Fotos: Markus Burke
Oberpfalz und Regensburg, wo sie sich immer noch damit beschäftigt, die Texte von Franz Xaver von Schönwerth aufzuarbeiten. Die pensionierte Lehrerin konnte nicht genug von ihm kriegen, nachdem sie die 50 Texte, die 1935 wieder veröffentlicht worden waren, sowohl gelesen, als auch zu Theaterstücken verarbeitet hatte. Seit sie 500 neue Märchen gefunden hat, ist sie zu einer internationalen Schönwerth-Koryphäe geworden.
Videos by VICE
Die Gebrüder Grimm sind für die Literatur, was Bono für die Musik ist. Sie haben diese gewaltige Sammlung von Märchen zusammengetragen, ihr Einfluss ist enorm und sie waren mitverantwortlich dafür, dass aus hinterwäldlerischen Fürstentümern irgendwann das Land der Dichter und Denker wurde. Sie sind einfach grundanständig. Hätte es schon Privatjets gegeben, wären sie sicherlich ständig nach Afrika geflogen und hätten jedes einzelne Kind gerettet. Die beiden sind so großartig, dass einem davon ein bisschen schlecht werden kann. Aber was wäre, wenn es jemanden gäbe, der das Gleiche gemacht hätte wie sie, nur viel sorgfältiger und mit wissenschaftlicher Akribie? Franz Xaver von Schönwerth hat genau das getan, aber hatte wohl kein Interesse daran, sich bei allen möglichen Entscheidern einzuschleimen und sich schamlos selbst zu promoten. Stattdessen saß er in seinem Zimmer und hat geschrieben. Sein einmaliges Werk war für knappe 130 Jahre in den Tiefen eines Regensburger Archivs verschwunden. Wir haben Erika Eichenseer getroffen, die diesen unglaublichen Schatz gehoben hat, und uns mit ihr über abgehackte Pferdeköpfe, den bayrischen König und Sex in Märchen unterhalten.
VICE: Wie sind Sie auf die Manuskripte gestoßen?
Erika Eichenseer: Franz Xaver von Schönwerth wurde vor 200 Jahren in Amberg geboren und hat sich dann in der Mitte seines Lebens ganz stark mit Volkskunde aus der Oberpfalz beschäftigt. Man darf nicht allein sehen, dass er Märchen gesammelt hat, er hat alles gesammelt. Er beschreibt jedes Tier in und ums Haus, jedes Detail bis zur Ameise, bis zu Marder, Hund, Pferd, Schwein, alles, alles. Jedes Getreidekorn. Eine Unmenge, man kann es überhaupt nicht überschauen. Unter anderem auch Märchen aus der mündlichen Tradition. Und diese Märchen waren in dem anderen volkskundlichen Konvolut versteckt. Er hat drei Bände rausgebracht, unter dem Titel Aus der Oberpfalz, Sitten und Sagen, aber diese drei Bände haben sich nicht verkauft, deswegen konnte er die nächsten sechs, sieben oder acht Bände nicht mehr veröffentlichen. Dieses weitere Material ist von der Witwe an den historischen Verein für Oberpfalz und Regensburg gekommen. Hier liegen ungefähr 30 Schachteln und die waren bis vor zwei Monaten überhaupt noch nicht systematisch erfasst. Es waren immer wieder Leute drin, z. B. Karl Winkler, der das sehr genau geprüft und auch Märchen veröffentlicht hat. Aber das war ja schon 1935. Alles andere, was eben noch nicht veröffentlicht war, war verschwunden und versteckt in diesem Nachlass …
… den Sie dann durchsucht haben.
Ich bin der Spur gefolgt, habe alle Leute gefragt, die in dem Nachlass schon mal gearbeitet haben. „Habt ihr Märchen gefunden?”, „Nein, nein, nein”, bis einer sagte, dass er ungefähr 50 Märchen gefunden hätte. Ich bin dann selbst in den Nachlass rein und hab gestöbert und auf einmal paketeweise Märchen gefunden. Nicht wie in einem Geschichtenbuch , sondern einfach mit Nummern davor. 1 bis 10, oder 12. Dann gehen die Geschichten los. Und dann habe ich diese 500 Märchen gefunden. Teilweise wurde der Nachlass 1956 von der Universität Marburg bearbeitet. Ich hab mir nur die Märchen, die von denen ausgewiesen waren, herausgeholt, und das waren dann 500. Wir haben ein Symposium gemacht und den gesamten Nachlass, Blatt für Blatt, durchgearbeitet. Ich sitze also stundenlang im Archiv und suche nach diesen Handschriften, die überhaupt noch nie das Licht der Welt gesehen haben.
Warum sind Schönwerths Geschichten so anders als die der Grimms?
Weil sie aus der mündlichen Überlieferung kommen. Die meisten Texte stammen aus Ostbayern. Und gesammelt hat er sie von lauter einfachen Leuten. Das waren Bauern, Mägde, Großmütter. Den größten Teil haben sie im Dialekt erzählt. Diese zum Teil brüchigen, zum Teil überbrückten Geschichten wurden dann offensichtlich zu einem fließenden Text verarbeitet. Das war die einzige Bearbeitung, die diese Texte erfahren haben, und man spürt das, man hört es buchstäblich in diesen Texten. Diese mündliche Überlieferung ist in meinen Augen ganz wichtig, weil nichts Künstliches hinzugefügt worden ist.
Außer, dass er es aus dem Dialekt übertragen hat, hat er alles unverändert gelassen?
Schönwerth war ja der Generalsekretär von König Max II. in München. Er hat sich die oberpfälzischen Dienstboten in München gesucht, also die Kutscher, die Zimmermädchen, die Köchinnen. Die hat er sich an seinen Tisch geholt und befragt. Die waren dann natürlich zuerst ein bisschen furchtsam, so ein eleganter Herr und in der königlichen Residenz und so ganz fremd, aber wenn er in seiner Amberger Mundart mit den Leuten gesprochen hat, dann war das Eis gebrochen und dann haben sie erzählt.
Die Märchen der Grimms sind mehr Kunstmärchen als die von Schönwerth, oder?
Der eigentliche Verdienst der Grimms ist ja, dass sie Märchen salonfähig gemacht haben. Dass sie aus der Versenkung, aus den Kinderstuben rausgekommen sind. Aber andererseits sind die Märchen von Schönwerth authentischer, denn die Grimms haben 80 bis 90 Prozent aus dem Perrault, der französischen Märchensammlung, und dem Decamerone aus Italien abgeschrieben. Das sind Märchen, die schon mal aufgezeichnet wurden und die die Grimms einfach in ihre Sammlung mit aufgenommen haben. Das gibt es bei Schönwerth nicht.
Für wen hat er die Geschichten gesammelt?
Diese Geschichten sind keine Kindergeschichten. Man kann sich das fast nicht vorstellen, dass irgendein verzogenes Prinzlein als Kind alle möglichen Erlebnisse hat, dann irgendwann kommt die Prinzessin und sie heiraten. Es fehlt ein Stück Zeit zwischen Kindheit und Heirat. Genau dieses Stück Zeit ist das, woran sich die Märchen von Schönwerth wenden. Das ist die Pubertät. Das sind diese schwarzen Gefahren, die müssen durch ganz schwarze Gänge, die müssen sich verlaufen, die müssen in den Brunnen fallen und in eine todesähnliche Situation kommen. Und das ist genau das, was der junge Mensch durchmacht, wenn er in die Pubertät kommt. Wie geht man mit diesem neuen Leben um?
Also eine Art psychologische Parabel.
Die Märchen erzählen von archetypischen Situationen und von archetypischen Menschenstrukturen. Märchen sind in Verruf geraten, wenn wir in die 68er reinschauen, da sind diese ganz großen, gescheiten Menschen aufgestanden: „Um Gottes Willen, die Gefahr, das dürfen doch unsere Kinder nicht hören”. Sie haben alles missdeutet und falsch interpretiert. Die Kinder verstehen aber Märchen.
Warum können Kinder das verstehen?
Weil die Kinder so ein Gerechtigkeitsgefühl haben, das Böse muss bestraft werden. Wenn in der „Gänsemagd” von den Grimms dem Pferd der Kopf abgehackt wird, dann nicht, weil es böse ist, sondern weil die Mutter erlöst werden muss. Auch wenn die Hexe in den Ofen wandert, dann jubilieren die Kinder doch, weil das Böse gestraft werden muss. Sie sehen nicht die Hexe, die da Gräuel erleiden muss, sondern sie sehen die Bestrafung des Unrechts.
Aber ist das nicht eine stark vereinfachte Moral?
Ja, durchaus, aber wenn Sie die dicken Wälzer des bürgerlichen Gesetzbuches anschauen, oder die Zehn Gebote, dann ist es im Grunde dasselbe. Es geht um die Grundlage, eine moralische Grundaussage.
Aber seine Texte sind auch anders als die der Grimms, oder?
Bei Schönwerth gibt es bisher gefundene sieben Varianten zum Tapferen Schneiderlein, jede mit diesem Grundzug, aber dann in der Ausführung anders. Und so viele Märchen, Aschenflügel, das Pendant zu Aschenbrödel. Da gibt es eine Version von Hänsel und Gretel, wo aber die Kinder nicht von einer unverständlichen, grausamen eigenen Mutter in den Wald entlassen werden, damit sie der Wolf frisst. Bei Schönwerth verlaufen sie sich und es sind keine Geschwister, sondern Nachbarskinder. Sie verlaufen sich im Wald und müssen dann dort übernachten, finden ein Vorhängeschloss und dazu einen Schlüssel. Wenn sie es reiben, dann kommt so ein kleines graues Männchen und hilft ihnen. Das Zaubermännchen versetzt sie in einen Entwicklungsschlaf. Sie schlafen über die Zeit drüber, in der sie Kinder waren, und wachen später als junge Leute auf. Und dann schauen sie sich an und Gretel sagt: „Du hast ja einen Bart”, und ihr passt das Mieder nicht mehr und dann können sie als fast Erwachsene ihren Weg weitergehen. Da wird es für mich natürlich sehr interessant, da haben wir die Stufe des Kindermärchens endgültig verlassen und sind da, wo das Märchen hingehört.
In den Märchen der Grimms gibt es keine offensichtlichen sexuellen Themen, oder?
Weil die Grimms alles rausgenommen haben. Alles was für Kinder, für die damalige Zeit nicht geeignet war, ist rausgeflogen. Das heißt, diese Märchen haben alle keine Erotik mehr. Und die Stellen, wo es wirklich interessant und schön wird, die lassen diese Märchen aus. Es gibt eine ganze Reihe von erotischen Märchen bei Schönwerth, z. B. die schöne Sklavin.
Kann man bei den Grimms nachvollziehen, was da rausgenommen wurde?
Ja, mit Sicherheit. Wir haben bis zu sieben oder acht Überformungen ihrer Märchen. Immer wird das Grundmärchen weiter verfeinert und systematisiert.
Ist dieses ganze Brauchtum konservativ?
Ja, man kann es konservativ nennen, wobei das Wort „konservativ” heute einen negativen Beigeschmack hat. Das war damals aber überhaupt nicht so. Das Konservative war das Leben. Man hat so gelebt, man hat diese Aufmüpfigkeit nicht gekannt, man hat nicht diese Revoluzzerstimmung aufgebracht. Die Leute waren bescheiden und zufrieden mit dem Wenigen, das sie hatten.