​Die ersten Stunden nach dem Anschlag in Berlin
Alle Fotos: Grey Hutton

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​Die ersten Stunden nach dem Anschlag in Berlin

"Daran hat Merkel schuld!", ruft ein Mann, während die Rettungswagen an uns vorbeirauschen.

Knapp eine Stunde, nachdem ein LKW durch die Besucher eines Weihnachtsmarktes am Breitscheidplatz im Zentrum Berlins gerast ist, hat die Polizei das Gelände schon weiträumig abgesperrt. Zu diesem Zeitpunkt weiß noch niemand genau, ob es sich um einen Unfall oder einen Anschlag nach dem Vorbild von Nizza handelt.

Schon jetzt deutet allerdings einiges daraufhin, dass das lange befürchtete endlich eingetreten ist: Auf Twitter berichtet eine britische Augenzeugin, dass der LKW fernab von jeder Straße mit ca. 60 km/h durch die Menschen "gepflügt" sei—"er hat nicht versucht zu bremsen". Innerhalb von Minuten bittet sie ein Dutzend amerikanischer Fernsehsender um ein Interview, einer will wissen, ob der Fahrer irgendwas gerufen hat.

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Auf der Budapester Straße sammeln sich immer mehr Schaulustige und Journalisten vor der Sperre. Von hier kann man den LKW sehen: Er steht leicht schräg zur Straße am Rande des Weihnachtsmarkts, scheint ungewöhnlich groß, und auf seiner schwarzen Plane sind keine Schriftzüge. Daneben stehen Feuerwehrautos, Rettungswagen, Sanitäter wuseln herum. Die Presse-Fotografen versuchen, gute Fotos zu machen.

Nicht der Merkel-Rufer

"Daran hat Merkel Schuld! Das ist jawohl völlig klar!", bricht es aus einem Mann in blauem Anorak. Die meisten Zuschauer schweigen oder unterhalten sich leise. Die Polizisten tragen Maschinenpistolen, wirken aber ruhig und konzentriert. Immer noch kommen Rettungswagen an, allerdings meistens ohne Blaulicht.

Etwas später eröffnet die Polizei einen Pressebereich vor dem Zoo Palast, nur knapp 40 Meter von dem LKW entfernt. Man kann von hier die zerquetschte Weihnachtsdeko und Teile einer Bude unter den Rädern sehen, Verletzte sind nicht mehr da.

Hier drängeln sich bald mehr als hundert Reporter, Kamerateams und Fotografen, die alle hektisch versuchen, mehr herauszufinden. Als er auftritt, ist Thomas Neuendorf, der Pressesprecher der Berliner Polizei, sofort von Kameras und Mikrofonen umringt, kann aber kaum etwas Neues berichten: Der LKW ist in Polen registriert. Er kam von der Kantstraße und ist mitten durch die Gasse zwischen den Buden gerast. Neun Menschen sind direkt hier auf dem Weihnachtsmarkt gestorben, darunter offenbar auch der Beifahrer des LKWs. Der Fahrer ist geflüchtet, aber ein Verdächtiger konnte ganz in der Nähe gefasst werden."Wir arbeiten gerade daran, die Hintergründe zu ermitteln", erklärt der Sprecher.

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Die Reporter auf dem Platz tauschen Informationen aus: Einer weiß, dass der tote Beifahrer ein Pole und wahrscheinlich eigentlich der Fahrer ist, die polnische Spedition hat bestätigt, dass sie den Kontakt zu ihrem Mann verloren haben. Später wird sich herausstellen, was einige hier jetzt schon vermuten: Dass der LKW zusammen mit dem Fahrer entführt wurde, und dass der schon tot war, bevor der Entführer das tonnenschwere Gefährt in die Menschenmenge lenkte.

In den sozialen Medien ist derselbe Zyklus ausgebrochen, den man mittlerweile fast schon gewohnt ist: Menschen beschweren sich über die Berichterstattung der Medien (wahlweise zu direkt oder zu langsam), manche geben sofort Muslimen die Schuld, andere mahnen, keine Spekulationen zu verbreiten, Politiker bekunden ihr Beileid, ein AfDler macht Angela Merkel direkt für die Todesopfer verantwortlich.

Facebook aktiviert die "Ich bin in Sicherheit"-Funktion für Berlin, was sich irgendwie surreal anfühlt. Das, wozu der LKW entführt wurde, war schon nach Sekunden vorbei. Aber diese Sekunden werden wohl ausreichen, um dieses Land zu verändern.