Die Dortmunder Nordstadt: Drogen-Ghetto, Szeneviertel oder beides?

Nachdem sich vor zwei Wochen mehr als 50 Leute bei einer Massenschlägerei in der Dortmunder Nordstadt geprügelt haben, ist der Stadtteil mal wieder in den Schlagzeilen—die Lokalzeitung schreibt, in der Nordstadt wüte ein „Drogenkrieg”. Als hätte die Dortmunder Nordstadt nicht schon genug mit ihrem schlechten Ruf zu kämpfen.

Wer Google nach dem Viertel befragt, lernt als Erstes, dass es hier Prostitution und „Armutseinwanderung” gibt und die Bulgaren (lies: Roma) für Unmut im Rest der Bevölkerung sorgen. Auch von Drogenkriminalität und „Ekelhäusern” kann man bei einer fünfminütigen Onlinerecherche erfahren. Ist die Nordstadt also ein Ghetto, wie die FAZ vor ein paar Jahren behauptet hat?

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Ganz so leicht ist die Nordstadt nicht zu fassen. Auf der anderen Seite machte zum Beispiel vor Kurzem der Text eines Dortmunder Bloggers die Runden, der die Nordstadt als „Dortmunds Kreativviertel Nummer Eins” pries und erklärte, der Stadtteil sei „mittlerweile schon so hip geworden, dass man an lauen Abenden den Eindruck hat, man sitze in Berlin Kreuzberg herum.” Der Blogger ist sich sicher: „Hier wird die Gentrifizierung als nächstes zuschlagen”. Die beiden Bilder passen nicht zusammen. Aber was ist die Wahrheit über die Nordstadt?

Migration und Armut haben hier Geschichte

Von der Fußgängerzone in der Dortmunder Innenstadt sind es nur wenige Minuten bis in die Nordstadt. Hinter der Eisenbahnlinie, die die Stadt seit dem 19. Jahrhundert teilt, ist trotzdem alles ein bisschen anders. Mehr als die Hälfte der Menschen hier hat einen „Migrationshintergrund”—43 Prozent haben keinen deutschen Pass.

Migration und Armut sind hier aber nichts Neues. Als das Viertel im 19. Jahrhundert geplant wurde, war bereits klar, wer hier wohnen soll: Zuerst kam die Dorfbevölkerung aus vielen Teilen Deutschlands, dann kamen Polen, später in den 1950er und 60er Jahren „Gastarbeiter” vor allem aus der Türkei. All diese Menschen sollten die nahegelegenen Zechen und Industriebetriebe im wachsenden Ruhrgebiet mit der dringend benötigten Arbeitskraft versorgen. Weil dafür neuer Platz benötigt wurde und das bürgerliche Dortmund den proletarischen Pöbel nicht direkt vor der eigenen Haustür wollte, musste ein neuer Stadtteil her.

Heute ist vor allem eines anders als damals: Kohle wird hier schon lange nicht mehr gefördert und auch ein Großteil der restlichen Industriebetriebe hat seine Tore längst geschlossen. Die Arbeitslosenquote ist hier heute mit 25% fast doppelt so hoch wie im städtischen Durchschnitt.

Fremde” kommen trotzdem immer noch zuerst in die Nordstadt. Das Viertel ist so etwas wie ein Hafen. Weil die Mieten günstig sind und es bereits große migrantische Communitys gibt, ist das Viertel für viele Einwanderer attraktiv.

In den letzten Jahren kommen vor allem viele Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien nach Dortmund. Viele der mittlerweile mehr als 4.000 Rumänen und etwa 2.500 Bulgaren in der Stadt sind Roma. Vor allem die, die es in die Nordstadt verschlägt, fliehen vor Arbeits- und Perspektivlosigkeit und Diskriminierung in ihren Heimatländern.

In Dortmund angekommen landen sie gleich wieder am Boden der Gesellschaft: Chancen auf Arbeits- und Wohnungsmarkt haben sie wenig. Viele leben deshalb nicht nur in Armut, sondern sind auch dazu gezwungen, in überfüllten Bruchbuden zu wohnen. Matratzenlager und mangelnde Infrastruktur sind keine Seltenheit. In einem Zirkelschluss lasten viele Stimmen aus der Dortmunder Bevölkerung und Politik die dadurch entstehenden Probleme den Migranten an. Die Zustände erscheinen schnell nicht mehr als Produkt von Chancenlosigkeit und Diskriminierung, sondern werden mit der „Lebensart” der Roma begründet.

Wo geht es hier zum Drogenkrieg?

Mit Arbeitslosigkeit und Armut in einem Stadtteil gehen auch Probleme wie Drogensucht und Kriminalität einher. Wer nicht aussieht wie ein Zivilpolizist, wird bei einem Spaziergang durch das Viertel ziemlich sicher mindestens einmal gefragt, ob er „was braucht”. „Was” meint in den meisten Ecken vor allem Gras. Wer das nicht kaufen möchte, bedankt sich für das Angebot, lehnt ab und geht seines Weges. Wer mal einen Abend auf der Münsterstraße, einer belebten Einkaufsstraße im Viertel, verbringt, kann sogar feststellen, dass die meisten der hier dealenden Typen eigentlich verdammt nette und umgängliche Zeitgenossen sind.

Einige Straßen weiter wird das Elend, das mit Drogen oft einhergeht, aber deutlicher. Rund um den Nordmarkt gibt es dann nicht mehr nur Gras, sondern vor allem „Schore”. Hier gehören Junkies, die sich in einem Hauseingang Heroin spritzen oder ein Blech rauchen, zum Stadtteilalltag dazu. Läuft man noch ein ganzes Stück weiter, wird man rund um den Borsigplatz auch andere Drogen finden. Kokain zum Beispiel.

Nur ein paar Straßen vorm Geburtsort des BVB entfernt gab es vor gut zwei Wochen auch die Massenschlägerei, die Dortmunds Öffentlichkeit in Aufruhr versetzt hat. Rund 60 Personen sollen hier mit Messern, Macheten und Schreckschusswaffen aufeinander losgegangen sein. Als die Polizei eintraf, stießen die Beamten nach eigener Aussage nur auf eine Mauer des Schweigens.

Schnell kam der Verdacht auf, es könnte sich um Kämpfe zwischen verfeindeten Drogenbanden handeln. Laut Berichten der Lokalzeitung Ruhrnachrichten sollen hier türkische Banden ihr Revier gegen Libanesen verteidigen. Was wirklich passiert ist, ist jetzt noch schwer zu sagen. Trotzdem scheint es übertrieben, einen „Drogenkrieg” herbeizureden, von dem sich fast keiner der Viertel-Bewohner berührt fühlt. Der direkte Kontakt beschränkt sich auch in der Nordstadt wie bereits erwähnt meistens auf die Frage „Ey, brauchste was?”


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Auch für Bewohner der Nordstadt, die mit Drogengeschäften und dergleichen nichts zu tun haben, ist hier natürlich nicht alles rosig und schön. Wer hier eine Zeit lang wohnt, der weiß, welche Ecken er nachts besser meidet. Manche wirklich unangenehmen Seiten sind auch Produkte der Stadtpolitik: Seit der Straßenstrich außerhalb des Viertels geschlossen wurde, sind nun mehr Freier in den Wohngebieten „auf der Suche”. Für viele Frauen, die sich nachts in der Nordstadt bewegen, läuft das auf regelmäßige „Anbahnungssprüche” von schmierigen Typen in langsam fahrenden Autos hinaus. Die Stadt versucht mittlerweile, das mit repressiven Maßnahmen einzudämmen und „suchende” Freier wegen Ordnungswidrigkeiten anzuzeigen.

Als ich Freddy frage, ob die Nordstadt wirklich so schlimm ist, wie es sich oft liest, antwortet er zuerst mit einem lachenden „Viel schlimmer!”. Freddy ist einer der Nordstadtbewohner, die den „Kunst- und Kulturort” Rekorder in der Nähe des Hafens betreiben. Er korrigiert sich aber schnell: „Ach, die medialen Beschreibungen sind ja immer sehr verkürzt. Das ist halt weder das Kreuzviertel [begehrtes Viertel im Süden der Stadt, Anm. d. Autors] noch Mexico City. Es gibt bestimmt ein paar Probleme—aber insgesamt ist das alles sehr hysterisch.” In der Nordstadt, sagt Freddy, „findet ein Großteil des Lebens auf der Straße statt. Das ist ein sehr aktives Leben und es ist irgendwie ehrlich, auch wenn das ein bisschen klischeehaft klingt. Man bekommt mehr von den Leuten mit.” Während wir uns unterhalten kommen ein paar Jungs vor dem Rekorder an, die höchstens 14 sind. Sie warten auf den HipHop-Workshop, den Freddy heute gibt. Auch das ist die Nordstadt.

Positive Seiten hat die Nordstadt einige: Dank günstigen Mieten, schönen Altbauten und einigem gesellschaftlichen Leben, ist das Viertel auch für Studenten (und viele andere, die sich vom schlechten Ruf als kriminelles „Ghetto” nicht abschrecken lassen) verdammt attraktiv. Es gibt hier an jeder Ecke Kioske, die rund um die Uhr geöffnet haben und Bier für 50 Cent verkaufen, jede Menge günstige und gut sortierte Lebensmittelläden und zweimal die Woche einen Markt, auf dem ein Kilo superreifer Cherry-Tomaten oft weniger als einen Euro kostet.

Dazu kommen noch eine Reihe netter Kneipen und Bars, selbstverwalteter Kulturprojekte und einiges mehr.

Das macht die Nordstadt trotzdem noch nicht zum Kreuzberg 2.0. Alle Versuche, den Stadtteil zu einem hippen Szenekiez zu gentrifizieren, werden vermutlich scheitern. Man sollte das Viertel mit all seiner Armut und der daraus folgenden Kriminalität nicht romantisieren. Ein etwas entspannterer Umgang und ein Verzicht auf Worte wie „Ghetto” und „Drogenkrieg” wären aber ein guter Anfang.

Beim entspannteren Umgang mit der Nordstadt helfen übrigens Dinge wie: Ein Bier auf dem Nordmarkt trinken, eine türkische Linsensuppe auf der Nordstraße essen oder ein Wochenende zu guter Musik im Hafenviertel feiern. Versprochen!