Eine Kurzgeschichte aus der Fiction Issue 2015
„Dieser Anzug wird Ihr Kostüm sein.” Lao Ting zeigte auf den schwarzen Rock und den Blazer, die an der Garderobenstange in der Ecke seines Büros hingen. „Sie als Vizepräsidentin der Firma ausgeben. Männer werden Sie möglicherweise als Sexobjekt betrachten und das wird bei Geschäftsverhandlungen von Vorteil sein. Ich habe festgestellt, dass amerikanische Geschäftsmänner sehr leicht zu manipulieren sind. Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass sie Christie Brinkley, dem amerikanischen Supermodel der 1980er, ähneln?”
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Das hatten ein paar Leute schon. Ich sah aus wie Christie Brinkley, und wie Jacqueline Bisset und Diane Sawyer, hatte man mir gesagt. Ich war 1,75 Meter groß, wog 52 Kilogramm und hatte langes, seidiges hellbraunes Haar. Meine Augen waren blau, die beste Augenfarbe für jemanden in meiner Position, meinte Lao Ting. Ich war 28, als ich zur stellvertretenden Vizepräsidentin werden sollte. Ich sollte bei persönlichen Meetings das Gesicht der Firma sein. Lao Ting nahm an, amerikanische Geschäftsmänner würden ihn aufgrund seines Aussehens diskriminieren. Er sah aus wie ein Ziegenhirte. Er war klein und dünn und trug eine weiße Leinentunika und weiße Strandshorts mit einer Kordel als Gürtel. Sein Bart war fast weiß und hing wie ein magischer Schweif von seinem Kinn bis zum Schritt. Vorher hatte ich von zu Hause aus als Kundenbetreuerin für Marriott Hotels gearbeitet und telefonische Reservierungen entgegengenommen. Ich wohnte in einer Einraumwohnung über einer mexikanischen Bäckerei in Oxnard. Aus meinem Fenster blickte ich auf eine Betonmauer.
„Ihr Nachname wird Reilly sein”, sagte mir Lao Ting. „Möchten Sie einen Vornamen für ihre professionelle Person vorschlagen?”
Ich schlug Joan vor.
„Joan ist zu gefühlvoll. Fällt Ihnen ein weiterer ein?”
Ich schlug Melissa und Jackie vor.
„Stephanie ist ein guter Name”, sagte er. „Dabei denkt ein Mann an hübsches Seidenpapier.”
Die Firma hieß Value Enterprise Association und das Büro befand sich im Erdgeschoss von Lao Tings luxuriösem dreistöckigem Gebäudekomplex am Strand von Ventura. Es war ein Familienunternehmen mit einem altmodischen Charme, der mich beruhigte. Ich verstand nie ganz, welche Dienste die Firma eigentlich anbot, doch ich mochte Lao Ting. Er war freundlich und großzügig und ich sah keinen Grund, ihm zu misstrauen. Die Arbeit war einfach. Ich musste ein paar Namen und Zahlen auswendig lernen, das Kostüm und High Heels tragen, Make-up, Haarspray und Parfüm benutzen und so weiter. Alle im Büro waren sehr höflich und professionell. Anstelle eines Wasserspenders hatten sie einen großen Samowar aus rostfreiem Stahl mitten im Foyer aufgestellt, in dem sie Wasser kochten. Die Familie trank grünen Tee und Malzmilch aus großen Keramiktassen. Lao Tings Frau, Gigi, gab mir eine eigene Tasse, als gehörte ich zur Familie. Ich verbrachte viel Zeit damit, auf der Terrasse zu sitzen und aufs Meer hinaus zu blicken. Es war ein gutes Gefühl, tagsüber aus dem Haus zu kommen und für meine Arbeit wertgeschätzt zu werden. Lao Ting versicherte mir, dass er niemals von mir erwarten würde, mit Kunden oder Händlern unprofessionellen Aktivitäten nachzugehen, und das tat ich auch nie. Alles ging sehr ehrenhaft vonstatten.
Die Stellvertreterinnenstelle brachte mir das Sechsfache des Gehalts, das ich fürs Telefonieren bei Marriott bekommen hatte. Ich bezahlte bald meine Kreditkartenschulden ab und zog in ein renoviertes Loft in einem Industriegebiet in El Rio. Ich richtete es mit gemieteten Möbelstücken und kleinen Dekoartikeln aus Geschenkläden ein. Ich verkaufte mein Auto, denn der Motor des riesigen weißen Cadillacs war kurz davor gewesen, den Geist aufzugeben. Lao Ting hatte einen Chauffeurdienst für mich engagiert, falls ich aus beruflichen Gründen irgendwo hinmusste, und wenn ich am Wochenende zu einem Club oder einer Party wollte, nahm ich ein Taxi. Ich konnte es mir leisten. Meist ging ich in Underground-Clubs und auf Afterpartys im Stadtzentrum oder draußen in der Wüste. Die Leute waren seltsam—aus L.A. verstoßene Freaks und Fetischisten aus der Provinz, Raver mittleren Alters, Computergeeks auf Acid, Teenies auf Ecstasy, alte Frauen, die üblichen zwielichtigen Gestalten. Ich hatte für die Wochenenden ein bestimmtes Outfit. Ich trug gern einen Trenchcoat, einen alten Detektivhut und eine große, getönte Brille. Unter meinem Mantel trug ich einen roten Spitzenbody. Ich hatte den Stoff im Schritt eingeschnitten, um Platz für meine Genitalien zu schaffen, die aufgrund eines Problems mit der Hypophyse angeschwollen waren. Unter dem Body bedeckten Centmünzen meine Nippel und ein ausgeschnittenes Foto von Charlie Chaplins Gesicht meinen Schamhügel, beides mit Klebeband befestigt. Ich fühlte mich in den Sachen wohl. Ich hatte normale Kleidung immer als Kostüm empfunden, auch schon vor meiner Arbeit als Stellvertreterin.
Ich hatte mich geschämt, Männer in die Einraumwohnung in Oxnard mitzunehmen, denn dort roch es nach Fritteuse und es gab keine Sitzgelegenheiten außer dem schmuddeligen Teppichboden und meinem Bett, was sich zu intim anfühlte. Wenn ich Männer in mein Loft in El Rio mitnahm, was ich nicht oft tat, dann sahen sie sich meine Sachen an und fragten, was ich beruflich machte.
„Ich bin die stellvertretende Vizepräsidentin eines Handelsunternehmens”, sagte ich. Ich setzte sie auf die gemietete Couch und gab ihnen eine durchsichtige Plastiktüte, die sie sich über den Kopf ziehen konnten, wenn sie wollten. Wenn die Schwellung besonders schlimm war, wurde ich ein wenig angespannt. „Ich möchte nicht Liebe machen”, sagte ich zu einem Mann, an den ich mich erinnere. Er war gut aussehend und braun gebrannt. Er trug weiße Kleidung zum Capoeira-Tanzen. Das hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht.
„‚Möchte nicht’”, wiederholte er und gluckste mit leuchtenden Augen unter der Plastiktüte.
„Sex gibt’s bei mir nicht”, erklärte ich. „Ich will einfach nur strippen.”
Während der langen Taxifahrt aus dem Club hatte er so gesprochen: „Meine Arbeit zahlt mir alles—Getränke, Mahlzeiten, Reisen, Hotels. Ich reise ständig nach Kanada. Cafés, Theaterkarten, alles. Ich kriege alles erstattet”, sagte er. „In Anführungszeichen”, sagte er immer und immer wieder. Seine Hände zuckten und seine Augen waren hitzig und umtriebig, als sei ein Blitz in seinen Augäpfeln gefangen.
„Erzähl mir was Geheimes”, sagte ich zu ihm, während ich den Gürtel meines Mantels aufknotete.
„Ich habe Kaninchen als Haustiere”, sagte er. Er setzte sich aufrecht an den Rand der Couch. „Weiß mit roten Augen. Ich gebe ihnen Fleisch. Ich gebe ihnen Tunfisch.” Dann wieder: „Wenn ich in Kanada bin, passt eine Nachbarin, in Anführungszeichen, auf meine kleinen Babys auf”, und so weiter.
Gesehen zu werden war das einzige erotische Vergnügen, das ich genießen konnte. Nachdem ich meinen Trenchcoat abgelegt hatte, zog ich die Schuhe aus. Als Nächstes öffnete ich die Druckknöpfe des Bodys und ließ ihn auf den Boden fallen. „Ich möchte nicht Liebe machen”, wiederholte ich, als ich die Münzen von meinen Nippeln pflückte.
„‚Möchte nicht?’”, wiederholte der Mann. „Warum redest du so?”
„Zur Betonung”, sagte ich. Ich sagte ihm, er solle das Foto von Charlie Chaplin von meinem Schamhügel abziehen. Er kratzte mit langen, braunen Fingern am Tesafilm. Er hatte es nicht eilig. Es war, als fände in seinen Augäpfeln schon genug Aufregendes statt. Vielleicht war für ihn das restliche Leben nur so lala.
„Wer ist dieser Typ?”, fragte er.
„Hitler”, sagte ich.
Er schnappte nach Luft und zog sich die Plastiktüte vom Kopf.
„Limos, Abendessen, Diskobesuche”, sagte er. Er riss an dem Foto und meine Schamlippen purzelten heraus und gegen meine Schenkel. „Haha”, sagte er und piekte mit dem Finger. „An dir ist mehr, als man auf den ersten Blick vermutet.”
Gigi war Produktionsmanagerin. Sie half mir mit Frisur und Make-up und bereitete mich auf die Meetings mit den Geschäftsmännern vor. Wir lernten einander ziemlich gut kennen. Einmal erzählte ich ihr von meinen Problemen mit der Liebe. „Ich kann mit normalen Leuten nicht umgehen”, erklärte ich. „Wenn ich in den Supermarkt gehe oder zum Abendessen in ein normales Restaurant, dann habe ich Angst. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Männer beachten mich wegen meines Aussehens. Aber es fühlt sich falsch an, unter diesen normalen Leuten nach Liebe zu suchen. Sie sind zu neurotisch. Sie sind zu Liebe gar nicht fähig, nur zu Bequemlichkeit und Gleichmut.”
Gigi sagte: „Mach dir keine Gedanken darüber, ob du einen Ehemann findest. Wenn die Frau die Jägerin ist, kann sie nur die schwachen Männer sehen. Alle starken Männer verschwinden. Du musst also nicht jagen, Stephanie Reilly. Du kannst auf einer höheren Ebene leben. Du treibst einfach umher und dann findest du jemanden. So habe ich Lao Ting gefunden. Es war, als sei ein Scheinwerfer auf ihn gerichtet und als würde er einen Meter über dem Boden schweben. Ich habe ihn schon aus einem Kilometer Entfernung gesehen, wie er den Rego Boulevard entlangschwebte. Es ist lustig, sich das jetzt vorzustellen, aber er war einmal ein sehr gut aussehender Mann.”
„Das ist wundervoll, Gigi”, sagte ich.
„Es ist eine wunderschöne Liebesgeschichte. Ich erzähle dir ein andermal mehr davon.”
Value Enterprise Association hatte einen weiteren Stellvertreter eingestellt, der in wichtigen Meetings als mein Anwalt auftrat. Er und ich saßen an langen Glastischen in Bürogebäuden in L.A., tranken Eiswasser und gaben Geschäftsmännern Verträge zum Unterschreiben. Abgesehen von diesen Meetings kommunizierte die Familie ausschließlich schriftlich und telefonisch mit Geschäftsmännern. Lao Ting und andere verwendeten in ihrer Korrespondenz den Namen Stephanie Reilly. Gigi sprach am Telefon als Stephanie Reilly. Ihre Aussprache und ihr Lachen waren perfekt amerikanisch. Wenn die Geschäftsmänner mich persönlich kennenlernten, sagten sie: „Schön, ein Gesicht mit dem Namen verbinden zu können. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie so jung sind!”
„Bitte, nennen Sie mich Stephanie”, sagte ich dann, schlug meine Beine übereinander und wieder auseinander und schob Verträge übers Glas.
„Also, Stephanie, können wir die Zahlen noch einmal durchgehen? Es scheint hier nämlich ein paar Posten zu geben, mit denen niemand von uns gerechnet hat.”
„Selbstverständlich. Ich möchte nicht, dass es Überraschungen gibt.” Lao Ting hatte mir beigebracht, so zu sprechen.
Dann ging ich langsam mit ihnen die Änderungen durch und räumte dabei ihre Einwände aus, bevor sie sie überhaupt aussprechen konnten. „Sorge dafür, dass sie immer nicken”, lehrte mich Lao Ting. Ich spielte die Älteren gegen die Jüngeren aus.
„Siehst du? Ich habe dir gesagt, da liegt das Problem”, sagte dann der eine zum anderen, während ich lächelte.
„Erstellen Sie keine Bedarfsprognose, die auf vergangenen Geschäftsjahren oder gar auf chinesischen Erwartungen basiert”, fügte ich gern hinzu. „So funktionieren unsere Dienste nicht und das ist es auch, was uns so attraktiv macht. Die meisten Firmen, die amerikanisch-chinesische Verträge schließen, besitzen dafür nicht die nötige Kompetenz. Wenn Sie dennoch direkt mit den Chinesen sprechen möchten …”
„Nein, nein. Natürlich, natürlich. Das verstehen wir”, sagten dann die Geschäftsmänner und ich stand auf und lehnte mich über den Schreibtisch, um auf die bunten Pfeile zu deuten, die Gigi überall hin geklebt hatte.
Wenn ihre Kugelschreiber noch zögerten, wurde Robbie das Schweigen unangenehm. Er sagte: „Natürlich ist überall eine Risikoübernahme enthalten. Wir haben alle nötigen Versicherungen, bla, bla. Aber verklagen Sie uns bitte nicht!”
„Lass ihnen Zeit”, sagte ich. „Lass die Männer nachdenken.” Die Geschäftsmänner unterschrieben alles, was ich ihnen vorlegte. Sie wollten mir immer gefallen und mir zeigen, dass sie auf meiner Seite waren. Niemand verklagte je Lao Ting.
Robbie war ein gut aussehender Homosexueller aus Arroyo Grande und sehr talentiert, wie ich fand. Er war ein Gesundheitsfanatiker. Jeden Morgen joggte er 20 Kilometer barfuß am Strand. Er reiste oft nach Hawaii, um sich bei einem Heiler seelisch reparieren zu lassen. In einem vergangenen Leben war Robbie ein Maultier gewesen, das von seinem Meister furchtbar misshandelt wurde. Robbie sagte, man habe ihn in einem Verschlag von der Größe eines kleinen Schranks verhungern lassen.
„In welchem Land warst du ein Maultier?”, fragte ich ihn einmal.
„Russland”, sagte er. „Etwa 30 Kilometer von Finnland entfernt. Die Sommer waren am Schlimmsten, denn die Sonne ging nachts nicht unter und mein Meister litt an Schlaflosigkeit. Er hatte eine Psychose und niemand verstand ihn. Er ritt mich hinaus in den Wald, wo ihn niemand hören konnte, und dann prügelte er mich und schrie und weinte. Gott, es war schrecklich. Ich hatte auch Mitgefühl mit ihm. Es ist nicht so, als hätte ich kein Mitgefühl gehabt. Ich komme nur nicht darüber hinweg, dass er mich in diesen Verschlag gesteckt hat. Wahrscheinlich war er zu feige, um mir den Kopf abzuschneiden.”
„Hat er dich sexuell missbraucht?”, fragte ich.
„Nur emotional”, sagte Robbie. „Mein Heiler lässt mich diese uralte Lavaasche einnehmen. Sie macht meine Zunge grau, also muss ich rote Bonbons lutschen.” Er streckte die Zunge raus, um mir zu zeigen, wie rot sie war. „Wenn ich zu einem Casting muss.”
„Sieht gut aus”, sagte ich.
„Rein pflanzliche Zutaten. Aber lässt trotzdem die Zähne faulen. Ist bei allen zuckerhaltigen Sachen so. Sogar bei Obst. Aber ich fühle mich geerdeter, seit ich die Lavaasche nehme.”
Robbie aß keine Mahlzeiten mit der Familie. Er lebte hauptsächlich von Gemüsesäften, Nüssen und Kräutern. Die Familie verurteilte ihn deswegen nicht. Sie unterstützte ihn bedingungslos. An seinem Geburtstag schenkten sie ihm ein Mandelbäumchen. An meinem Geburtstag schenkten sie mir einen Bademantel aus weißer Seide, auf den hinten ein rosafarbener Drache gestickt war. Lao Ting und Gigi waren die liebenswertesten, gutherzigsten Menschen, die man sich nur vorstellen konnte.
„Du wirst über das hinwegkommen, was dir zugestoßen ist”, sagte Gigi zu Robbie. „Ich habe letzte Nacht geträumt, dass du ein weißer Hengst bist, der frei über die Tundra prescht.”
„Ja, du wirst als Sieger daraus hervorgehen. Und liebe, liebe Stephanie Reilly”, sagte Lao Ting über den Tisch. „Du und Robbie, ihr macht eure Arbeit so gut. Wir sind froh, dass ihr zwei Teil unseres Lebens seid. Unsere wunderschönen amerikanischen Kinder. Wir sind so stolz auf euch. Seht euch nur mal an! So gut aussehend! So hübsch!”
Lao Ting hatte ein Verdauungsproblem, aufgrund dessen er sich nur von Garnelen und gekochten Yamswurzeln ernähren konnte. Durch seine Ernährung und sein tägliches Training aus Schwimmen, Dehnübungen und Pingpong hatte er es aber ganz gut im Griff. Weil er der Patriarch der Familie und der Chef der Firma war, aß die gesamte diszipliniert-loyale Familie zu den Mahlzeiten nichts als Garnelen, Yamswurzel und Reis. Ich fragte Lao Ting eines Tages, ob er es jemals leid sei, jeden Tag dasselbe Gericht zu essen.
„Essen bin ich nie leid”, antwortete er und klatschte sich auf den schmalen Oberkörper.
Ich kochte nicht gern für mich selbst. Ich hatte elegantes Besteck und gusseiserne Töpfe zu Hause, doch ich nahm lieber Partydrogen, als zu kochen und zu essen. Unter der Woche nahm ich all meine Nahrung mit der Familie zu mir. Ich mochte den Reis, den es bei ihnen gab. Sie kochten ihn in einem riesigen Dampfgarer aus Bambus und er schmeckte nach altem Holz, so wie ein Antiquitätenladen riecht. Die Garnelen wurden am Stück gekocht und dann dick mit Butter und chinesischen Kräutern bestrichen. Die Familie aß die Garnelen, indem sie zuerst den Kopf abbissen. Sie spuckten die kleinen Tentakel und die schwarzen spinnenartigen Augen auf den Boden zwischen die Plastikhocker, auf denen sie um den niedrigen Esstisch saßen. Dann steckten sie die ganze Garnele in den Mund, zerkauten sie und spuckten den Panzer aus. Der älteste Sohn, Jesse, kehrte und wischte den Esszimmerboden nach jeder Mahlzeit. Es gab insgesamt sechs Kinder, fünf Jungen und ein Mädchen, alle Teenager. Alle außer Jesse gingen noch auf die Highschool. Wenn sie nach Hause kamen, halfen sie ihren Eltern mit dem Papierkram und räumten auf. Der Komplex war sehr sauber und roch nach Räucherstäbchen. Alle Böden waren aus fleischfarbenem Marmor. Die Wände waren mit großen, aus roter Seide gewobenen Kreuzen dekoriert. „Die sind aus China”, erzählte mir Gigi. „Sie bringen Glück. Sie stehen für Geburt und Wohlstand.”
Einmal zeigte mir Gigi auf einer Karte, woher die Ahnen der Familie stammten. „Der Vater der Mutter meiner Mutter ist aus dieser Stadt. Die Mutter des Vaters der Mutter von Lao Ting wurde hier geboren, an diesem Fluss. Die Mutter der Mutter meines Vaters ist aus diesem Dorf. Siehst du den Punkt? Es ist so schön dort. Du kennst Nebel? Es gibt dort so viel Nebel. Er ist wie ein großer Geist. Das ganze Dorf ist ein einziger großer, glücklicher Geist.”
„Ich würde gern einmal dorthin reisen”, sagte ich.
„Das kannst du jederzeit machen. Es gibt dort alle möglichen magischen Dinge. Vielleicht gehst du dorthin und drehst ein bisschen durch. Ab und zu muss man ein bisschen durchdrehen, ein bisschen Spaß haben. Manchmal denke ich, du siehst zu oft traurig aus. Aber ich glaube, du wirst bald glücklich sein. Hier, lass mich einen Segen sprechen.”
Ich sagte Gigi nie etwas von der Hypophysensache, der Quelle meiner Traurigkeit. Wann immer ich eine Erkältung oder einen Ausschlag oder eine Magenverstimmung hatte, machte Gigi für mich eine Tinktur aus chinesischen Kräutern, die sie in einer Holztruhe im großen Schlafzimmer im ersten Stock aufbewahrte. Jede Tinktur schmeckte anders und meist halfen sie mir, gesund zu werden. Ich war sicher, wenn ich Gigi von meinem Problem erzählt hätte, dann hätte sie mir auch dafür eine spezielle Tinktur zubereitet. Und dann hätte sie im Anschluss jeden Tag gefragt: „Geht es besser? Ist das Fleisch kleiner geworden oder ist es noch so geschwollen? Arme Stephanie Reilly. Du bist so hübsch. Wir müssen deine Ga-Ga wieder gesund machen.”
Eines Nachts träumte ich, dass Gigi mir sagte, ich solle eine Radiosendung aus den Dämonenstimmen in mir machen. Ich tat es, und als ich die Sendung ausstrahlte, hörten alle die bösen Dinge, die die Dämonen sagten. Die Menschen wurden verrückt und begingen Selbstmord. Während ich im Bett lag und träumte, kam eine Lähmung über mich. Die Zimmerdecke öffnete sich und ein Raumschiff laserte einen mächtigen, leeren Lichtstrahl herunter, der all die Dämonen durch meine Brust herausexorzierte. Es dauerte etwa zehn Sekunden.
„Ich frage mich, ob sie alle fort sind”, sagte ich Gigi. „Und wenn sie weg sind, was werde ich wohl tun? Ob ich ab sofort anders sein werde?”
„Ich hatte letzte Nacht auch einen Traum”, sagte Gigi. „Ich begegnete einer jungen Frau in einem Laden. Es war nur ein kleiner Tante-Emma-Laden, dreckig, nicht besonders schön. Die junge Frau nahm ein Getränk vom Regal und zerbrach die Flasche auf dem Boden. Dann fing sie an, die kleinen Glasscherben zu essen. Ich versuchte, sie vom Boden hochzuziehen. Ich rief: ‚Mach das nicht, liebes Kind!’, doch sie schnitt mir mit den Scherben in die Arme. Ihr Haar verhedderte sich vor ihrem Gesicht. Sie hatte Haar wie eine Afroamerikanerin, die es sich glättet. Es war wie verknotete Bänder quer über ihr Gesicht. Als ich aufwachte, dachte ich, die Leute könnten versuchen, ihr Haar so zu tragen, vor dem Gesicht verknotet. Wenn man es gut machen würde, dann könnte es sehr dekorativ und schön aussehen.” Sie wandte sich ihrer Tochter zu, die langes, glattes schwarzes Haar hatte. „Vielleicht lässt du mich später ein paar Entwürfe an dir ausprobieren.” Das Mädchen kaute ihr Essen und wedelte mit ihren Stäbchen hin und her. „Nein?”, sagte Gigi. „Später bereust du es bestimmt.” Sie lachte. „Ich hoffe, deine Dämonen sind fort, süße Stephanie Reilly. Aber verändere dich bitte nicht zu sehr. Du würdest mir fehlen. Wir würden alle deinen warmherzigen, zerbrechlichen Geist vermissen.”
Doch die Dämonen verließen mich nicht. Sie waren immer da, verhöhnten mich und füllten meine Hypophyse mit Gift. Eines Tages nach einem erfolgreichen Meeting erzählte ich Robbie auf dem Rückweg von der Hypophysensache.
„Ich kann verstehen, dass du frustriert bist”, sagte er. „Mein Heiler sagt, der Körper entspringt aus dem Geist. Alles ist emotional. Gedanken und Gefühle. Gibt es eine Emotion, die du in deiner Hypophyse speicherst, irgendein negatives Gefühl, das deine Genitalien so groß und eklig macht?”
„Ich schätze, ich habe viele angestaute Emotionen. Aber nichts Schlimmes. Es ist Liebe. Es ist einfach Liebe, die in mir vergammelt.”
„Von so einem Problem habe ich noch nie gehört.”
„Das ist es”, sagte ich. „Ich glaube, ich habe zu viel Liebe und niemanden, dem ich sie schenken kann.”
„Welch ein Schlamassel”, sagte Robbie. „Ich kann dir die Nummer eines Zauberers geben. Er wandelt Energien um, damit sich Menschen davon reinigen und sie dann an Bedürftige spenden können.”
„Es wäre schön”, sagte ich, „jemandem zu helfen.”
„Als ich eine Sehnenentzündung hatte, hat er die Entzündung auf eine sterbende Mücke übertragen. Dann hat mich die Mücke später am selben Tag gestochen. Es war wundervoll. Ich weiß nicht, ob es dieselbe Mücke war, aber meinem Handgelenk ging es fast augenblicklich besser.”
„Das ist fantastisch, Robbie”, sagte ich.
„Das Leben ist fantastisch, Stephanie Reilly. Wir haben das große Los gezogen, denn wir dürfen auf diesem wunderschönen Planeten leben. Wenn ich diese Art positive Einstellung aufrechterhalten kann, dann kann mich ein Irrer so viel prügeln wie er will. Er kann mir alle Knochen brechen. Es gibt keinen Schmerz”, sagte Robbie. „Erfahrungen sind einfach nur Zeit, die unterschiedlich vergeht. Zeit vergeht und geht und geht. Sie kann sonst nirgends hin. Ruf ihn an.” Er schrieb die Telefonnummer des Zauberers auf die Rückseite einer Visitenkarte.
„Weißt du, was passiert, wenn du von einer Brücke springst?” Das war noch ein Mann, an den ich mich erinnere. Er hatte eine Narbe quer über die Stirn, wie ein drittes Auge. Ich traf ihn, wie er vor einem Spirituosenladen bettelte. Er war angespannt und verstört und roch nach Motoröl und Erbrochenem. Das hatte mich auf ihn aufmerksam gemacht. Ich sagte ihm, er könne auf meiner Couch schlafen, wenn er versprach, mich nicht anzufassen, und nahm ihn mit nach Hause ins Loft. Es stellte sich heraus, dass er noch ein Junge war, erst 19 Jahre alt. Er war von zu Hause in Nebraska weggelaufen und per Anhalter nach Venice Beach gefahren. „Im Grunde verblutest du”, erklärte er mir. „Deine Knochen werden in deinem Körper zu Messern, wenn du auf dem Wasser aufschlägst. Oder der Druck lässt dein Herz explodieren. Und du brichst dir das Genick. Kann ich deine Toilette benutzen?”
„Setz dich hin”, sagte ich und deutete auf die Couch.
Im Taxi sprach er so: „Weißt du, wie viele ermordete Leichen nie entdeckt werden? Weißt du, wie man erkennt, ob die Seele einer Person ihren Körper verlassen hat? Hast du vorhin den Typen vor dem Schnapsladen gesehen? Ich glaube, er ist besessen oder so.”
„Ich bin besessen”, sagte ich ihm. „Viele Leute sind das oft.”
„Wie ist es? Sprichst du in Zungen? Machst du manchmal Sachen, die du bereust, aber nicht rückgängig machen kannst?”
„So ist es nicht”, sagte ich. „Es ist mehr ein gesundheitliches Problem.”
„Weißt du, dass es Leute in Indien gibt, wenn du denen die Hände abtrennst, dann wachsen ihnen einfach neue? Manche Leute haben besondere Kräfte. Ich wünschte, ich könnte nach Indien gehen. Deine Wohnung gefällt mir. Ist dein Mann zu Hause? Ist er für alles offen und so?”
Ich strippte nicht für den Jungen. Ich gab ihm den spärlichen Inhalt meines Kühlschranks zu essen: einen Apfel, Joghurt, schokolierte Mandeln, eine Tiefkühl-Samosa. Wir saßen zusammen auf der Couch und unterhielten uns über verschiedene Arten zu sterben. Als die Sonne aufging, hatte ich meine Hose heruntergelassen und frage ihn nach seiner Meinung zu der Sache. Ich hoffte, er würde sagen, er habe schon viel Schlimmeres gesehen. Doch das hatte er nicht. „Du solltest mit mir nach Indien kommen”, sagte er. „Gurus, spezielle Ärzte, Mantras.”
„Es gibt ja immer die Chirurgie”, fing ich an.
„Ja, aber die erreicht nicht die Wurzel des Problems. Die Dämonen, richtig? Du bist trotzdem total hübsch”, sagte er. „Das hast du zum Ausgleich.”
Das Leben kann seltsam sein, und nur weil man sich darüber im Klaren ist, wird es noch lange nicht weniger seltsam. Ich weiß, dass ich keine wirkliche Weisheit besitze. Ich habe keine wunderbaren Ideen. Ich habe das Glück, hier und da ein paar nette Leute gefunden zu haben.
Lao Ting ging eines Morgens im Meer schwimmen und kam nie wieder. Sie schickten Boote raus, um nach ihm zu suchen, doch er blieb verschwunden. Wahrscheinlich hatten Haie ihn gefressen, sagte die Familie. Es gab keine Bestattung oder Vermisstenanzeige. Nur eine Gedenkfeier für die Familie, die zum Sonnenuntergang auf der Terrasse zusammenkam. Ich stieß für die letzten paar Stunden dazu. Robbie war verreist; er filmte ein Fitnessvideo mit seinem Medizinmann in Hawaii. Als die Sonne untergegangen war, gab Gigi allen eine Tasse speziellen Tees, und als ich ihn trank, schlief ich auf dem weißledernen Zweisitzer ein und träumte von nichts, kein einziges Geräusch, nur wirbelnde graue Luft im unendlichen Raum. Am Morgen packten die Kinder Lao Tings gesamten persönlichen Besitz ein. Ein Laster von einem wohltätigen Unternehmen holte die Kartons ab. Es brach mir das Herz zu sehen, wie ordentlich alles war, wie sauber man Lao Ting wegpacken konnte.
Es gab keine Meetings mehr, keine Geschäftsmänner, keine Garnelen, keine Yamswurzel, keinen Reis. Gigi bestellte Brathuhn und ließ es im Esszimmer stehen. Orangefarbenes Öl sickerte durch die Papierbehälter und verfärbte die weiße Tischdecke. Doch sie war stark. Ich sah sie keine einzige Träne vergießen. Die Söhne gingen zum Strand hinunter und zündeten Dokumente an und starrten aufs Wasser und schrien ihre Trauer hinaus. Die Tochter blieb in ihrem Zimmer und hörte funkelnde Musik an ihrem Computer. Ohne Lao Ting konnte die Firma nicht funktionieren.
„Es ist das Beste”, sagte Gigi, als sie meinen letzten Gehaltsscheck unterschrieb. „Wir werden den Komplex verkaufen. Wir brauchen diesen ganzen Luxus nicht. Weißt du, Stephanie Reilly, als ich meinen Mann kennenlernte, war ich eine minderjährige Prostituierte. Ich habe Dinge getan, von denen ich hoffe, dass meine Tochter sie niemals tun muss, weder für Geld noch umsonst. Als Lao Ting mich das erste Mal auf der Straße sah, war ich nichts als ein dürres chinesisches Flittchen in einem Bikinioberteil—kannst du dir das vorstellen? All meine Träume waren damals Albträume. Nichts Gutes. Kein sicherer Ort zum Schlafen. Lao Ting gab mir das hier.” Sie knöpfte die obersten Knöpfe ihres schwarzen Trauerkleids auf und zog einen winzigen blutroten Stein hervor, der an einer Goldkette um ihren Hals hing. „Er sagte mir, dieser Stein würde mein gebrochenes Herz heilen. Schöne Worte, Romantik—ich weiß, wie dumm das alles klingt. Aber es wirkte. Es machte mich stark. Das ist nicht die ganze Geschichte. Ich will nur sagen, Stephanie Reilly, wir brauchen alle Contenance. Wir brauchen etwas Solides, an dem wir uns festhalten können. Wenn ich dich ansehe, dann sehe ich feine, lose Fäden, wie ein Seidenkissen, das man 100 Jahre lang gerieben hat. Armes Mädchen.”
Ein paar Jahre später, als ich verzweifelt war und meinem Leben ein Ende setzen wollte, rief ich Robbies Zauberer an. Zu dem Zeitpunkt wohnte ich in einer Mietwohnung in Van Nuys und fuhr jeden Monat mit dem Bus nach Tijuana hinunter, um Hormone zu kaufen, von denen ein Arzt gesagt hatte, sie würden die Sache vielleicht ein wenig regulieren. Es funktionierte nicht. Am Telefon erzählte ich dem Zauberer von meiner Lage. Ich weinte.
Ich sagte: „An einem guten Tag ist jede Kleinigkeit zauberhaft. Alles ist ein Wunder. Es gibt keine Leere. Es gibt kein Bedürfnis nach Vergebung oder Flucht oder Medizin. Ich höre nur den Wind in den Bäumen und wie meine bösen Geister ihre sakralen Pläne schmieden, wie sie die Splitter zu einer Eisdecke zusammenfügen. Ich merke, dass ich mich unter dem Eis fühlen kann, als sei ich einfach nur eine normale Person. In der Dunkelheit und Kälte finde ich ‚Frieden’.”
„Wie heißt du?”, fragte der Zauberer.
Also zog ich nach hierher, nach Vacaville, um mit ihm zusammen zu sein. Es ist gut, jemanden zu haben, an den ich mich spätnachts wenden kann, wenn die Stimmen in meinem Kopf laut sind und es keine Drogen gibt, um sie zum Schweigen zu bringen. Den Zauberer stört meine Schwellung nicht. Er blüht vor meinen Augen auf wie ein Baum, ein 75-jähriger Mann, belebt von meinem Schmerz und meiner Trauer. Ich fühle mich gut, wenn ich sehe, dass es ihm gut geht.