Die frauenfeindliche Geschichte des weiblichen Kannibalismus

Wer Menschen isst, ist kein Mensch. Über Jahrhunderte hinweg prägte die Vorstellung des Kannibalismus in der abendländischen Kultur die Wahrnehmung des Fremden und des Unzivilisierten. Es ist die Konturierung des europäischen Selbstbilds. Und anscheinend der letzte Schrei in der europäischen Filmindustrie: Im letzten Jahr gingen nicht weniger als fünf Filme beim Cannes Festival an den Start, die sich mit der Thematik des Kannibalismus auseinandersetzten, darunter Größen wie Nicolas Winding Refns The Neon Demon, Bruno Dumonts Slack Bay und Julia Ducournaus Raw.

Jean Bréhat, Produzent von Slack Bay, stellte in einer Pressekonferenz die These auf, dass die Symbolik der Menschenfresserei sehr passend die heutige Realität widerspiegelt: “Es ist eine Metapher für den sozialen Existenzkampf”, so der Pariser. In Zeiten von Hyper-Kapitalismus und Konsumkultur sei es ein Ausdruck für die Schere zwischen Reich und Arm. “Es ist ein Spiegelbild der Welt, in der wir leben. Die Reichen fressen die Armen mehr und mehr”. Ein neuer cineastischer Archetypus scheint den Zeitgeist einzunehmen.Das Interessante dabei: Die Menschenfresser sind primär weiblich. Ein Bild, mit dem Frauen über Jahrhunderte hinweg ausgegrenzt und stigmatisiert wurden.

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Der Begriff “Caníbales” taucht erstmals in einem Bordbucheintrag von Christopher Kolumbus vom 23. November 1492 auf. In einem Reisebericht von Marco Polo heißt es über die Bewohner Ostasiens im späten Mittelalter: “Sie essen Menschenfleisch, das sie für schmackhafter als jedes andere halten […] so schneiden sie den Leichnam in Stücke, richten ihn zum Mahl her und verzehren ihn in großem festlichem Kreis und lassen nicht einmal das Mark in den Knochen übrig”.

Kannibalismus als Konzept und Mythos hat jedoch bereits viele Jahrhunderte vor der Zeit des europäischen Imperialismus überdauert und haftete nicht allein den Urvölkern der neuen Welt an. Auch die vermeintlichen Hexen und jüdischen Minderheiten im Mittelalter Europas und sogar die ersten Christen im Römischen Reich wurden verdächtigt, Menschenfleisch zu verzehren. Die Gegner der Christen sagten ihnen neben sexuellen Orgien, Inzest und Schadenzauber nach, Neugeborene und Kleinkinder zu entführen, um diese heimlich rituell zu töten und zu verspeisen. Der Ironie zum Trotz wurde die Metaphorik des Kindsmord und der Menschenfresserei von den christlichen Kirchenvätern im Mittelalter übernommen und auf andere Minderheiten der Gesellschaft projiziert: Frauen und Juden.

So wurden Juden des Mittelalters immer wieder beschuldigt, christliche Kinder zu töten und ihr Blut in das Matzenbrot einzubacken. Die Folge: immer wieder auftretende Pogrome und Gewalt gegen jüdische Mitbürger, vor allem in Osteuropa. Auch die scheinbaren Hexen zu Beginn der 15. Jahrhundert praktizierten Gerüchten zufolge bei nächtlichen Zusammenkünfte Teufelsanbetungen und planten die Zerstörung des Christentums. Ihnen wurde nachgesagt, Kinder zu opfern und danach eine Salbe aus Menschenblut herzustellen, die auf Besen gestrichen werde und diese zum fliegen brächte. Es verwundert nicht, dass der Name des jüdischen Feiertags, Shabbat, schließlich auf die Hexenkultur übertragen wurde: Der Hexensabbat.

Der Feind wird tierisch, er schnüffelt die Beute. Er wird zur Bestie gemacht.

Die wachsende Selbstständigkeit einzelner Frauen der frühen Neuzeit Europas, die sich beispielsweise gegen eine Heirat entschieden, einen Beruf als Hebamme, Krankenschwester oder Pflegerin ergriffen oder sich gegen die Dogmatik und den verschwenderischen Lebensstil des Klerus aussprachen, führte in vielen Teilen der Gesellschaft zur Misstrauen und Skepsis, die oft in Diskriminierung und Gewalt gegen die betroffenen Frauen resultierte. Die Hexe ist dabei weibliches Pendant zum Ketzer. Die Religionswissenschaftlerin Kristina Göthling der Universität Bochum sagte dazu in einem Interview: “Die Frau wurde in der Vorstellung der damaligen Zeit als Mängelwesen wahrgenommen, welches dem Mann besonders im Geist unterlegen sei. Durch diese behauptete Unterlegenheit schien sie somit empfänglicher für die Verführungen des Teufels”.

Leonard Kerns Elfenbeinskulptur “Die Menschenfresserin” ist um 1650 herum entstanden. Foto: Andreas Praefcke | Wikimedia | Public Domain

Das Merkmal der roten Haare ist ein Produkt der Romantik und war während der Hexenverfolgung noch kein Bestandteil des Stereotyps. Viel verbreiteter war die Vorstellung der Witwe mit gekrümmtem Rücken, lichtem Haar, Alterswarzen und schlechten Zähnen. Alte Frauen, die bereits in der Menopause waren, galten als vertrocknet und brauchten daher Flüssigkeit, welche sie, der Vorstellung nach, im Blut von Kindern fanden.

Zudem wurden Witwen oftmals an den Rand der Städte und den Waldrand gedrängt, welches ebenfalls ein häufig auftretendes narratives Element in der Darstellung einer Hexe ist, so zum Beispiel in den populären Grimm’schen Märchen. In Hänsel und Gretel ist sie außerdem auch eindeutige Kannibalin. Das Mädchen hält sie als Haussklavin, den Jungen mästet sie, um ihn zu essen. Auch wird in Märchen den Schurken oft die Fähigkeit zugeschrieben, Menschenfleisch zu riechen, wie etwa der Riese im Kleinen Däumling. Es ist ein simples Konzept und Stereotypisierung: Der Feind wird tierisch, er schnüffelt die Beute. Er wird zur Bestie gemacht.

Das vor allem Minderheiten und Frauen im Speziellen des Kannibalismus bezichtigt werden, stößt bei Susanne Schröter, Professorin für Ethnologie an der Goethe Universität in Frankfurt am Main, nicht auf Verwunderung. In ihren Recherchen beschäftigt sich die Wissenschaftlerin mit den Gesellschaften Papua Neuguineas, in denen die Vorstellung des Kannibalismus vor allem dem weiblichen Geschlecht anhaftet.

Auch heute noch spiegeln kannibalische Frauen die elementaren Ängste weiblicher Autonomie wider.

“Frauen erscheinen als allmächtige Urzeit-Heroinnen, als gefährliche Hexen und Kannibalinnen, die die Wesen, die sie gebären letztendlich wieder verschlingen”, so die Wissenschaftlerin. In der Vorstellung der Männer manifestiere sich die Potenz der Frauen vor allem im weiblichen Körper, in seinen sogenannten Säften und seinem verborgenen Wirken. So werden Harpunen bei dem Volk der Kiwai mit Vaginalsekret benetzt, um die Jagdchancen zu erhöhen.

Gleichzeitig befürchten die Männer in Sambia, dem östlichen Hochland Papua Neuguineas, beim Geschlechtsverkehr gekocht zu werden; sie betrachten die Vagina als einziges weibliches Organ, das nicht kalt ist. Das Volk der Bimin-Kuskusmin verdichten diese Idee in der Figur der sogenannten Taman Hexe, eine Personifikation kannibalisch weiblicher Gelüste. Sie besteht nur aus Fett, gebiert Monster und ist getrieben von Gier und Lust. “Die Frau isst den Mann”, sagen auch die im Hochland lebenden Wola und meinen damit den Entzug sämtlicher vitaler Energien des Mannes durch die Frau. Zu häufiger Sex läutet ihrer Meinung nach den unmittelbaren Verfall des Mannes ein: Er verliert sein Haar, die Haut trocknet aus; Erschöpfung, Kurzatmigkeit und früher Tod sind die Folgen.

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In Analogie zu der Welt der Insekten, wo manch eine Spezies das Männchen nach der Paarung verschlingt, ist bei den Wola Sex eine spirituelle Verzehrung: Der Mann gibt und verliert, die Frau empfängt und wird stärker. Kontakte sollen daher nur so selten wie möglich stattfinden; Frauen, die starkes Verlangen zeigen werden schnell argwöhnisch beobachtet und der Hexerei bezichtigt. Eines der berühmtesten Gemälde des norwegischen Malers Edvard Munchs, Der Vampir, versinnbildlicht diese männliche Angst in starken Pinselstrichen: Ein gebeugter Mann zerfließt in der Umarmung einer Frau, welche ihn fest im Griff hält, das feuerrote Haar wie ein Netz um seinen Körper fallend.

Es wird deutlich: Die wortwörtliche Maneater-in ist kein neues Kulturphänomen. In der Vergangenheit war die alles verschlingende Weiblichkeit ein Symbol, mit dem die Frau gerade genug entmenschlicht wurde, um sie nicht ebenso behandeln zu müssen wie einen Mann. Und auch heute noch spiegeln kannibalische Frauen die elementaren Ängste weiblicher Autonomie wider.

Während das Erwachen der weiblichen Sexualität in Filmen wie Raw zwar mit blutrünstigem Wahnsinn, dem Verschwimmen von physischem und sexuellem Hunger einhergeht, bieten sie aber gleichzeitig Projektionsfläche für eine andere Form der Selbstermächtigung: feministisches Empowerment.

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Foto: imago | Westend61