheidungen auch ändern.” Der Druck, den er damit meinte, war natürlich der Aufstieg des Islamischen Staats. Er glaubte zwar, dass die Kurden sich auch allein gegen den IS behaupten könnten, aber das Problem würde deswegen nicht einfach verschwinden. „Wir können nicht mit ihnen leben oder verhandeln, und das sollten wir auch nicht”, sagte er. „Im Moment können wir uns noch selbst verteidigen. Aber das Problem ist ein internationales und betrifft die gesamte Region. Wir sind nicht die einzigen, die damit umgehen müssen. Besonders jetzt, wo sie das Kalifat ausgerufen haben, das Menschen aus aller Welt anzieht—all diejenigen, die an dieses illusorische Projekt glauben. Die Länder der Region sind auch von der Bewegung bedroht—Saudi-Arabien, Jordanien, Ägypten, der Iran.”
Er glaubte zudem, dass die Gefahr sich sehr schnell über den Mittleren Osten hinaus ausbreiten würde. „Ich glaube, dass sie ihre Fronten schon sehr bald ausweiten werden. Ich denke, ihr nächstes Ziel wird der Westen sein. Sie haben die nötigen Truppen, Ressourcen, Werkzeuge und Kommunikationskanäle.”
Er lud uns ein, gemeinsam das tägliche Fastenbrechen zu feiern, das Abendessen während des Ramadans. Es würden wichtige Männer aus der Gemeinde anwesend sein, darunter ein arabischer Scheich und seine Söhne, die schon vor Jahren vor der Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten aus Bakuba in die Sicherheit des kurdisch kontrollierten Chalar geflohen waren. Der arabische Scheich führte vor der Mahlzeit das gemeinsame Gebet mit dem kurdischen Scheich und dem Rest der Männer an. Diese Geste war ein weiterer kleiner Widerspruch zu dem Satz, den ich während meiner Reise so oft zu hören bekommen hatte: Kurden und Araber können nicht friedlich zusammenleben. Nach dem Gebet verspeisten wir ein üppiges Mahl aus Huhn, Okra, Reis und Naan, dessen Zutaten allesamt aus dem Obstgarten stammten. Nach dem Essen begann Scheich Schakeli ohne viel Aufhebens die nötigen Vorkehrungen zu treffen, um uns für unsere Reise nach Dschalawla den Weg zu ebnen.
Der Scheich vermittelte mir den Kontakt zu dem Bürgermeister der Region Garmian, der seinen Kommunikationsdirektor, einen cleveren Typen namens Haval Ibrahim, zu uns schickte. Ibrahim würde mir helfen, nach Dschalawla zu gelangen.
Ibrahims erster Schritt war, uns in eine Peschmergabasis in der Stadt Chanaqin zu bringen, dem Hauptquartier von General Hussain Mansur, dem Militärkommandeur der südlichen Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan. Wir brauchten seine Erlaubnis, um an die Front zu gelangen. Während wir in einem kleinen Zimmer vor seinem Büro warteten, trafen wir einen Sunniten aus Dschalawla, der sich von dem General Hilfe bei der Suche nach seinem verschwundenen 15-jährigen Neffen erhoffte.
„Ich habe die Kurden früher gehasst, aber dieser Konflikt hat gezeigt, dass sie uns nicht benachteiligen. Sie behandeln die Araber im Allgemeinen sehr gut”, sagte mir der Mann. Ein Grund hinter seinem Sinneswandel sei ein Vorfall aus dem vergangenen Jahr gewesen, als man ihn eines Verbrechens beschuldigte, aber dann jeglicher Vergehen freisprach. Er erzählte, dass der kurdische Polizeichef ihn zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen und dann persönlich nach Hause gefahren habe.
Als wir in das Büro von General Mansur geführt wurden, fragte er uns noch, bevor wir uns setzen konnten, nach unserem Anliegen. Ich sagte ihm, dass wir versuchten, nach Dschalawla zu reisen, und er rief seinen Stellvertreter und beauftragte ihn, uns auf der Stelle dorthin zu bringen. Der Mann verschwendete keine Zeit. Er hatte einen Krieg zu führen und er wusste, dass ein amerikanischer Reporter ihm helfen würde, seine Botschaft an die Öffentlichkeit zu bringen.
Ich sprang mit sechs Peschmergasoldaten auf die offene Ladefläche eines Pick-ups. Während der circa 10 km nach Dschalawla sangen die Peschmerga, allesamt junge Männer in ihren 20ern, ein traditionelles Frage-und-Antwort-Lied. Darin ging es im Wesentlichen um ihre Treue zu Kurdistan und ihren Schwur, es nie zu verlassen.
Als wir in Dschalawla ankamen war ich zunächst überrascht, wie leergefegt und wie schlimm beschädigt es war. Die Wände waren mit den Einschlaglöchern aus Kleinfeuerwaffen und Artilleriegeschossen übersät, auf den Straßen waren überall Granatenkrater,.
Ein Peschmerga namens Nasim sagte mir, dass er vor ein paar Nächten einen Kämpfer des IS in einem Gefecht getötet hatte.
„Wenn ein Iraker getroffen wird, kommen sein Freunde und holen seine Leiche”, sagte Nasim. „Aber wenn es ein Ausländer ist, lassen sie die Leiche einfach liegen. Keiner kümmert sich um sie. Alle Leichen, die wir geborgen haben, waren von ausländischen Staatsangehörigen. Wir finden ihre Pässe oder Ausweisbilder.”
Die meisten Bewohner Dschalawla hatten ihre Wohnhäuser und Geschäfte verlassen und mit Brettern vernagelt und waren nach Chanaqin, Chalar oder, wenn sie Kurden waren, weiter in den Norden geflohen. Araber brauchten Freunde oder Beziehungen zu kurdischen Familien, um in die kurdisch kontrollierten Gebiete einreisen zu dürfen. Ansonsten wurden sie am Stadtrand von Chanaqin, der ersten Stadt hinter Dschalawla abgewiesen. Auf meinem Weg nach Dschalawla hatte ich gesehen, dass viele von ihnen dort auf den Ladeflächen von normalerweise zum Viehtransport verwendeten Lkws lebten, in ihren Autos oder in notdürftig aus Planen und Stangen improvisierten Zelten. In der Hitze und dem Staub gaben sie ein Bild des Elends ab.
Bevor wir an dem Außenposten der Peschmerga ankamen, beschleunigte unser Fahrer auf 90 km/h—eine Vorsichtsmaßnahme gegen die Scharfschützen, die regelmäßig auf die kurdischen Fahrzeuge schießen, die sich der Schule nähern oder von ihr wegfahren.
Das Direktorenzimmer der Schuruk-Mittelschule, deren Name auf Arabisch „Sonnenaufgang” bedeutet, war jetzt das Büro des Kommandeurs des Bataillons, General Scherzad Muhammad Salah, ein kleiner, distinguiert wirkender Mann in der sandfarbenen Uniform der US Marines mit dem digitalen Tarnmuster, allerdings mit schwarzem, mit goldenem Adler und drei Sternen versehenen Schulterklappen, die seinen Rang als Brigadegeneral anzeigten. Er saß hinter einem großen Holztisch, an der Wand eine Karte Afrikas sowie Regale voller Sporttrophäen. Um ihn hatte sich eine Gruppe seiner Offiziere versammelt.
Soweit ich sehen konnte, trugen sie alle Uniformen unterschiedlicher Herkunft mit verschiedenen Stilen und Tarnfarben, als hätten sie ein Armeegeschäft voller Klamotten aus den Krisenregionen dieser Welt ausgeraubt. Da waren die amerikanischen Wüsten-Outfits aus dem Zweiten Golfkrieg mit ihrem Chocolate-Chip-Muster sowie verschiedenste Wald- und Stadttarnmuster. Ich deutete das als ein weiteres Kennzeichen dafür, dass die Truppe trotz ihres guten Rufs weder über gute Ausrüstung noch über große finanzielle Ressourcen verfügte und eher informell organisiert war. Sie kamen mir eher wie eine Miliz vor, als wie eine Armee.
Wie bei den meisten Kurden, teilte sich die Loyalität der Truppe zwischen den zwei politischen Organisationen, der Demokratischen Partei Kurdistans und der Patriotischen Union Kurdistans, auf. Beide Parteien haben nach wie vor die Kontrolle über ihre eigenen Einheiten der Peschmerga. Obwohl die Peschmerga also auf dem Papier unter der Kontrolle von Massud Barzani, dem Präsident der Autonomen Region Kurdistan, standen, hatten sie praktisch gesehen keine einheitliche Kommandostruktur.
General Scherzad bestätigte, dass die Welt im Moment zwar große Hoffnungen in die kurdischen Peschmergatruppen setze, aber wenig getan habe, um sie zu bewaffnen und für den harten Kampf, in dem sie sich derzeit befinden, zu wappnen.
„Wir haben weder von der internationalen Gemeinschaft irgendeine Form der Hilfe oder Unterstützung bekommen, noch hat die irakischen Regierung uns kontaktiert, um den Kampf gegen Daesch zu koordinieren”, sagte er. Als ich mich im Raum umsah, konnte ich sehen, dass sogar die Gewehre, die die Offiziere umgehängt hatten, gebrauchte und verbeulte Kalaschnikows waren—die zwar noch funktionierten, aber in keiner Weise mit der Ausrüstung zu vergleichen waren, die der IS inzwischen gekauft oder erbeutet hat.
Die USA haben Milliarden Dollar darauf verwendet, die irakische Armee nach dem Sturz Saddams auszubilden und auszurüsten. Obwohl die Armee mit fast einer Viertelmillion aktiver und gut ausgerüsteter Truppenangehöriger riesig war, litt sie Berichten zufolge an tief verwurzelter Korruption. Ernennungen zum Offizier konnten gekauft und verkauft werden und Feinde erledigt oder Konkurrenten durch einen simplen Anruf beim Innenministerium zur Strecke gebracht werden. Und sie zerfiel schon beim ersten Angriff der sehr viel kleineren Streitkräfte des Islamischen Staats.
Kurze Zeit nach meiner Ankunft in der Schule fiel mir ein rotes Geländefahrzeug auf, das vor dem Gebäude vorgefahren war. Es war von Peschmerga umzingelt, die versuchten, einen Blick auf die Ladefläche zu werfen. Die Kofferraumklappe stand offen und im Inneren lag eine in eine Decke gewickelte verwesende Leiche. Der faulige Geruch verwesenden Fleisches durchdrang die feuchte Luft mit seinem unerträglichen Gestank. Die jungen Peschmerga schien das nicht abzuschrecken, sie zogen ihre Handys heraus und machten Fotos von dem Kadaver.
„Wer ist das?”, fragte ich meinen Übersetzer, Muhammad, der sich zu erkundigen begann.
Ein Soldat sagte uns, dass die Leiche aus einem der zerstörten Gebäude stamme, und es sich wahrscheinlich um einen Anwohner handele.
Dann trat der Sunnit aus Dschalawla, den ich in General Monsurs Büro getroffen hatte, an das Fahrzeug heran und warf einen Blick auf die Leiche. Ohne erkennbare Gemütsregung drehte er sich schnell wieder weg.
„War er es?”, fragte ich ihn, bevor er wegging. Sein junger Neffe?
„Nein”, sagte er, und schüttelte mit sichtbarer Erleichterung seinen Kopf, auch wenn er der Aufklärung des mysteriösen Verschwindens seines Familienmitglieds noch keinen Schritt nähergekommen war.
Nach dem Schusswechsel auf dem Dach sagte uns General Scherzad, dass wir zu einem anderen Außenposten der Peschmerga in Dschalawla wechseln würden, der sich im ehemaligen Gerichtsgebäude befand und sich weiter südlich und näher an dem letzten Bollwerk des IS in dem ehemaligen Rekrutierungsdepot der irakischen Armee in Tadschnaid befand. Dort trafen wir auf weitere Mitglieder des Zweiten Bataillons, Dritte Brigade, und setzten uns in einem mit Sandsäcken bewehrten Gebäude auf ein paar Sofas zusammen.
Durch ein Schussloch in einer der Wände konnten wir die etwa einen Kilometer entfernte Stellung des IS mit der inzwischen berüchtigten schwarzweißen Flagge sehen.
Der General glaubte, dass in der kommenden Nacht etwas Wichtiges bevorstand, weigerte sich aber, mir zu sagen was. Also warteten wir, tranken Tee und rauchten Zigaretten, während die Peschmerga an ihren Handys herumspielten.
Die Peschmerga schienen ihre Energie in diesem Krieg aus drei Dingen zu ziehen: dem endlosem Trinken von überzuckertem Chai-Tee; langen, dünnen, billigen koreanischen Zigaretten; und ihren Handys, die sie die ganze Zeit über fester umkrallt hielten als ihre Waffen, und die sie benutzen, um Gefechte zu filmen, Leichen toter IS-Kämpfer zu fotografieren und Berichte und Befehle von ihren Kommandanten entgegenzunehmen.
Irgendwann beschloss einer der Offiziere der Einheit in dem Gerichtsgebäude, Hauptmann Oskar Ali Akbar, die Anwesenden mit etwas Gesang zu unterhalten. Wie die jungen Peschmerga bei meiner Fahrt nach Dschalawla auf dem Pick-up, führte er eines der traditionellen kurdischen Frage-und-Antwort-Lieder an, in das die Gruppe Namen von Leuten aus der Truppe oder ihre Heimatorte einfügten, um dem vertrauten Lied eine komische Note zu geben. Das schallende Gelächter verstummte, als Hauptmann Akbar ein zweites Lied anstimmte, eine exotische und hypnotisierende Melodie, die als hairi bezeichnet wird. Er hielt sich eine Hand an sein Gesicht und legte den Kopf an die Seite, wie ein DJ, der sich die Kopfhörer ans Ohr hält, während er eine Platte auflegt. Er sang a cappella, aber der nasale Hall seiner Stimme verlieh ihm den Eindruck, als würde er von einem Instrument begleitet. Die Soldaten saßen wie versteinert und nahmen seine Vorstellung mit ihren Handys auf, um sie sich später, wie ich beobachten konnte, immer und immer wieder anzusehen.
Irgendwann ging ich dann nach draußen, um mich gemeinsam mit dem Kommandeur der Einheit, Major Omar Abdul Rahman, einem glatzköpfigen, drahtigen Mann mit grauem Bart und einem kleinen Fernglas um den Hals, auf dem Außenposten umzuschauen. Er führte uns in die ehemaligen Richterzimmer, wo man sehen konnte, dass das Gebäude von den IS-Leuten ausgeweidet worden war, bevor die Peschmerga sie vertrieben.
Die Möbel waren umgeworfen worden und überall war Papier verstreut, außerdem hatte jemand, vielleicht als Ausdruck seiner Verachtung für die säkulare Rechtsstaatlichkeit, einen Scheißehaufen in die Mitte eines Raumes, der wohl einmal eine kleine Bibliothek gewesen war, gesetzt. Ich war mir sicher, dass es in den von ihnen eroberten und noch immer besetzten Territorien eine Menge ähnlicher Zeichen der Verachtung gab.
Als wir das Hauptgebäude verließen, waren die dort Versammelten noch bei recht guter Laune gewesen, aber bei unserer Rückkehr herrschte drückende Stille in dem Raum. Ein paar der Männer wischten sich die Augen oder bedeckten ihre Gesichter mit ihren Händen. Sie hatten gerade erfahren, dass ein beliebter 28-jähriger Peschmergakämpfer namens Zuhair Dschumma am Vorabend von einem Scharfschützen in den Kopf geschossen und getötet worden war. Er war einer von drei bei dieser jüngsten Auseinandersetzung getöteten und elf verletzten Peschmerga. Die jungen Männer waren am Boden zerstört.
Aber 45 Minuten später kehrte sich die Stimmung in ihr Gegenteil um, als eine Textnachricht eintraf, dass Dschumma doch noch am Leben sei. Etliche der Männer, denen es eben noch die Kehle zugeschnürt hatte, weinten nun Tränen der Erleichterung.
Bei Einbruch der Nacht verschwand der General mit ein paar anderen Offizieren. Aber da noch nichts passierte, versuchten die von dem emotionalen Auf und Ab erschöpften und des ewigen Teetrinkens und Rauchens leidigen Peschmerga auf den Sofas und Stühlen zu schlafen, auf denen sie den ganzen Tag und den Anfang der Nacht über gewartet hatten.
Dann erhielt einer der Soldaten noch eine SMS. Er schüttelte den Kopf, während er durch die Nachricht scrollte. Dschumma war doch tot. Ich sah mich im Zimmer um. Keiner hatte noch Tränen übrig. Um vier Uhr morgens riss uns das Knattern von Artillerie und Maschinengewehren aus dem Schlaf. Ich rannte mit meiner Kamera nach draußen und versuchte die Raketen zu sehen, die auf die Stellungen des IS niedergingen. Kommandos, vielleicht von den Spezialeinheiten der Peschmerga, gingen mit ihren Raketenwerfern von Haus zu Haus und zerstörten alle, die noch Scharfschützen beherbergen konnte.
Die Kämpfe dauerten die ganze Nacht über an, aber es war unmöglich, eine Vorstellung von dem Geschehen zu bekommen, bis es dämmerte. Auf dem Gelände waren von verschiedenen Stellen Schüsse zu hören. Ich kletterte die Betonstufen zu einem Schutzwall im Westen empor, wo ein paar Dutzend Peschmerga sich hinter einer langen Steinwand versteckten und sporadisch in Richtung der noch immer gehissten schwarzen Fahne schossen. Sie zeigten aufgeregt mit dem Finger in die Richtung und riefen: „Daesch, Daesch”, um mir zu zeigen, auf wen sie schossen—auf einen vermeintlichen IS-Kämpfer, der sich in einer nahe gelegenen Schlucht versteckt hielt. In einem anderen Teil des Feldes hatten Artilleriegeschosse das Unterholz in Brand gesetzt.
Als ein paar Hundert Meter von mir entfernt eine ohrenbetäubende Explosion zu hören war, rannte ich in Richtung der nördlichen Außenmauer des Geländes und kletterte die Böschung hinauf, um über die Mauer zu schauen. Zwei T-52-Panzer russischer Herkunft waren aus Chanaqin hier her gekommen und feuerten auf Tadschnaid. Die von ihnen hervorgerufenen Erschütterungen ließen den Boden unter uns erbeben und erinnerten mich an das letzte Mal, das ich Panzer in Aktion gesehen hatte—während der zweiten Schlacht um Falludscha im November 2004. Damals hatte ich gesehen, wie die M1A1-Panzer der US-Armee auf in den Gassen der Stadt geparkte Fahrzeuge schossen, in denen die Aufständischen Bomben versteckt haben konnten. Jetzt, zehn Jahre später, war die Stadt Teil des neuen Kalifats des Islamischen Staats.
Während die kurdischen Panzer schossen, trugen zwei Peschmerga einen verletzten Kameraden davon, um ihn in Sicherheit zu bringen. Aber trotz der großen Dynamik des Gefechts bewegte sich seltsamerweise nichts. Die Peschmerga hielten einfach die Stellung und rückten nicht vor, um den Stützpunkt des IS in Tadschnaid aus der Nähe anzugreifen. Die Kämpfe dauerten bis acht Uhr morgens an, aber es war noch immer nicht zu einem wirklichen Vorstoß gekommen.
Eine halbe Stunde später versammelte General Scherzad seine Männer und ordnete den Rückzug in die Schule an. Wir verließen den Außenposten in dem Gerichtsgebäude und liefen im Zickzack durch die Straßen zur Schuruk-Mittelschule zurück. Auf dem Weg sahen wir, dass weiter hinten noch mehr Männer und Maschinen zusammengezogen worden waren, die sich aber ebenfalls nicht in Bewegung setzten.
Als wir in der Schule ankamen, setzte ich mich mit dem General in das Direktorenzimmer. Ich fragte ihn, ob die Operation nach seinen Vorstellungen abgelaufen war. „Wir hatten hier Erfolg, und wir haben ein paar Leute verloren, aber ich habe nicht das Gefühl, dass wir komplett das erreicht haben, was ich wollte”, sagte er. „Wir hatten gehofft, dass unsere Kommandeure den Kampf auf die ganze Stadt ausweiten können, vor allem nach Tadschnaid, aber das ist uns noch nicht gelungen.”
Am nächsten Tag verließ ich die Schule mit dem General und seinen Männern, als diese in ihre Basis in Chanaqin zurückkehrten, und von einer anderen Einheit im üblichen Turnus aus einer Woche an der Front und einer Woche in der Basis ausgewechselt wurden.
Wochen später, nachdem ich nach Hause zurückgekehrt war, erfuhr ich, dass es den Peschmerga auch später nicht gelungen war, die Kontrolle über Tadschnaid zu erlangen. Stattdessen hatte der IS in Dschalawla eine Gegenoffensive gestartet und den Großteil der Stadt unter seine Kontrolle gebracht.
Die Frontlinien in Iraks jüngstem Krieg haben sich ein weiteres Mal verschoben. Hauptmann Abdul Chadar war sicher nicht erfreut darüber, aber wenigsten wussten die USA und ihre Alliierten jetzt, dass sie es sich nicht leisten konnten, die Kurden noch ein weiteres Mal zu verraten. Das nächste Mal, das er dem IS entgegentreten würde, hätte Chadir wenigstens ein neues Gewehr in der Hand.