“Ja haben wir denn keine größeren Probleme?”, fragen sich an dieser Stelle vielleicht manche von euch. Die kurze Antwort: Doch. Die etwas längere: Wenn ihr mit solchen Totschlagargumenten um euch werft, weil ihr alle unliebsamen Probleme, die eure Privilegien in Frage stellen, nur im Abgleich mit dem jeweils schlimmsten und größten Problem der Welt gelten lassen wollt (und damit 99,9 Prozent aller Probleme auf dem Planeten für nichtig erklärt), seid ihr ziemlich sicher ein Teil davon.
Es ist ein bisschen so, wie wenn ihr mit einem offenen Beinbruch auf dem Weg ins Krankenhaus seid und plötzlich jemand aus dem Nichts ruft: “In Syrien sind im September über 1000 Zivilisten ums Leben gekommen!” Das eine ist ziemlich sicher tragischer als das andere – aber das lässt euer Schienbein auch nicht auf magische Weise heilen und nichts zu tun hilft leider weder euch noch den toten Zivilisten in Syrien.
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Umgelegt auf den Frauenanteil im Parlament soll das heißen: Nur weil die Welt über weite Teile ein abgefuckter Ort ist, bedeutet das noch lange nicht, dass wir es besser dabei belassen sollten. Erst recht nicht, solange unser toxisches Männlichkeitsbild und das vorherrschende Altherren-Anspruchsdenken einen wesentlichen Anteil daran haben, dass das Leben für viele Frauen nun mal ist wie es ist.
Und damit meinen wir Dinge wie den Umstand, dass nach wie vor jede fünfte Österreicherin in ihrem Leben mindestens einmal Opfer von häuslicher Gewalt wird, ein Drittel aller österreichischen Männer Vergewaltigungen unter gewissen Bedingungen ganz in Ordnung findet, oder auch, dass in Deutschland jeder sechste Mann zugibt, selbst schon sexuell übergriffig gehandelt zu haben. Falls euch das immer noch zu wenig ist, findet ihr hier mehr Fakten:
Wie nahe wir zumindest auf politischer Ebene an einer fairen Geschlechteraufteilung sind (beziehungsweise: wie weit von einer solchen entfernt), hat jetzt Neuwal.com erhoben. Die Plattform hat eine detaillierte Liste sämtlicher Abgeordneter zum künftigen Nationalrat erstellt und sich die Aufteilung nach Geschlecht genauer angesehen.
Von den 183 Abgeordneten sind demnach insgesamt 123 männlich und 60 weiblich. Das macht einen prozentuellen Frauenanteil von knapp einem Drittel. Weltweit liegt der Durchschnitt bei etwas über 23 Prozent.
Dass wir von einer 50/50-Verteilung immer noch einigermaßen weit entfernt sind, ist einfach gesagt die Schuld aller Parteien. Sowohl die ÖVP, als auch die Liste Pilz hatten im Vorfeld einen Frauenanteil von 50 Prozent ins Auge gefasst; nach den Wahlen sind für das neu aufgestellte Parlament nur 31 Prozent beim Team Kurz und 37,5 Prozent bei der Liste Pilz übrig geblieben.
Die FPÖ tut sich dabei als besonderes Schlusslicht hervor. Mit 11 Frauen von 40 Abgeordneten werden bei den Freiheitlichen 21,6 Prozent der Sitze von Frauen besetzt. Das ist zwar eine Steigerung von 5,8 Prozent gegenüber der letzten Zusammensetzung im Nationalrat – aber immer noch der niedrigste prozentuelle Anteil aller Parlamentsparteien.
Wie das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) vorrechnet, hat die FPÖ damit mehr deutsch-völkisch korporierte Burschenschafter als Frauen unter ihren Abgeordneten.
Im statistischen Vergleich liegt Österreich damit deutlich hinter Ländern wie Ruanda, Bolivien, Kuba, Island, Nicaragua, Schweden, Senegal, Mexiko, Finnland, Südafrika, Namibia, Mosambik, Norwegen, Spanien, Argentinien, Äthiopien, Frankreich, Timur-Leste, Angola, Belgien, Ecuador, Dänemark, Deutschland, Slowienien, Burundi und Tansania.
Weil wir uns in Österreich aber sowieso nur ungern an den Over-Achievern orientieren, muss man im Geist unserer großen Nation sagen: Es könnte natürlich auch alles viel schlimmer sein. Laut Stand 2015 liegt der Frauenanteil in den Parlamenten von insgesamt 37 Staaten bei weniger als 10 Prozent. Unter anderem sind das Brasilien, Japan, Mali, Bahrain, Myanmar, Libanon und Oman.
In Katar und dem Jemen beträgt der Frauenanteil sogar 0 Prozent – und ist damit genau so hoch wie in Oberösterreich unmittelbar nach der Angelobung der schwarzblauen Landesregierung. (Aktuell steht Oberösterreich bei 22,2 Prozent und ist damit im Vergleich zu Ländern mit Sklavenarbeit und Rekordarmut eigentlich top.)
Die einzige Partei, die in Österreich bisher einen Frauenanteil von 50 Prozent hatte und das auch zum Teil ihres Programms erhoben hat, flog übrigens mit den Grünen nach der letzten Nationalratswahl aus dem Parlament. Das soll aber kein Klagelied auf das Ausscheiden der Grünen sein, das eine Demokratie genauso vertragen muss wie einen Sieg der Rechtsopportunisten unter Sebastian Kurz. Es ist nur ein freundlicher Hinweis für alle verbliebenen Parteien, sich umso mehr für gleiche Bedingungen und gleiche Chancen einzusetzen.
Genau das ist der Punkt an einer Quote: Sie ist da, damit nicht mehr jede einzelne Frau stellvertretend für ihr ganzes Geschlecht “das Richtige tun” muss.
Ein höherer Frauenanteil im Parlament bedeutet natürlich nicht automatisch, dass mit jeder Frau, die mehr ins Parlament einzieht, auch ein liberaler, aufgeklärter, weitsichtiger Mensch mehr im Nationalrat sitzt. Dass “aufgeklärt” und “liberal” nicht mit “weiblich” zusammenhängen muss, zeigt im Moment auch die FPÖ-Politikerin Anneliese Kitzmüller, die als einzige Frau auf blauer Seite an den Koalitionsverhandlungen teilnimmt und dabei ein rechtsextremistisches völkisches Netzwerk im Hintergrund hat.
Aber genau das ist der Punkt an einer Quote: Je mehr Frauen in gleichen Positionen wie Männern sitzen, umso weniger muss jede einzelne Frau stellvertretend für ihr ganzes Geschlecht “die Gute sein” oder “das Richtige tun”. Solange unsere Gesellschaft nach wie vor jeder Frau einredet, dass sie in irgendeiner Form für die Gesamtheit aller Frauen haftet, obwohl ihre Bevölkerungsgruppe eigentlich mehr als die Hälfte der Gesamtpopulation ausmacht, haben wir immer noch ein Problem – und zwar eines, das wir schleunigst lösen sollten. Damit wir uns endlich größeren Problemen widmen können.
Markus auf Twitter: @wurstzombie