Was der Journalist Constantin Seibt schreibt, wird gelesen. Der preisgekrönte Tagesanzeiger-Journalist gilt in der Schweizer Medienszene als Edelfeder und geniesst eine hohe Glaubwürdigkeit: Ihm gelingt es immer wieder, auf amüsante und leicht verständliche Weise, Themen wie Russlands Politsystem, die Finanzkrise oder das Phänomen Trump einem breiten Publikum zu erklären.
Am Dienstag war es wieder soweit. Ein von Constantin Seibt verfasster Artikel flutete die sozialen Netzwerken. Er generierte allein auf Facebook über 1.300 Likes, Shares und Kommentare. Auch zig Journalisten verschiedener Medienhäuser teilten ihn. Das Thema des Artikels war dieses Mal Gewalt an Frauen. Er rief dazu auf, dass Männer Frauen im Kampf für Gleichberechtigung endlich unterstützen sollten.
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Begeisterte Leser gratulierten Seibt zum gelungen Wurf. Es gab nur ein kleines Problem: Da wo Seibt drauf stand, war nicht Seibt drin. Der Beglückwünschte weilte gerade in den Ferien und teilte am Nachmittag mit, dass er den Artikel gar nicht geschrieben habe.
Stück für Stück kam ans Licht, was es mit dem Artikel auf sich hatte. Die URL gehörte bei genauer Betrachtung nicht dem Tagesanzeiger: dem Medium fehlte im Link das zweite “A”. Die Seite, auf der der Artikel gehostet war, sah nur so aus, als gehöre sie zum Online-Auftritt der Zeitung. Bald kursierte auf Twitter der Name des Inhabers der Domain. Sie konnte Dimitri Rougy zugeordnet werden.
Dieser meldete sich kurz darauf auf Facebook zu Wort. In einem Post erklärte der 19-Jährige, dass er mit der Schweizer-Aufschrei-Mitinitiatorin Franziska Schutzbach den Artikel geschrieben habe, um für das Thema Gleichberechtigung zu sensibilisieren.
Der Journalisten-Hack ist mutig, scharfsinnig und hat einen Nerv getroffen. Er wirft aber auch viele Fragen auf. Den Internetauftritt des Tagesanzeigers zu kopieren und zu behaupten, Constantin Seibt sei der Urheber eines Textes, ist justiziabel. Auf Drängen von Tamedia ist der Artikel inzwischen nur noch auf dem Online-Portal Medium abrufbar. Und egal wie man es dreht und wendet, egal ob der gesamte Inhalt des Artikels stimmt und Constantin Seibt den Artikel auf Twitter gutheisst—er ist eine gezielte Irreführung der Öffentlichkeit. Man könnte daher argumentieren, dass sich die Aktion mit der Rolle von Franziska Schutzbach als Wissenschaftlerin der Universität Basel beisst. Und auch Dimitri Rougy, mit seinem Amt als SP-Gemeinderat hat seine Glaubwürdigkeit riskiert.
So richtig und wichtig es ist, auf die alltägliche Gewalt gegen Frauen aufmerksam zu machen, die Aktion schadet der bereits angeschlagenen Glaubwürdigkeit des Journalismus und somit der Demokratie. Wenn ein fingierter Artikel nicht einmal von Journalisten des eigenen Medienhauses auf den ersten Blick erkannt wird, wie soll ihn dann ein Leser erkennen? Was kann man ihm noch entgegnen, wenn er Lügenpresse schreit?
Der Fall zeigt, dass sich Journalisten damit abfinden müssen, dass sich in Zeiten von Fake-News und Hacks ihre Rollen rasant ändern. Die Schweizer Medienlandschaft ist im postfaktischen Zeitalters angekommen.