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Diese Ärzte durchbrechen die Belagerung von Aleppo mit Skype

Man denkt eigentlich jeden Tag, dass keine Schreckensmeldungen mehr aus dem belagerten Aleppo kommen kann, weil von dieser Stadt im Norden Syriens kaum mehr etwas übrig ist. Doch dann: Der Zusammenbruch des Waffenstillstands, der Angriff auf einen Versorgungskonvois, Hilfseinrichtungen der Weißhelme getroffen; kein Wasser mehr, Seuchengefahr. Irgendwo dazwischen das Bild des staubgrauen kleinen Jungen, der blutverkrustet und regungslos auf einem Stuhl hängt. Und nun die Bodenoffensive des syrischen Regimes—die auf die Luftangriffe folgt. Das Drama um die gebeutelte Stadt zeigt: Im syrischen Bürgerkrieg geht es immer noch schlimmer.

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Wenn Aleppo eine der gefährlichsten Städte der Welt ist, ist ein Krankenhaus einer der denkbar schlechtesten Ort, um sich aufzuhalten. Denn in Syrien ist die Gesundheitsversorgung längst selbst zur Waffe geworden: Über zwei Jahre lang standen Scharfschützen auf dem Dach des Stadtkrankenhauses von Aleppo und feuerten auf die Kranken und Verwundeten, die versuchten, die Klinik zu erreichen. Medizinisches Personal wird in ganz Syrien gezielt angegriffen, Krankenhäuser bombadiert; Ärzte rücken in der zynischen Logik des Syrienkonflikts besonders in die Schusslinie. „Wenn du einen von ihnen erledigst, sterben tausende”, heißt es.

Seit Beginn des Konflikts 2011 haben Assads Truppen über 700 Ärzte im Land getötet, zählt die NGO Physicians for Human Rights. Der letzte Kinderarzt in Aleppo starb bei Angriffen auf Krankenhäuser im Mai. Die verbleibenden Ärzte arbeiten rund um die Uhr—auch wenn es für Patienten weder Nahrung noch Betten gibt.

95 Prozent aller Ärzte in den von Rebellen gehaltenen Stadtteilen sind tot.

Wie also versorgt man Schwerverletzte in einer Stadt, in der 95 Prozent aller Ärzte in den von Rebellen gehaltenen Stadtteilen tot sind? Der britische Chirurg David Nott weiß es—zumindest ansatzweise. Der 59-Jährige ist wohl der erfahrenste Kriegschirurg der Welt. Seit seinem ersten Auslandsaufenthalt im „Schweizer-Käse-Krankenhaus” von Sarajevo—das so hieß, weil es 1993 im Bosnienkrieg unter Dauerfeuer stand—hat er sich in Krisengebiete überall auf der Welt engagiert. In den vergangenen 23 Jahren hat er tausende von Patienten in über 20 Ländern operiert, darunter im Kongo und in Afghanistan; kurz: Er war nahezu überall, wo es durch einen bewaffneten Konflikt schreckliche Verletzungen bei gleichzeitig knappen Ressourcen gibt.

2008 machte Nott dann seine ersten Erfahrungen mit technikunterstützten Fern-Operationen: Er musste den infizierten Stumpf eines amputierten Jungen entfernen, hatte das aber noch nie gemacht. Also bat er einen Kollegen in London per SMS um Hilfe. Der textete ihm eine Schritt-für-Schritt-Anleitung—der Junge überlebte. Für Nott war das ein Aha-Erlebnis.

Bild: Screenshot Youtube | BBC Newsnight

Notts erklärtes Ziel im Syrienkonflikt ist es, medizinisches Wissen und handwerkliche Fähigkeiten genau dort zu verbreiten, wo das Regime es auslöschen will. Ausgestattet mit einer Gasmaske gegen Chemiewaffen und einer Stirnlampe gegen Stromausfälle schulte Nott 2013 und 2014 für mehrere Monate Ärzte direkt vor Ort in Aleppo—mit digitalen Kopien von hunderten Standard-Lehrbüchern, die er zuvor alle in London Seite für Seite eingescannt hatte. Nachts operierte er an Kriegsopfern mit seinen Schülern und mit einer GoPro auf dem Kopf, um aus den Behandlungen chirurgische Trainingsvideos für den nächsten Tag zu machen.

Doch Syrien ist selbst für Veteranen wie Nott ein anderes Pflaster: „Die meisten Patienten, die zu mir gebracht werden, sind Kinder. Durch die Fassbomben haben sie die schrecklichsten Verletzungen überhaupt—ganze Körperteile wurden durch tausende glühend heißes Schrapnell abgerissen”, erklärt er dem New Yorker. Nott berichtet, wie die Scharfschützen auf dem Dach des Krankenhauses 2013 sadistische Zielübungen trieben: „Kam morgens eine Frau mit durchschossenem Unterleib rein, wussten wir, dass es im Laufe des Tages noch mehrere solche Fälle geben wird. Im Funk konnten wir hören, wie die Scharfschützen auf die Körperteile ihrer Opfer wetteten.” Trotzdem: Er rettete über 150 Leben, die meisten davon waren sehr jung. Es ist Notts persönlicher Triumph gegen die Grausamkeit des Krieges, der ihn auch nach seiner Rückkehr jeden Tag begleitet.

Zu Hause in England (wo er an drei verschiedenen Krankenhäusern als Chirurg arbeitet und Ärzte für Konfliktregionen ausbildet), stützen sich David Nott und die letzten verbleibenden Ärzte in Syrien auf Technologie, um gemeinsam die Belagerung Aleppos zu durchbrechen. In ganz Syrien gibt es Untergrund-Krankenhäuser, die nicht sichtbar sind für Regierungstruppen oder den IS. Die behelfsmäßigen Operationssäle in den Kellern der Häuser sind mit Webcams ausgestattet. Sie erlauben es Nott und von ihm ausgebildeten Ärzten in sicheren Regionen, bei wichtigen Operationen live vor Ort zu sein. So gut wie jeder Chirurg, der noch in der Stadt operiert, wurde von Nott einmal vor Ort trainiert, so dass Nott die Fähigkeiten des Arztes einschätzen kann und im Notfall Operationen per Skype und Textnachricht dirigieren kann.

Da kann es schon mal passieren, dass Nott während eines Abendessens in Chelsea eine SMS aus Aleppo mit Fotos von Schusswunden bekommt—mit der knappen Frage eines Mediziners, er habe die Kugeln schon aus den Därmen des Mannes herausgezogen, aber wie genau solle er mit den Splittern in der Kehle vorgehen? Bitte um dringende Antwort, der Patient stirbt hier gerade. Der New Yorker beschreibt, wie Nott sein Essen kalt werden lässt und unter dem Tisch die Namen der Muskeln textet, die durchtrennt werden müssen, um mit den entstehenden Hauttaschen die klaffenden Wunden provisorisch abzudecken.

„Für mich ist das wohl eins der spannendsten Dinge, die ich je getan habe”, sagt Nott dem Reporter der BBC Newsnight, der bei einer Skype-OP zuschauen durfte, bei der einem Mann der Kiefer rekonstruiert wird, der durch eine Bombe weggesprengt wurde. Die Ärzte vor Ort sagen in Richtung Selfie-Stick, wie dankbar sie für jede Hilfe und medizinische Expertise von Dr. Nott sind: „Wir sind ja unter Belagerung, deshalb kann der Patient nicht aus der Stadt. Wir müssen es hier machen.” Nicht alle wollen aufgenommen werden und verstecken sich daher hinter ihrem Mundschutz: Jemandem das Leben zu retten, ist in Aleppo lebensgefährlich.

Bild: Screenshot Youtube | BBC Newsnight

Diese Gefahr hat auch Nott vor zwei Jahren hautnah erleben müssen, wie er in einem Video für den Guardian erzählt: Einmal stand Nott gemeinsam mit syrischen Kollegen im Operationssaal und vernähte einem Schwerverletzten mit einer Schusswunde in der Brust die Arterie zwischen Herz und Lunge, als plötzlich sieben bis an die Zähne bewaffnete IS-Kämpfer mit Kalaschnikows hineinstürmten. Hätten sie gesehen, dass Nott kein Araber ist, hätten sie ihn sicher erschossen. Doch dann stellte sich heraus: Der Mann auf dem OP-Tisch war selbst ein IS-Kämpfer. Notts syrischer Arzt-Kollege drohte dem Anführer der Dschihadisten: Sollte jemand den Chefchirurgen stören, würde ihr Freund sterben. So stand die Brigade nur unschlüssig herum und rannte kurze Zeit später wieder nach draußen. Sie hatten keinen Verdacht geschöpft.

Nicht alle seiner Kollegen hatten so viel Glück: Dutzende, wenn nicht Hunderte der Ärzte, die Nott vor Ort ausgebildet hatte und die zu Freunden und Helden für ihn wurden, wurden im Laufe der Zeit getötet. Die prekäre Lage bedeutet, dass die verbleibenden Ärzte nicht nur Alleskönner sind, sondern häufig auch gar keine formale Ausbildung für die vielen verschiedenen Fachgebiete haben, in denen sie tagtäglich operieren. „Ich arbeite als Herzchirurg, Gefässchirurg, mache Ultraschall, Gynäkologie, alles”, erzählt zum Beispiel Notts Kollege „Dr. Aziz” aus Aleppo in einem Video der NGO Syria Relief noch vor wenigen Monaten. Auch sein Deckname hat ihn nicht davor geschützt, getötet zu werden.

Notts Ausbildung zum Allround-Chirurgen findet, wenn immer möglich, auch persönlich statt—auch wenn die Sicherheitslage es heute nur den wenigsten syrischen Ärzten oder Medizinstudenten erlaubt, für ein Seminar in die Türkei zu reisen. In Aleppo wird die Situation immer aussichtsloser. Kaum ein Bewohner schafft es, die eingekesselte Stadt zu verlassen—um so mehr sind die Ärzte auf Skype und WhatsApp zum Brückenbau angewiesen.

David Nott bei einer Konferenz | Bild Wikimedia Commons | CC BY-SA 2.0

Es gibt noch einen anderen Grund, warum der Gefässchirurg so begeistert über die Technologie spricht: Er hat nämlich jetzt eine Familie. Vor zwei Jahren hat er Elly kennengelernt, eine Nahost-Analystin und Forscherin, mit der er nun eine kleine Tochter hat. Für Nott, dessen Eltern beide verstorben sind und der sich durchaus vorstellen konnte, ein Leben aus dem Rucksack von humanitärem Einsatz zu Einsatz zu führen, bis es ihn vielleicht selbst mal erwischen würde, war diese Art der Abhängigkeit neu: Plötzlich war da jemand, der ein gesteigertes Interesse daran hatte, dass sich Nott trotz seines Engagements möglichst in Sicherheit bewegt.

Notts Frau Elly leitet heute die David Nott Foundation, die die Ausbildung zum Allround-Chirurgen, der mit immer zu wenig Ausstattung unter enormem Zeitdruck handlungsfähig bleibt, weltweit weitergeben will—insbesondere an Ärzte in Kriegsregionen. Und so kann Nott „den Kick, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen”, den er zugegebenermaßen sucht, auch von zu Hause aus nachjagen—indem er über Skype selbst im Operationssaal bei seinen jungen Kollegen dabei ist und sie mit Tipps unterstützt.

Letztlich müssen die Ärzte jedoch auch trotz technischer Hilfsmittel Tag für Tag Entscheidungen treffen, die sich immer falsch anfühlen: Lieber direkt amputieren und Zeit sparen oder Blutkonserven verschwenden und die Arterien aufwändig reparieren? Rette ich die Mutter oder das ungeborene Kind? Versuche ich, den Patienten zu operieren, oder schicke ich ihn ihn die „Black Zone” zum Sterben, um das Bett für die nächsten Opfer frei zu machen? Zumindest sind sie dabei nicht ganz allein.

Wir hätten David Nott gern persönlich zu seiner Arbeit befragt; doch nach Kontaktveruschen über mehrere Wochen hinweg teilte uns die David Nott Foundation mit, ihr Gründer sei durch seine drei Engagements an verschiedenen Krankenhäusern in Großbritannien „momentan unglaublich beschäftigt. Es tut uns leid, dass David diesmal nicht aushelfen kann.”