Nach zwei Gläsern Brandy ist Dave bereit für die Operation.
Nachdem er sich über einer Woche mit starken Zahnschmerzen herumgeschlagen hat, sitzt er nun mit einigen guten Freunden in seiner Küche, um sich dem Problem als DIY-Doktor anzunehmen. Weil er anschließend ein Video von dem Eingriff auf YouTube hochlädt, sind wenige Wochen später schon mehrere Tausend User in den Genuss gekommen, dieser speziellen Form der „Behandlung” beizuwohnen.
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Dave setzt mit der Zange zum Eingriff am schmerzenden Zahn an—entscheidet sich dann jedoch, erst noch ein weiteres Glas zu leeren, um sich Mut anzutrinken. Aus dem Off mahnt ihn eine Frauenstimme, dass er sich zusammenreißen solle, während sich ein weiteres Handy ins Bild schiebt, das das Szenario ebenfalls filmt. Die ganze Prozedur zieht sich qualvoll in die Länge. Selbst als Zuschauer leidet man in jeder einzelnen Sekunde des vier Minuten langen Machwerks mit dem Patienten.
Die Riege der DIY-Zahnärzte reicht von Verschwörungstheoretikern über Prepper bis hin zu Beauty-Bloggern.
Die Szene der DIY-Doktoren, die sich statt etablierten Medizinern lieber kruden Behandlungsmethoden auf YouTube anvertrauen, ist erschreckend groß: Eine YouTube-Suche nach „DIY Dentistry” listet 11.700 Ergebnisse und alleine „DIY Teeth Scaling” (DIY-Zahnsteinentfernung) liefert schon 1.000 Treffer.
Unter den selbsternannten Heimdoktoren finden sich Verschwörungstheoretiker, die ihren Anti-Mainstream-Lifestyle auch bei der Zahnbehandlung ausleben wollen, Prepper, die sich auf den Weltuntergang vorbereiten oder jugendliche Beauty-Blogger, die ihre Zähne ohne Zahnspange oder Genehmigung der Eltern richten wollen.
In manchen Videos behandeln die YouTube-Schamanen zwar auch ihre Hunde, aber die meisten Clips zeigen, wie sich Menschen schmerzhaften Prozeduren unterziehen. Manche Videos haben eher harmlose und positive Titel („Trying to fix tooth”), andere hingegen strotzen nur so vor Selbstvertrauen und Abneigung gegenüber der regulären Gesundheitsvorsorge („DENTISTS HATE THIS VIDEO”). Die Bewegung der DIY-Zahnärzte changiert irgendwo zwischen einer unangenehmen Variante des Bio-Hackings und der Maker-Kultur in seiner extremsten Form.
Die Videos, die ich mir während des Schreibens dieses Artikels zu Gemüte führen durfte, verbinden groteske medizinische Konzepte mit einer merkwürdigen Intimität. Die Patienten lassen uns an ihren schmerzhaftesten Momenten teilhaben. Bereits die Zahnextraktionen sind schwer zu ertragen—und die Entfernung von Weisheitszähnen spielt noch einmal auf einem ganz anderen Level. Als Zuschauer sollte man einen starken Magen mitbringen—und sich regelmäßige Pausen mit Katzenvideos gönnen.
„DENTISTS HATE THIS VIDEO!”
Die weit verbreitete Angst vor dem Zahnarzt (Odontophobie) bildet die Grundlage für viele der dentalen DIY-Tutorials und -Videos, die in verschiedenen Foren und auf YouTube kursieren. Eine Behandlung in den eigenen vier Wänden stellt für manche anscheinend eine echte Alternative dar.
So fertigen sich Menschen auf YouTube mithilfe von Bastellehm und Sekundenkleber neue Zähne an, erneuern ihre Füllung mit Klebstoff aus dem Supermarkt oder ziehen sich ihren Backenzahn mit seiner Kneifzange. Ein genauerer Blick auf die Protagonisten der Videos offenbart, dass es vor allem junge Männer sind, die sich im Namen der Gesundheit mit Werkzeugen und anderen schweren Gerätschaften im Mund herumdoktern. Manche der Videomacher spielen in den Videos auch bewusst mit ihrem angeblich besonders männlichen Redneck-Image.
Trotz ihres Einfallsreichtums scheint es doch eher nur eine Frage der Zeit zu sein, bis sich die Protagonisten der Videos wieder auf einen richtigen Zahnarztstuhl begeben müssen.
Auch die Diskussion unter den Videos nimmt meist denselben Verlauf. Fast immer bricht ein Streit zwischen drei Parteien aus: den Unterstützern, die das Ganze selbst mal ausprobieren wollen, den angewiderten und ungläubigen Zuschauern und den Leuten, die behaupten, professionelle Zahnärzte zu sein, und eindringlich vor solchen DIY-Behandlungen warnen. Immer wieder werden auch Geschichten zitiert, in denen ein solcher Selbstversuch komplett in die Hose ging.
Wie eigentlich jede gegen das Establishment gerichtete Online-Szene wurden selbstverständlich auch die DIY-Zahnärzte von Verschwörungstheoretikern unterwandert. Auch wenn es hier vielleicht nur gegen das dentale Establishment geht, so steht für manche von ihnen doch etwas sehr viel Grundsätzlicheres auf dem Spiel.
Neben ihrem Wissen über die Besonderheiten einer parodontalen Ausschälung warnen diese YouTube-Enthüller auch vor den großen Pharma-Konzernen: Anti-Fluorid-Aktivisten passen da genauso ins Bild, wie alternative Gesundheitsberater, die ein Konzept von „nachwachsenden Zähnen” propagieren, das durch einen täglichen Schwarzwurzel-Eierschalen-Smoothie gefördert werden sollen. Davon schmerzt zwar dein Zahnfleisch, aber deine Magenkrämpfe werden dich sicher davon ablenken.
Und natürlich ist die DIY-Zahnbehandlung auch ein beliebtes Thema unter Preppern, die sich mit allen Mitteln auf den Weltuntergang vorbereiten. Die Anleitung Where There Is No Dentist erfreut sich unter Preppern einiger Beliebtheit. Bei Amazon und anderen Shops lassen sich die dazu passenden professionellen Füllmaterialien und Zahnarztinstrumente besorgen.
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Bei den Verschwörungstheoretikern unter den DIY-Zahnärzten wird der professionelle Zahnarzt zum Bösewicht und einem Symbol der Gier—ein Sinnbild für das allgemeine Misstrauen, das Prepper gegenüber jeglichen Behörden und staatlichen Institutionen hegen. In manchen Foren werden die DIY-Doktortipps zu einer Sache von Leben und Tod—hier vertraut man eher wildfremden Menschen als auf Anweisungen von Profis zu hören.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Protagonisten der Videos wieder auf einen echten Zahnarztstuhl begeben müssen.
Die wahren Champions der DIY-Zahnbehandlungen finden sich allerdings eher im YouTube-Mainstream wieder—genauer gesagt unter den Beauty-Bloggerinnen, die sich mit selbst ausgedachten Experimenten ihre Zähne richten.
Die Videos, in denen junge Mädchen ihre Zähne mithilfe von Zopfgummis gerade ziehen, weil ihnen ihre Eltern keine Zahnspange kaufen können, erinnern mich an die Zeit, in der auch ich noch jung, übermäßig paranoid und gelegentlich mit einer dummen Idee gesegnet war. Damals wäre vielleicht auch ich unsicher genug gewesen, um die Tipps aus den DIY-Behandlungsvideos selbst auszuprobieren.
Die Urheber dieser Videos sehen gerade mal alt genug aus, um YouTube-Kanäle zu besitzen: Manche wollen nicht mal ihre Zähne begradigen, sondern wünschen sich einfach nur den Look einer Zahnspange als Accessoire (eine Vloggerin greift für ihren Traum sogar auf Büroklammern zurück).
Wenn du dir die anderen Videos auf den Kanälen dieser Mädchen ansiehst, dann wirst du schnell feststellen, dass sie an YouTubes Beauty-Blogger-Kultur angelehnt sind: Sie dokumentieren neben ihren Bemühungen, ihre Zähne zu begradigen, auch ihre Frisuren und der Inhalt ihrer Taschen.
Doch die Realität der meisten DIY-Zahnbehandlung ist nicht annähernd so glamourös, wie die Teenie-Vlogger es gerne hätten. Meist geht es nicht nur um Schönheit, sondern auch um temporäre Korrekturen, denen sich Menschen zum Beispiel vor Bewerbungsgesprächen unterziehen oder nach denen sie endlich genug Selbstbewusstsein erlangen wollen, um das Haus zu verlassen.
Diese Szene operiert dennoch größtenteils ohne Profit. Abgesehen von dem ein oder anderen Video, in dem Kräuterheilmittelchen feilgeboten werden, besteht sie nur aus Menschen, die anderen Menschen zu helfen versuchen (indem sie ihnen Tipps geben, von deren Korrektheit sie überzeugt sind).
Beim Ansehen dieser Videos drohst auch du ein klein wenig von dir selbst in dem Grauen wieder zu erkennen—ob du sie dir nun ansiehst, weil du wirklich daran glaubst, hier eine ernsthafte Anleitung zu finden, oder weil du neugierig auf das Spektakel bist. Die meisten von uns mussten schon einen schmerzhaften Zahnarztbesuch erdulden. Genauso werden viele von uns eines Tages zahlen müssen, damit unsere Zähne gesund bleiben—entweder mit Geld, Schmerz oder Einfallsreichtum.