Sie ist die Mona Lisa des Internetzeitalters: fast jeder Mensch kennt ihr Lächeln. Es ist auf Kreditkartenwerbung, in Artikeln mit Jogging-Tipps, in Online-Spanisch-Kursen und Webseiten von Zahnarztpraxen. Doch mit ihrem Namen taucht sie dort niemals auf. Die lächelnde Frau bleibt anonym. Sie ist das Overexposed Model, das wohl meist genutzte Model des Internets. Die Suche nach ihrer Identität beschäftigte jahrelang Menschen im Netz. Bis das Model irgendwann selbst das Rätsel löste.
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Der Grund für den Ruhm des Models lautet: Stockfotografie. Bei der Stockfotografie werden Bilder auf Vorrat produziert, um damit das Internet, Plakate oder Magazine zu bebildern. Sie sind gedacht für Präsentationen, Artikelbilder, Websites, Werbung. Fotografen schießen daher Fotos von Männern, die verärgert auf Bildschirme starren und von Frauen, die mit Salat in der Hand lachen. Die Bilder verkaufen sie dann über Agenturen wie Shutterstock, imago oder iStockphoto. Wer die Fotos nutzen möchte, muss ein kostenpflichtiges Abo abschließen oder eine Lizenz für einzelne Bilder kaufen.
Der Weltruhm des ‘Overexposed Models’
Eigentlich sollten die meisten Stock-Models von Stockfotografie anonym und austauschbar bleiben. Sie bebildern nur ein Gefühl, ein Event oder ein Produkt. Bekannte Gesichter sollen nicht vom eigentlichen Sinn ablenken. Doch die Bilder der lächelnden Frau werden so häufig für so viele unterschiedliche Zwecke benutzt, das weltweit Menschen stutzig werden. Wer ist die lächelnde Frau?
Die ersten Vermutungen über die Identität der Frau finden sich erstmals 2012 auf einem Tumblr-Blog mit dem wenig schmeichelhafte Namen “Overexposed Big Mouth Model”, das überbenutzte Model mit dem großen Mund. Mittlerweile existiert das Blog nicht mehr. Aber das Internet ist nun überzeugt, auf einer heißen Spur zu sein. Ab da werden immer mehr neugierige Nutzer und auch Journalisten aufmerksam. Sie durchwühlen Bilddatenbanken und stoßen dort auf ihr Portfolio unter dem Namen Maridav.
Hier gibt es keine Kontaktmöglichkeit. Die Suche scheint am Ende – doch dann gibt es einen schicksalshaften Durchbruch. Auftritt: Mike Aquino. Der Journalist schreibt für Magazine und Websites Reisetipps. Südostasien ist sein Spezialgebiet. In Singapur fällt ihm die grinsende Frau auf: “Heute sah ich ihr perfektes Lächeln in einer Zahnarztpraxis, gestern in der Bank und immer wieder auf Facebook. Da versucht sie mir eine Reise in die Toskana zu verkaufen”, schreibt Aquino 2013 in der philippinischen Ausgabe des Magazins Esquire. Einer der Model-Detektive, die sich inzwischen in Reddit-Foren austauschen, gibt Aquino einen Hinweis. Es gäbe wohl ein weiteres Portfolio. Der Name: Ariwasabi. Hier gibt es eine Kontaktmöglichkeit. Er bittet sie über das zweite Profil um ein Interview und Ariane – wie sie sich online selbst nennt – reagiert tatsächlich.
Zum ersten Mal spricht das ‘Unbekannte Model’
Ariane ist vorsichtig. Sie gibt zwar über ihre Arbeit Auskunft, aber kaum über sich als Person. Sie erzählt Aquino via Mail, dass sie in Kanada aufgewachsen sei – als Tochter eines Kanadiers und einer Chinesin.
Dort habe sie während ihres Jura-Studiums auch nebenbei gemodelt. Fünf oder sechs Jahre lang habe sie für Modemagazine wie Cosmopolitan oder Marie-Claire China posiert. Glücklich sei sie damit aber nicht geworden. Alles sei immer so ernst gewesen, sie habe nicht lächeln dürfen. Aber genau das möge sie so sehr.
Deshalb, so Ariane, fängt sie 2005 damit an, Stockfotos zu produzieren, auf denen sie so breit grinsen darf wie sie mag. Ihr Freund Martin ist ihr Fotograf und Geschäftspartner und produziert mit Ariane etwa 200 Bilder im Monat. 2013 hätten die beiden bereits über 4.000 Fotos in unterschiedlichen Portfolios veröffentlicht. Mittlerweile hat sie ein vollständig ausgerüstetes Studio zuhause.
Sie sei glücklich mit ihrem Job. Im Stockfoto-Business hätte sie mehr Einfluss als bei ihren früheren Modeljobs. Sie überlegt sich die Motive gemeinsam mit ihrem Freund, bestimmt Kleidung, Gesichtsausdruck, Pose und Make-up. Sie ist nicht nur das Model, sondern auch die kreative Leitung hinter dem Shooting. Den Erfolg schreibt sie ihrer natürlichen Art zu. Sie würde sich nicht verkrampfen, sondern entspannt wirken. Sie käme freundlich rüber, nicht einschüchternd oder unnahbar und hätte einen ethnisch vielseitigen Look. Firmen könnten so verschiedene Kulturen ansprechen.
Der Journalist Aquino zeigt sich fasziniert von der Geschichte der Frau, die in Nordamerika und so weit weg von Singapur lebt, und deren Gesicht doch an jeder Straßenecke zu sehen ist. Wirklich nah kommt er Ariane aber nicht. Zwei Jahre dauert es, bis Ariane wieder auftaucht.
Das unbekannte Model beginnt zaghaft damit, sich der Welt zu öffnen
Auch noch nach dem Artikel im Magazin Esquire fragen sich Menschen, wer das Model wirklich ist. Was für ein Leben sie wohl führt? Welche Interessen sie hat? Die besessenen Fans finden keine Antworten. Es gibt online keine Hinweise mehr auf Ariane – bis das Model 2015 selbst das Schweigen bricht.
Ariane gibt wieder ein Interview, sie spricht mit dem Blog Top Model Advice, den das Model Sarah Woodstock betreut. Woodstock kennt Ariane persönlich. Der Grund für den plötzlichen Sinneswandel ist simpel: Ariane will ihren eigenen Blog The Radiant Peach promoten, der sich um gesunde Ernährung und natürliche Schönheit dreht. Sie will nicht länger nur ein Lächeln sein.
Mit Erfolg: Fünf Jahre später ist Ariane nicht länger anonym. Die junge Frau verfügt über eine riesige Fangemeinde: Allein ihre von anderen Leuten geführte Facebook-Fanseite Ariane – The Overexposed Stock Image Model hat über 18.300 Gefällt-mir-Angaben. Aber auch sie selbst baut sich langsam eine Online-Identität auf. Auf Instagram haben supersmileyariane immerhin 3.000 Fans abonniert und folgen dort Bildern aus ihrem echten Leben abseits von Stockfotos.
Das Paradoxon Ariane
Gegenüber Top Model Advice verrät sie auch erstmals ihren echten Namen. Ariane heißt in Wahrheit Rebecca Ariane Givens. Ihre bisherige Scheu vor Interviews erklärt sie damit, dass man für Stockfotos ein Stück weit anonym bleiben muss und sich in den ersten Jahren als Stockmodel sogar vertraglich dazu verpflichtet. Firmen kaufen bewusst ein unbekanntes Gesicht und kein Model, das man mit bestimmten Dingen verbindet, weil sie in der Öffentlichkeit steht. Ein Stockfoto-Model muss für alles stehen können.
Hinzu kam ihre Sorge, wie man sie darstellen würde. Gerade als man auf sie aufmerksam wurde, sei sie damit nicht glücklich gewesen. Als das “Overexposed Model” bezeichnet zu werden, das Model, das zu viel fotografiert wird, sei nicht gerade schmeichelhaft gewesen. Es hätte womöglich sogar ihrem Job geschadet. Schließlich will niemand ein Gesicht verwenden, das schon als omnipräsent gilt. Dadurch würde man sie jetzt aber nun einmal kennen. Es macht sie immer noch nervös, sich zu öffnen. Rebecca will jetzt, wo sie ihren Health-Blog eröffnet hat, aber die Gelegenheit nutzen, sich vorzustellen.
Sei sei durch Zufall zum Moddeln für Stockfotos gekommen, weil ihr Freund, dessen richtiger Name gar nicht Martin ist, sondern David, sie fotografieren wollte. Mittlerweile sei es für sie aber ein Vollzeitjob. Rebecca öffnet sich immer mehr. Dem Magazin Women’s Running verrät sie 2015 etwa, wie sie sich ernährt und Sport macht. Langsam scheint Rebecca ihren Ruhm zu genießen.
Sie liebe es, sich überall auf der Welt zu entdecken: Manchmal sieht sie sich selbst in Werbespots oder Magazinen oder auf einem großen Bildschirm am Times Square in New York. Obwohl sie Wert auf ihre Anonymität lege, fände sie dieses Gefühl großartig. Man kennt sie, den Menschen dahinter schließlich nicht wirklich. Erkannt oder angesprochen wurde sie noch nicht oft.
Doch der Schritt in die Öffentlichkeit birgt auch Risiken: Ariane war als anonymes Stockfoto-Lächeln mehr als erfolgreich. Aber kann sie daran anknüpfen, wenn sie plötzlich bekannter wird? Wenn sie Rebecca Givens ist, die Gesundheitsexpertin mit eigenem Blog, eine Magazinautorin, eine Influencerin?
Der Schritt zurück in die Anonymität des reinen Stockmodels scheint jetzt unmöglich. Und auch, wenn Rebecca sich bewusst dafür entschieden hat, spürt sie schon jetzt die Schattenseiten des Ruhms. Sie habe bereits einen Stalker gehabt, wegen dem sie ihre Nummer hätte ändern müssen. Außerdem musste sie rechtlich gegen Nachahmer vorgehen, die nach einem Artikel behaupteten, sie zu sein.
Die Gefahr ist groß, dass ihre zunehmende Bekanntheit ihrem Beruf als Stockfoto-Model schadet. Denn plötzlich ist sie nicht mehr die Frau, die jedes Produkt vermarkten kann. Ariane hat freiwillig ihren größten Trumpf aufgegeben, um Rebecca sein zu dürfen.
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