Alle Fotos außer wenn extra vermerkt: Rebecca Smeyne
Sex and the City. Das CBGB’s. Andy Warhol. Rent. Jeder, der davon träumt, irgendwann mal nach New York City zu ziehen, hegt eine dieser rosig-romantischen Fantasien über das, was in der Stadt zu finden hofft. Meine Fantasie war Michael Alig, der wohl berüchtigtste Partyboy der Welt.
OK, nicht ganz. Es war eher Macaulay Culkin mit Gesichtsbemalung, der in Party Monster unter Disco-Kugeln verstrahlt durch die Gegend tänzelt. Der Kultfilm machte Aligs Werdegang vom Außenseiter aus den Suburbs zum wichtigsten Partyveranstalter der Stadt unsterblich—genau so wie seinen unvermeidlichen Niedergang 1996, nachdem Alig und sein Mitbewohner Robert „Freez” Riggs, high auf einem Cocktail aus Ketamin, Heroin, Rohypnol und Crystal Meth ihren gemeinsamen Freund und Drogendealer, den 25 Jahre alten Andre „Angel” Melendez, umgebracht hatten.
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Ich entdeckte Party Monster als ich noch als vereinsamte Teenagerin in Tokyo lebte und gerade damit angefangen hatte, mich in die lokalen Clubs zu mogeln. Ich war mir nicht ganz sicher, wonach ich an diesen verruchten Orten eigentlich suchte, aber als ich Alig und seinen Freunden dabei zusah, wie sie in einem Van tanzten, der von einer Drag Queen auf LSD gefahren wurde, wusste ich, dass sie es gefunden hatten. „Es ist egal, wie du aussiehst!”, behauptet Aligs Freund James St. James in einem der bekanntesten Zitate aus dem Film von 2003. „Wenn du einen Buckel hast, dann wirf einfach etwas Glitter drüber, Schätzchen, und geh tanzen!” Party Monster zeigte mir, inwiefern Clubs radikale Orte sein konnten, in denen Freaks zu schillernden Superstars werden. Während meiner einsamen Bustouren zum Schwimmunterricht versank ich im Soundtrack des Films—einer anachronistischen Sammlung aus Electroclash-Tracks von Künstlern wie Vitalic, Miss Kitten und Ladytron. Ich begann zu verstehen, wie Dance-Musik auch nach Freiheit klingen konnte.
Als ich es dann 2007 nach New York schaffte, saß Alig schon seit einem Jahrzehnt im Gefängnis, wo er seine Strafe für Totschlag abbüßte. Die Meinung der New Yorker schien, was seine Hinterlassenschaften anging, tief gespalten zu sein, wobei ältere und jüngere Generationen relativ gleichmäßig auf beide Seiten verteilt waren. Für manche repräsentierten seine extravaganten Partys, die absolute Speerspitze der New Yorker Clubkultur. Für andere symbolisierten die drogengeschwängerten Exzesse und der grausame Mord den letzten Atemzug einer sterbenden Ära—den Moment, als ein gewisser Punkt überschritten worden war und die Stadt damit begann, rigide gegen Clubs vorzugehen. Ich merkte bald, dass das, was die Leute von Alig halten, oftmals viel darüber aussagt, in welcher Beziehung sie selbst zum Nachtleben stehen—er war zu einem Spiegel für unser aller Fantasien und Ängste geworden.
Während ich von einem dunklen Club zum nächsten wanderte, hatte ich manchmal das Gefühl, seinem Geist beängstigend nahe zu kommen. Ich betrat Räume, die eine gewisse Kühle ausstrahlten. Als ich einmal ins Limelight ging—einen Club in einer ehemaligen Kirche, der früher auch mit von Alig geführt wurde und in dem er jeden Mittwoch seine legendäre Disco 2000 Party veranstaltete—konnte ich der alptraumhaften Vision eines gentrifizierten New Yorks mit eigenen Augen sehen. Der Club war randvoll mit Touristen und schlechter Electromusik und hatte einen neuen schmalzigen neuen Namen bekommen, Avalon.
Zweimal—im November 2006 und Juli 2008—hatte Alig die Möglichkeit auf eine vorzeitige Haftentlassung und geriet so wieder in das Blickfeld der Medien. Beide Male wurde diese ihm aber verweigert, weil er positiv auf Drogen getestet worden war. Als Alig dann schließlich im Mai 2014 auf Bewährung entlassen wurde, gesellte ich mich zu der Traube von Journalisten. Einfach alle waren hinter dem heißbegehrten ersten Interview her. Ich wollte das gleiche wissen, was auch alle anderen wissen wollten. Was passiert, wenn man ein zügelloses Club Kid für fast zwei Jahrzehnte hinter Gitter sperrt? Würde sich der frisch entlassene Alig an einem glamourösem Wiedereinzug in die New Yorker Gesellschaft versuchen oder wie Riggs nach seiner Freilassung 2010 für immer aus dem öffentlichen Leben zurückziehen? Und wenn er sich tatsächlich dafür entscheiden würde, wieder im Nachtleben aktiv zu werden, würde ich, meine Generation, die die Szene gerade beherrscht, ihm überhaupt eine zweite Chance geben?
All diesen Fragen liegt ein Dilemma zugrunde: War Alig ein gefährlicher Soziopath oder einfach nur ein aufmerksamkeitssüchtiger Ex-Junkie, der auf die schiefe Bahn geraten war und eine richtig beschissene Nacht gehabt hatte?
Die New York Times sicherte sich das erste Interview und traf ihn dazu direkt am Tag seiner Entlassung vor den Gefängnistoren, wo auch ein großer Van mit 15 Freunden—darunter laut Artikel „drei Typen mit gefärbten Stachelhaaren, die den ganzen Morgen über Wodka-Red Bull getrunken hatten”—auf ihn wartete. Außerdem in dem Van: Die ehemalige Chefredakteurin des Jane Magazines, Esther Haynes, die auch Herausgeberin von Aligs sich momentan noch in Bearbeitung befindenden Memoiren, Aligula, ist, und zwei verschiedene Videocrews—eine drehte Szenen für Party Monster 2 und die andere filmte für eine Dokumentation über sein Leben mit dem Namen Glory Daze.
Auf dem Weg zurück in die Stadt postete Alig über seinen Twitter-Account, den er mit Hilfe seiner Publizistin schon aus dem Gefängnis heraus betrieben hatte, ein fröhliches Foto von ihm in einem zugeknöpften, blauen Hemd, wie er augenzwinkernd einen Starbucks Becher ableckt. Ohne den Text darunter hätte er der Post auch von einem 08/15 Familienvater stammen können: „Wer braucht schon Koks, wenn du einen Koffein-Kick von einem Starbucks Double Espresso haben kannst?” #drugfree.”
So gut wie alle großen US-Medien schrieben über Aligs Entlassung. Ich interviewte sogar seine Mutter, Elke Blair. „I’ll tell him to call you back”, sagte sie mit einem starken deutschen Akzent. Auf den Rückruf sollte ich aber vergebens warten.
Im Mai 2015 dann—fast genau ein Jahr nach seiner Freilassung—tauchte in meinem Facebook-Feed ein Video von Alig auf. Wie es aussah, war Aligs neustes Projekt eine selbstgemachte YouTube-Serie mit dem Namen The Pee-Ew Show (jetzt einfach nur Peeew!), die er im September 2014 mit Ernie Garcia zusammen ins Leben gerufen hatte—einem ehemaligen Freund aus Partytagen, auch bekannt als Ernie Glam. In der „Stinky, Sit-Down Comedy Talk Show Satire”, wie sie sich auf YouTube selber nennt, konnte man in den täglich erscheinenden Sendungen dem Duo dabei zuschauen, wie es einen Mischmasch aus verschiedensten angesagten Themen kommentierte—von neuen Hot Chip Songs bis hin zu russischen Masturbationsvideos—und dabei ihre eigenen Geschichten einstreuten. Freunde aus den alten Clubkreisen wie James St. James und Dj Keoki traten manchmal als Gäste auf.
In dieser bestimmten Episode witzeln die beiden darüber, wie Glam einmal bei einer Red Bull Music Academy Veranstaltung namens Storm Rave ein kleines rotes Tütchen vom Boden aufgelesen hatte, nur um zu realisieren, dass es sich dabei um eine Einladung für ein Bootparty von Rinsed handelte. Alig machte sich in der Folge über Glam lustig, weil er auf den Trick reingefallen war. „Das ist die Clubversion der hundert Dollar Note an einem Faden, die man auf den Bürgersteig legt, um zu schauen, wer sich danach bückt”, grinste Alig frech wie immer in die Kamera. Mit einem gewissen Schaudern merkte ich, dass sich Aligs Welt der meinen immer weiter näherte. Ich war bei genau der gleichen Red Bull Veranstaltung gewesen. Die Crew von Rinsed waren meine Freunde. Tatsächlich befand sich sogar in dem Moment, in dem ich mir das Video anschaute, genau so ein Tütchen in meiner Hosentasche.
Michael und seine Freunde drehen eine Szene für Peeew!
Zwei Wochen später sollten unsere Welten dann endlich aufeinandertreffen, als eine E-Mail von Glam in meiner Inbox auftauchte. Er hatte mich über einen Artikel gefunden, den ich über die Disco 2000 Sammelkarten aus den 90ern geschrieben hatte, die auf eBay bis zu 112 US-Dollar einbrachten. Wie sich herausstellte, war Glam einer der Verkäufer gewesen.
Glam hatte mir geschrieben, weil er mir ein Review-Exemplar seines Buches The Darkest Tunnel zuschicken wollte—einen Roman über Mord, Drogen und Prostitution in der düsteren Unterwelt des New Yorker Nachtlebens. (Kann das Zufall sein?) Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn zu fragen, ob ich beim Dreh der nächsten Peeew!-Episode dabei sein dürfe, die gleichzeitig die 200. Folge der Serie sein würde. Er sagte zu und so hatte ich eine Einladung zu Glams Wohnung in der Bronx erhalten, wo ich auch endlich Michael Alig in Fleisch und Blut treffen würde. Um meine nervöse Aufregung etwas im Zaum zu halten, erinnerte ich mich daran, dass solche Berühmtheiten eigentlich nie so cool sind, wie sie einem aus der Ferne betrachtet erscheinen. Ich wusste außerdem, dass Alig unglaublich gut darin war, die Medien zu manipulieren. Selbst der ehemalige Village Voice Autor Michael Musto, der seit den 90ern über Alig berichtete, merkte an, dass es Alig geradezu lieben würde, sich vor der Presse „selbst zum Opfer [zu stilisieren].”
An einem sonnig-heißen Samstag, dem 13. Juni, ging ich zu Glams Wohnung—drei bescheidene, unglaublich saubere Zimmer durchflutet von Sonnenlicht und bespickt mit bunter Pop-Art. Alig hüpfte strahlend ins Wohnzimmer. Er trug ein weißes T-Shirt, locker sitzende Jeans und knallrote Sneaker. Auch wenn seine Figur etwas breiter und seine Wangen etwas voller waren als auf den Fotos aus den 90ern, konnte man in seinem Gesicht noch immer Spuren des hübschen Jungen sehen, der er einst gewesen war—Augen blau wie tiefe, klare Brunnen, weiche Lippen und eine beinahe faltenfreie Haut. Es war schon verrückt, wenn man sich vor Augen hält, dass er 49 Jahre alt war.
Seit seiner Entlassung im letzten Jahr hatte Alig in Glams Gästezimmer gewohnt. Zusätzlich zu Peeew! hatte er die Zeit damit verbracht, an AligMart zu arbeiten—einem Online-Store, in dem er selbstgebrandetes Merchandise und Drucke seiner Gemälde verkauft. Mit der Malerei hatte er im Gefängnis angefangen.
„Ich wusste, dass er Probleme haben würde, ohne Job eine eigene Wohnung zu bekommen”, erzählte mir Glam, während wir drei am Küchentisch saßen. „Wir hatten schon einen schwierigen Start, weil [meinem Mann] Ordnung unglaublich wichtig ist und Michael quasi Chaos verkörpert”, erzählte mir Glam. Glam ist Alig allerdings auch immer ein loyaler Freund gewesen. Als Michael gerade seine Karriere als Partyveranstalter begonnen hatte, lernte er Glam auf den Klos eines Clubs namens Copacabana 1988 kennen. Bald darauf half Glam ihm schon bei den Veranstaltungen aus und arbeitete für 100 US-Dollar als Go-Go-Tänzer im Limelight. Von 1990 bis 1993 teilten sich die beiden sogar eine Wohnung in Chelsea. „Es ist alles genau wie damals, nur ohne die ganzen Drogen”, scherzte Glam über ihre neue-alte Wohnsituation.
Michael und Ernie
Peeew! war dann auch aus den witzigen Unterhaltungen entstanden, die Alig und Glam zuhause führten. Obwohl sie sich seit 2009 nicht mehr gesehen hatten—das letzte Mal, dass Glam Alig im Gefängnis besucht hatte—liebten sie es immer noch, wie etwas in die Jahre gekommene Drag-Queens durch die Gegend zu stolzieren, herbe Witze zu reißen und sich gegenseitig zu necken. „Wir hatten immer diese total abgefahrenen Unterhaltungen beim Frühstück und die Tränen liefen uns die Wangen runter, weil es einfach so lustig war”, erzählte Glam. „Wir entschieden uns deswegen, eine Show daraus zu machen—in erster Linie zu unserer eigenen Unterhaltung.”
Das Duo filmte dann den ganzen Nachmittag Szenen für die Show. Nach unserem Interview brachten sie mich für eine letzte Szene in Glams Schlafzimmer. Es sollte eine Parodie auf die wichtigste Nachricht der Woche sein: die Flucht der verurteilten Mörder David Sweat und Richard Matt aus der Clinton Correctional Facility in Dannemora, New York. In Hoodies und in schlecht imitierten italienischen Akzenten redeten Alig und Glam darüber, wie sie ihre Bilder im Fernsehen sehen—was auch sonst?
Diese bizarre Szene war allerdings nichts im Vergleich zu dem, was später am gleichen Tag noch passieren sollte, als Alig von Fox News Moderatorin Megyn Kelly interviewt wurde. Anscheinend hatte ihn sein dreijähriger Aufenthalt in der Clinton Correctional Facility—und seine lange Geschichte im Rampenlicht—zu einem „Celebrity-Experten” für das Leben im Knast gemacht. In der gleichen Woche, nur ein paar Tage früher, war er auch schon von CNN zum gleichen Thema interviewt worden. Zu dem Anlass hatte er sich ein knallrotes Shirt angezogen, auf dem die Worte „Call My Agent” zu lesen waren. Alig nutzte dabei wirklich jede einzelne seiner Antworten und Anmerkungen dafür, um die Aufmerksamkeit auf seine eigene Vergangenheit als Partyveranstalter zu verweisen. Als Kelly ihn zum Beispiel fragte, wie die Verurteilten es nur schaffen konnten, den Lärm ihrer Flucht zu vertuschen, verwies Alig darauf, dass im Gefängnis oftmals bis 6 Uhr morgens Musik laufen würde. „Es ist lauter als in einem Club!”
Michael in der ersten Klasse mit seinem älteren Bruder David | Foto mit freundlicher Genehmigung von Michael Alig
Bevor er allerdings zum Fox-News-Korrespondenten und Ex-König von New Yorks Clubszene wurde, war Alig ein Sonderling aus South Bend, Indiana, gewesen. Seine Mutter, Elke Blair, war eine deutsche Migrantin, die in die Vereinigten Staaten gezogen war, nachdem sie seinen Vater John, einen Computer-Programmierer, geheiratet hatte. Das Paar hatte sich kennengelernt, als John während des zweiten Weltkriegs in Deutschland stationiert war. Als Alig vier war, ließen sich seine Eltern scheiden und er blieb bei seiner Mutter. In einem Interview mit der New York Daily News beschrieb sie ihren Sohn 1997 als „sensibel—ein erstklassiger Schüler, der keinen Sport mochte” und sich gerne Sendungen wie I Love Lucy anschaute. Als Teenager, so berichtete sie weiter, arbeitete Alig nachmittags nach der Schule in einem Kleidungsgeschäft für Männer und war oft der erste, der die neusten Trends aufgriff—Lederkrawatten tragen oder Devo hören zum Beispiel.
Seine Rolle als kultureller Vorreiter grenzte Alig von den anderen Jugendlichen an der öffentlichen Penn High School ab—wie auch seine Homosexualität. „Es kam öfters vor, dass Michael mit einem blauen Auge, einer blutigen Nase oder einem zerrissenen Hemd nach Hause kam”, berichtete Blair den Daily News. „‚Ich bin in eine Rauferei geraten’ sagte er dann. Jetzt weiß ich, dass er sich damals dafür geschämt hat.”
1984 machte er dann als einer der Klassenbesten den Abschluss und bekam ein Stipendium für die Fordham University in New York. Er hatte allerdings seine Probleme, sich in dem konservativen Jesuiten-College einzufinden, das kaum die große Befreiung für ihn darstellte, die er sich in New York erhofft hatte. Wie so viele andere Jungs aus kleineren Ortschaften, die ihr Glück in der großen Stadt versuchen, war auch er schon bald überfordert. Noch im ersten Semester versuchte sich Alig nach einer Trennung mit einer Überdosis Antidepressiva umzubringen, die ihm noch von seinem Arzt in Indiana verschrieben worden waren. Er überlebte und outete sich ein paar Tage später, als er wieder bei Bewusstsein war, vor seiner Mutter am Telefon.
Sein miserables Los mit der Fordham University sollte aber auch Aligs Weg ins Nachtleben ebnen. Eines Nachts brachte ihn ein Kommilitone, der was mit Keith Haring am Laufen hatte, zu einer von Harings Partys im Area—einem kurzlebigen, sagenumworbenen Club mit immersiven Installationen, die alle sechs Wochen wechselten; dazu gehörte auch ein Becken, das aussah wie eine Schüssel Buchstabensuppe (das Thema war „Food”) und eine Skate-Rampe mitsamt Skatern mitten auf dem Dancefloor (für „Gnarly”).
„Alphabet Soup” | Installation von Künstler Mark Garbarino im Area | Foto: Darius Azari / Area: 1983-1987
„Ich war frisch aus Indiana hergezogen und es war wie eine Zauberwelt—die Luft war geradezu elektrisiert”, sagte Alig der Huffington Post über seine prägende erste Nacht im Area. „Ich konnte einfach fühlen, dass alles in der Welt diesem Ort entsprang. Und ich musste ein Teil davon werden.”
Alig setzte sich es daraufhin zum Ziel, in dieser neuen, glamourösen Welt Fuß zu fassen, und fing als Hilfskraft in der Danceteria an—ein Nachtclub und gleichzeitig auch produktivster Kreativinkubator seiner Zeit: Madonna arbeitete dort als Kellnerin, Sade als Bartender und LL Cool J als Fahrstuhlbegleitung. 1985 wechselte Alig von Fordham an das Fashion Institute of Technology, brach das Studium aber nach nur einem Jahr wieder ab. In der Zwischenzeit hatte er sich in der sozialen Hierarchie des Nachtlebens nach oben gearbeitet und überzeugte schließlich den Danceteria-Besitzer Rudolf Piper davon, dort seine eigenen Partys veranstalten zu dürfen.
Andy Warhol, der damals regierende König von New Yorks Schickeria, verkörperte alles, was Alig und seine Freunde anstrebten. „Wir würden alle Warhol Superstars werden und in die Factory einziehen”, so Alig 2010 in einem Interview. „Witzigerweise hatten alle die gleiche Idee: Man putzte sich selber nicht heraus, sondern machte sich über die Leute lustig, die sich herausputzen. Wir änderten unsere Namen so, dass sie so klangen wie ihre, und kleideten uns in total verrückten Outfits, die als Parodie auf diese Menschen gedacht waren—wir endeten dann nur bloß als das, worüber wir uns ursprünglich lustig machen wollten.”
Warhols Tod 1987 gab das Spielfeld dann für eine neue Generation von Stars des Nachtlebens frei und Alig veranstaltete Partys in der Danceteria, im Limelight, im Area, dem Palladium, Red Zone, Palace und im World. Um die Läden zu füllen, veranstaltete Alig „Outlaw-Partys” im Guerilla-Stil, bei denen Aligs kostümierte Freunde Alltagsorte wie Burger King, Dunkin’ Donuts, McDonald’s, Bankvorräume und Subway-Haltestellen in Beschlag nahmen, Musik aus einer Boombox dröhnen ließen und so lange tanzten, bis die Polizei kam. Praktischerweise sorgte Alig dabei immer dafür, dass sich ganz in der Nähe ein Club befand, in dem die Feier weitergehen konnte—manchmal dann auch in Kombination mit einer seiner anderen Marketing-Strategien: einer Open Bar. Im März 1988 hatte es Alig dann auf das Cover des New York Magazine geschafft, wo er und seine Gang von der Autorin Amy Virshup als die „Club Kids” vorgestellt wurden—eine Bezeichnung, die sie von Piper aufgeschnappt hatte.
Eine Einladung zu einer Disco 2000 Party im Limelight, April 1993 | Foto mit freundlicher Genehmigung von Michael Alig
Aligs Unternehmergeist hatte aber auch seine düstere, etwas abgründigere Seite. Disco 2000, seine legendäre Party im Limelight von 1990 bis 1996, war berüchtigt für subversive, extreme Performances, wie die mit einer Frau, die Sex mit dem Stumpf eines tanzenden Amputierten hatte oder dem Mann, der becherweise seine eigene Pisse trank. „Michaels Konzepten war auch immer dieses anarchistische Element zu eigen, das sie auch gleichzeitig so interessant machte”, schreib Ex-Club Kid Fenton Bailey im Blog seiner Produktionsfirma World of Wonder, die hinter Party Monster und RuPaul’s Drag Race steckt. „Michael selbst machte es sich irgendwann zur Gewohnheit, in Bierflaschen zu pinkeln und diese dann als Freigetränke rauszugeben—und er pisste bei Disco 2000 vom Balkon auf die Leute unter ihm.”
Genau wie Aligs Partys immer extremere Züge annahmen, geschah das auch mit seinem Drogenkonsum. Zu Beginn war er „eigentlich fast drogenfrei” sagte Limelight, Tunnel und Palladium Besitzer Peter Gatien gegenüber der Promi-News-Seite Uinterview. Ab 1992—fünf Jahre nachdem er das Cover des New York Magazine geziert hatte—machte Alig, wie er mir erzählte, regelmäßig mehrere Tage auf einem Cocktail aus Heroin, Ketamin, Rohypnol und Kokain durch. „Der Typ, der Junkies immer ausgelacht hatte, war selbst zu einem geworden”, schrieb Bailey in seinem Blogpost. „Der Partyveranstalters, der sich selber mal die Treppe runterstürzen würde, um für etwas Drama zu sorgen, war jetzt so im Arsch, dass die Treppe runterfallen wirklich alles war, was er noch konnte.”
Gegenüber dem Online-Magazin Interview sagte Alig, dass er mit der Zeit auf Drogen angewiesen war, um überhaupt mit seinem selbsterschaffenen Imperium mithalten zu können. „Der Druck war extrem geworden und wir brauchten die Drogen, weil wir ständig was zu tun hatten.” Er rechtfertigte seine Ausschweifungen auch als Teil seiner performativen Kritik der Celebrity-Kultur. „Komischerweise hatte ich wirklich diese Vorstellung, dass ich dieses Kunstprojekt damit zu seinem Extrem führen würde. Ich war die Art von Mensch, die sagt: ‚Schauen wir doch mal, wie weit wir das treiben können. Schauen wir mal, was passiert.”
Michael mit dem Modedesigner Tobell Von Cartier bei der Eröffnung des Club USA, 1992 | Foto mit freundlicher Genehmigung von Michael Alig
Alig versuchte allerdings die Grenzen des New Yorker Nachtlebens gerade zu einem Zeitpunkt auszureizen, als diesem von den Behörden der Krieg erklärt worden war. Oktober 1995 war das Limelight der erste Club, der auf richterliche Anordnung geschlossen wurde. Nach acht Wochen Ermittlungsarbeit war die Staatsanwalt zu dem Schluss gekommen, dass der Drogenkonsum dort komplett aus dem Ruder gelaufen wäre und Dealer „ungehemmt und offenkundig” ihre Ware verkaufen würden. (Das Limelight durfte ein paar Wochen später wieder öffnen.)
Die gegen das Nachtleben gerichtete Kampagne des Bürgermeister Giuliani war aber nicht nur eine rechtliche Angelegenheit, sondern auch eine kulturelle. Als Peter Gatien 1996 für den Verdacht auf das Betreiben eines Drogenrings in seinen Clubs Limelight und Tunnel verhaftet worden war—die von einem Staatsanwalt als „gewissermaßen Ecstasy Supermärkte” bezeichnet wurden—gab die New York Daily News an, dass „die Razzien darauf ausgelegt waren, den Ecstasy-geschwängerten Dance-Partys der Generation X, auch Raves genannt, einen Riegel vorzuschieben.”
Der Kampf zwischen beiden Lagern erreichte dann am 17. März 1996 einen traurigen Höhepunkt, als ein Club Kid namens Angel Melendez in Aligs Apartment in der 43. Straße West auftauchte, wo er manchmal die Wochenenden mit Alig und seinem Mitbewohner Robert „Freeze” Riggs abhing. Melendez bekam 200 US-Dollar die Nacht, um als Host bei Aligs Partys zu arbeiten, und verkaufte nebenbei auch Drogen. Das, was dann passieren sollte, war eine „dumme, aus dem Ruder gelaufene Zankerei” über Geld, das sie Melendez schuldeten, wie Alig es vor Kurzem gegenüber der New York Post formulierte.
Alig erzählte mir, dass er und Riggs auf einer Kombination aus Ketamin, Heroin, Rohypnol und Crystal Meth gewesen waren, als Melendez damit anfing, sie zu beißen. Freeze schlug Melendez daraufhin mit einem Hammergriff und Alig wickelte ein Sweatshirt um seine Hand und schlug damit Melendez ins Gesicht. „Vielleicht war es eine Kombination aus zu lange oder, dass ich am Ende doch mehr Kraft hatte, als ich eigentlich dachte, aber Angel hörte auf zu zappeln”, erklärte Alig der Post. „In der Annahme, dass er bewusstlos war, legten wir ihn auf die Couch. Erst Stunden später erkannten wir, dass er tot war.”
Sie ließen Melendez’ Körper in der Wohnung liegen, flohen vom Tatort, ohne die Tat zu melden, und feierten weiter, als ob nichts gewesen wäre. Später, im September 1997, sollte Riggs der Polizei erzählen, dass sie fünf oder sieben Tage später zur Wohnung zurückgekehrt waren, um „etwas wegen dieses schreckliche Durcheinanders zu unternehmen.” Da der Verwesungsprozess bei der Leiche bereits eingesetzt hatte, ging Freeze los, um ein Behältnis, scharfe Messer und Heroin zu kaufen. Alig konsumierte davon zehn Tütchen und zerstückelte Melendez’ Körper in der Badewanne. Dann, so berichtete die Times, taten die beiden die Überbleibsel in das Behältnis, nahmen sich ein Taxi zum West Side Highway und schmissen sie in den Hudson River.
Nach dem Verbrechen veranstalte Alig weiter Partys, während er seinen Freunden nebenbei erzählte, dass er und Freeze Melendez getötet hatten. Dem Guardian zufolge tauchte er sogar einmal im Limelight mit dem Wort „Guilty” [schuldig] auf die Stirn geschrieben auf. Die meisten Leute nahmen einfach an, dass er nur Spaß machen würde oder mal wieder Aufmerksamkeit einheimsen wollte. Laut Alig sei Gatien aber total ausgerastet, nachdem er ihm Wochen nach dem Mord von den Geschehnissen erzählte. Er sagte: „ Du hast gerade die Jobs von tausend Menschen aufs Spiel gesetzt. Die werden uns die Clubs dichtmachen.” Im April händigte ihm Gatiens Frau eine Abfindungszahlung aus. „Die dachten, dass ich in das Verbrechen involviert sei, und wollten nicht mit mir in Verbindung gebracht werden”, so Alig.
Als Michael Musto in seiner Kolumne für die Village Voice über Aligs und Gatiens Zerwürfnis schrieb, wies er auch daraufhin, dass Melendez’ Verschwinden langsam für einige offene Fragen in der Clubszene sorgte. Angels Bruder hatte verzweifelt die Clubs der ganzen Stadt nach ihm abgesucht und eine Belohnung für jeglichen Hinweis auf seinen Verbleib ausgelegt an. Im Juni zierte das Rätsel dann unter der Überschrift „Mord in Clubland?” die Titelseite der Voice.
Weder die Öffentlichkeit noch Alig wussten zu dem Zeitpunkt, dass Melendez’ Torso im April in den Gewässern vor Staten Island angespült worden war. Erst im November konnte er jedoch von einem Gerichtsmediziner identifiziert werden. Alig erzählte mir, dass er am 4. Dezember in einem Motel in New Jersey verhaftet wurde, wo er regelmäßig die Wochenenden mit seinem Heroin-Dealer / Freund verbrachte. Sie vertrieben sich dort regelmäßig ihre Zeit damit, auf Drogen Sendungen wie America’s Funniest Home Videos zu schauen. Er und Riggs bekannten sich dann im Oktober 1997 des Totschlags schuldig. Alig saß 17 Jahre im Gefängnis. Riggs wurde vier Jahre früher 2010 wegen guter Führung entlassen.
Meine nächste Begegnung mit Alig war an einem schwülen Spätsommerabend im August. In den zwei Monaten seit unserer ersten Begegnung war eine neue Dokumentation von Regisseur Ramon Fernandez mit dem Namen Glory Daze: the Life and Times of Michael Alig erschienen. Am 25. Juni hatte Alig außerdem zwei Eröffnungen von Einzelausstellungen in den Galerien Castle Fitzjohns und LESpace an der Lower East Side. Beide Ausstellungen zeigten Bilder, die er im Gefängnis gemalt hatte, wobei ein Teil der Einnahmen von der LESpace-Ausstellung an die Wohltätigkeitsorganisation ATOC ging, die Kunsttherapie für Trauma-Opfer anbietet.
Als ich eine Bar in Williamsburg betrat, entdeckte ich Alig, wie er in Begleitung eines muskulösem und gepflegtem Freund Nachos und eine Soda herunterschlang. „Das ist Patrick”, sagte er mit einem Zwinkern. „Er will nicht, dass jemand weiß, dass wir zusammen sind.”
„Ich bin halt nicht so”, klärte mich Patrick schnell auf und lächelte zu einem gespielten Seufzer.
Zu Aligs Füßen türmte sich ein chaotischer Haufen aus eingerollten Bildern, einem Laptop und anderem Krimskrams. Als ich ihn fragte, was er damit vorhaben würde, erzählte er mir, dass er in Patricks geräumige Strandwohnung bei Coney Island einziehen würde. Peeew! sollte ebenfalls Glams Wohnung verlassen. Ab dem 22. August begannen sie damit, die Folgen vor Publikum im Lovegun, einem Schwulenclub in Williamsburg, zu filmen. Es sah wirklich so aus, als würde sich Aligs Leben immer mehr zum Guten wenden.
Nach unserer Begrüßung ging Patrick nach Hause und Alig und ich schlenderten auf der Suche nach etwas Eiscreme über die Bedford Avenue. Kurz nach 21 Uhr fiel ihm plötzlich ein, dass er für seinen nächtlichen Check-In mit seinem Bewährungshelfer spät dran war, entschied sich aber dafür, den Anruf noch etwas aufzuschieben.
„Ich kann nicht aufhören, Kunst zu machen oder über diese verrückten Projekte nachzudenken.“
Nachdem wir unser Eis gegessen hatten, trennten sich unsere Wege wieder. Als wir kurz vor unserer Verabschiedung noch im Menschengewimmel an den Toren zur Subway lehnten, fragte ich ihn, ob er irgendwelchen Gegenwind wegen seiner Pläne, wieder im Nachtleben einzusteigen, gespürt habe oder ob er seine Entscheidung überdenken würde, wenn er wüsste, dass es die Melendez Familie stören würde. Alig meinte, dass er wegen der Abmachung vor Gericht mit keinen Angehörigen von Melendez gesprochen hätte, aber dass es, wenn er wüsste, dass sie sie sich daran stören würden, „meine Entscheidungen beeinflussen würde.”
Er wusste aber auch nicht wirklich, was er sonst mit seinem Leben machen sollte. „Ich kann nicht aufhören, Kunst zu machen oder über diese verrückten Projekte nachzudenken”, erklärte er mir.
„Jeder in diesem Land kann tun und lassen, was er will”, sagte Alig und schob dabei entschlossen seinen Unterkiefer vor. „Ich habe das gelernt, weil ich es einfach musste. Ich zog nach New York und kannte niemanden hier—ich musste die Dinge selber in Bewegung setzten. Das gleiche gilt für diese Show. Ich habe diese Sturheit in mir, die einfach weitermacht, bis es klickt.” Er warf mir einen letzten ernsten Blick ohne all das extravagante Getue zu und verschwand dann in der Subway-Station. Es war schon fast Mitternacht und ich merkte, dass er seinen Bewährungshelfer immer noch nicht angerufen hatte.
Ein paar Tage später sollte ihn seine Vergangenheit schließlich einholen und es war wirklich nicht schön mit anzusehen. Alles begann mit dem Facebook-Post einer 26 Jahre alten Veranstalterin und Journalistin namens Dream (davor bekannt als Mark Dommu). Dream veranstaltete einmal im Monat zusammen mit einem anderen Promoter, Paul Leopold, unter dem Namen The Culture Whore eine Party namens Boop! im Lovegun. Als sie herausfanden, dass die Aufzeichnungen von Peeew! Samstags und damit am gleichen Abend wie Boop! stattfinden würden, entschieden sie, ihre Veranstaltung in einen anderen Club zu verlegen.
Ihre Entscheidung erklärte Dream dann in dem Post vom 14. August: „Michael Alig hat jemanden ERMORDET und wir sollten ihn nicht unterstützen, vor allem in einem Nachtleben/Unterhaltungs-Kontext.” Sie fuhr fort: „Wenn du eine Art Raum für die Community bauen willst, dann lass keine mordenden Clowns auf Bewährung deine Bar benutzen.” Die Kommentare unter Dreams Post waren gespalten. Einige argumentierten, dass Alig seine rechtliche Schuld an der Gesellschaft beglichen habe und ihm erlaubt sein sollte, mit seinem Leben fortzufahren. Eine von Aligs schärfsten Kritikerinnerinnen war allerdings Charlene, eine 26 Jahre alte Drag-Performerin, die Mitglied des Queer-Kollektivs House of Bushwig ist. Per E-Mail wiederholte sie ihre Kritik an Alig. „Ich spreche für die überwältigende Mehrheit, wenn ich sage, dass Alig im queeren Nachtleben in Brooklyn unter keinen Umständen willkommen ist. Was auch immer Alig für das Nachtleben hier getan hat, ist mit dem Mann gestorben, den er ermordet hat.”
An dem gleichen Wochenende schickte der Lovegun-Manager Pez Epstein dann eine SMS an Alig, um ihm mitzuteilen, dass sich die Eigentümer dazu entschieden hätten, seine Veranstaltung abzusagen. Alig schickte daraufhin eine E-Mail mit den Neuigkeiten an Page Six Journalist Richard Johnson, der dann den brodelnden Skandal mit der reißerischen Überschrift „Das neuste Projekt des Club Kid Killers wird boykottiert” am 17. August zum Gesprächsthema im New Yorker Nachtleben machte.
Dream fühlte sich von Page Six komplett missverstanden. „Die ganze Story wurde verdreht”, sagte sie mir am Telefon und bezog sich damit auf Johnsons Entscheidung, sie vor allem als Nightlife Editor des Next Magazins anzuführen. „Das klingt so, als hätte ich meine Position bei Next dazu missbraucht, sie dazu zu bringen, die Party abzusagen.” Dream berichtete auch, dass Alig ihrem Chef bei Next eine E-Mail geschrieben hatte, in der er sie des journalistischen Fehlverhaltens beschuldigte, aber „das alles war eine geschäftliche, künstlerische und moralische Entscheidung, die nichts mit meiner eigenen Arbeit zu tun hatte. Wir konnten und wollten einfach keine Veranstaltung an dem gleichen Ort wie ein Mörder durchführen.” Sie fügte außerdem hinzu, dass sie nie zu einem Boykott aufgerufen habe, und beschuldigte Alig, dass er „immer versucht, die Dinge so zu drehen, dass er das Opfer ist.” „Das hat geradezu etwas Wahnhaftes bei ihm”, fügte sie hinzu.
(Seit August 2015 arbeitet Dream nicht mehr bei Next.)
Michael beim queeren Musikfestival Bushwig mit den Partykids von heute | Foto von Sam Evans-Butler
Trotz Aligs Beteuerungen, dass er heute ein anderer Mensch sei, ist nicht ganz klar, ob ihn das New Yorker Nachtleben wieder in seinen eigenen Reihen akzeptiert. Letztendlich sei es das Erbe ihrer Community, so Dream, das für die heutige Generation von Club Kids auf dem Spiel stehen würde. Viele von ihnen haben sich zugunsten der queeren Ideale der Community-Bildung und der Selbstermächtigung von den Ausschweifungen und dem Zynismus der 90er verabschiedet. „Alig hat den Weg für das geebnet, was heute passiert, aber ich finde auch, dass wir dadurch Rückschritte machen”, sagte Dream. „Das Nachtleben hier hat lange gebraucht, um sich von seinen Eskapaden zu erholen. Wenn ich den Begriff ‚Club Kid’ höre, zucke ich innerlich immer etwas zusammen, weil es dabei immer nur um inhaltsleeren Exzess zu gehen scheint. Es macht mir Angst, dass diese Energie wieder in das Nachtleben zurückfindet.”
Dreams Partner Leopold stellte wiederum Aligs Motive in Frage, als er mich auf dem Weg zur Schwulenhochburg Fire Island von einer Fähre aus anrief. „Wenn er wirklich etwas verändern will, warum arbeitet er dann nicht mit Menschen, die mit Drogenproblemen zu kämpfen haben? Es hat nicht den Anschein, als ob er sich überhaupt weiterentwickeln würde—man hat eher das Gefühl, als würde er versuchen aus seinem Ruf Kapital zu schlagen, den er sich mit seinem Mord gemacht hat.”
Der Manager des Loveguns, Epstein, sagt andersherum jedoch, dass Dream überreagieren würde: „Jeder verdient eine zweite Chance. Außerdem ist das Lovegun eine Bar—keine Kirche.” Alig für seinen Teil zeigte sich von dem Gegenwind wenig beeindruckt und war fest dazu entschlossen, die Show weitergehen zu lassen. „Ein Scheitern ist keine Option”, sagte er mir voller Überzeugung. „Nach der ganzen Geschichte müssen wir es unbedingt richtig machen.”
Am 28. August bekam ich eine SMS von Alig, in der er mich fragte, ob ich schon den neuen Flyer für Boop! gesehen hätte, die jetzt in eine Bar ganz in meiner Nähe umgezogen war. Ich antwortete ihm, dass mir aufgefallen sei, dass Party Monster Hauptdarsteller MaCaulay Culkin darauf abgebildet sei. „Das ist schon komisch, oder?”, sagte Alig recht vergnügt. „Als wäre [Dream] geradezu von mir besessen oder so!”
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Ein paar Wochen später nahm das Lovegun seine Entscheidung zurück und ließ die Party wieder in seinen Räumlichkeiten stattfinden. Am 10. Oktober, kurz nach Sonnenuntergang machte ich mich auf zum Club in Williamsburg, um mir die zweite Aufzeichnung der Peeew! Live-Show anzugucken. Zwei riesengroße Drag-Queens strichen am Einlass meinen Namen von der Liste. Drinnen war das Publikum etwas erwachsener als zu Aligs Hochzeiten im Limelight, aber nichtsdestotrotz war das hier immer noch die wildeste Veranstaltung weit und breit, die noch vor dem Abendessen über die Bühne ging. Es waren nicht viel mehr als ein paar Dutzend Menschen hier, die sich um die Bar drängten. Das Publikum bestand größtenteils aus Gruppen von schwulen Männern, Mitte 30, in dunklen Wintermänteln, die hier und da von ein paar farbenfroheren Gestalten aufgelockert wurden. Letztere waren wahrscheinlich von Alig persönlich engagiert worden. Irgendwann entledigte sich ein graziler Tänzer seines Leder-Tangas und ließ seine Hüften zu Benny Benassis „Satisfaction” kreisen, während er ein Kruzifix in seinem Schambereich hielt—sein Schwanz dabei perfekt zwischen den Beinen eingeklemmt.
Alig und Glam saßen in stilvollen Blazern gekleidet umgeben von Kameras auf einer kleinen Bühne und forderten die Aufmerksamkeit des Raums mit einer leicht versauten Abwandlung von „Pin dem Esel den Schwanz an” ein. „Pin Justin Biebers Schwanz an RuPauls Körper”, nannten sie ihr Spiel.
An der Bar kam ich mit einem recht konservativ gekleideten Paar ins Gespräch. Nick und Marissa waren in ihren 40ern, hatten früher Aligs Partys besucht und leben jetzt mit ihrem Kind in Westchester. Sie hatten über Aligs DJ Instagram von der Veranstaltung heute Abend erfahren. Als ich sie nach ihrer Meinung zu Michaels Vergangenheit befragte, schaute Nick kurz seine Frau an und sagte dann: „Viele von uns haben als Teenager Scheiße gebaut. Sollte man dafür noch immer bestraft werden?” Ähnlich beantwortete auch die blonde, recht füllige Moderatorin des Abends, warum sie mit Alig zusammenarbeiten würde. Ihre blonde Mähne zurückwerfend sagte sie: „Ich bin kein voreingenommener Mensch. Und ich liebe Menschen, die ihr Leben in ein Kunstwerk verwandeln.”
Alig genoss sichtlich die Aufmerksamkeit, keine Frage. Ich vermutete aber noch einen weiteren Grund, warum er sich so viel Mühe mit seinen Partys und seinen Bildern gab: Er glaubt nämlich, dass Kunst sein Ticket zur Rehabilitation ist. Ihm dabei zuzusehen, wie er zwischen seinen Bewunderern hin und her flitzte und sich sein Gesicht jedes Mal sichtlich erhellte, wann immer ein Freund oder Fan seinen Namen schrie—„Michael! Michael! Lass uns ein Foto machen!”—erinnerte ich mich an ein Alig-Zitat, das ich in einem Artikel gelesen hatte, den einer seiner Gefängnisfreunde über ihn für Deadspin geschrieben hatte.
„Kunst balanciert moralisches Verhalten aus, oder nicht?”, sagte Alig seinem Freund in dem Artikel. „Unsere Kultur hat Woody Allen und Roman Polanski die Anschuldigungen gegen sie vergeben. Ezra Pound wurde wegen seiner brillanten Gedichte sogar quasi Landesverrat vergeben. Du sagst doch, dass du es geschafft hast, über das, was zwischen uns passiert ist, hinwegzusehen, weil du mich für talentiert hältst. Ich hoffe, dass die Welt das Gleiche tun kann.”
An einem Freitagnachmittag im November fuhr ich mit der Linie F bis zur Endhaltestelle, Coney Island, und lief zu einem bewachten Wohngebiert, in dem Michael seit August mit Patrick lebte. Das teuer aussehende Apartment, das ich schon auf Bildern gesehen hatte, war ein zweigeschossiges Doppelhaus, das so nah am Strand stand, dass man das Rauschen des Meeres von der Haustür aus hören konnte.
Alig machte mir auf. Er war mitten in einem Telefonat mit einem unbekannten Freund. Über Lautsprecher diskutierten sie, wer auf der Gästeliste kommt und mit welchen Promotern für die nächste Peeew!-Veranstaltung am kommenden Wochenende zusammengearbeitet werden sollte—„Der bringt keine Leute rein! Der hat nichts für meine Webseite getan!” Selbst nachdem er mir ein Glas Limonade angeboten und mit einem Glas aus der Küche zurückgekehrt war, lief er weiter durch das Haus und unterhielt sich lauthals am Telefon. Ich nutzte die Gelegenheit, um das Wohnzimmer etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, von dem man auf eine von Schirmen gesäumte Terrasse mit einem Grill hinausblickte. Dahinter erstreckten sich die funkelnden Gewässer, in die Melendez’ Körper einst verschwunden war.
„Man kann sich für so etwas nicht entschuldigen. Es würde sich wie eine Beleidigung anhören. Das ist nichts, was ich in Worten fassen könnte.“
Als Alig dann endlich sein Telefonat beendet hatte, setzte er sich gegenüber von mir an den Küchentisch und erklärte, dass er Patrick überreden konnte, ihn hier umsonst wohnen zu lassen—und obendrein noch in seine bald erscheinende Modelinie zu investieren. „Seit ich nach New York gezogen bin, habe ich immer Menschen gefunden, die sich um mich kümmern. Und das mussten immer so Vaterfiguren sein. Rudolf [Piper, der Danceteria-Inhaber] war der erste, dann Frank Roccio vom World, dann Maurice Brahms vom Red Zone und dem [Ice] Palace, dann Peter Gatien und jetzt Patrick.” Seine Stimme verwandelt sich fast in ein Flüstern, als er mir einen Freudschen Versprecher gesteht: „Ich nenne Patrick manchmal Peter.”
Als hätte er gemerkt, dass ich mich innerlich fragte, was Patrick eigentlich von der ganzen Geschichte hat, fuhr Alig fort: „Es ist keine manipulative Beziehung. Ihm gefällt es, durch mich zu leben, und ich halte das Haus sehr sauber. Jeden Morgen knie ich hier und schrubbe den Boden.” Er pausiert und ergänzt: „Es kostet ihn nichts, mich hier wohnen zu lassen. Er bekommt ja quasi eine Modelinie dafür, dass er mich mit Nahrung versorgt. Das ist ein guter Deal!”
Michael mit einem Freund
Unsere Unterhaltung drehte sich schon bald um das Nachtleben—wie immer eigentlich. Drei Tage zuvor war die 17. Ausgabe der Glammy Awards über die Bühne gegangen—eine Institution des schwulen Nachtlebens in New York—und ich fragte Alig, ob er davon was mitbekommen habe. Just in der Sekunde, als die Worte meinen Mund verließen, warf er mir einen vernichtenden Blick zu, schoss aus seinem Stuhl hervor und rannte die Treppen in den ersten Stock hoch. Durch die Decke konnte ich hören, wie Sachen durch die Gegend flogen und er aufgebrachte Selbstgespräche führte: „Die fragt mich, ob ich von den Glammys gehört habe? Unglaublich!“.
Als ich in den nächsten paar Minuten so da sitze, die Schatten immer länger werden und ich der orangenen Sonne dabei zuschaue, wie sie hinter der Verrazano Brücke untergeht, wird mir plötzlich klar, wie abgeschieden wir hier eigentlich sind. Ein subtiles Angstgefühl macht sich in mir breit. Bis gerade hatte ich alle Warnungen, in Aligs Gegenwart bloß auf meine eigene Sicherheit zu achten, abgetan und einfach meinem Bauchgefühl vertraut, dass er schon keine Gefahr mehr darstellen würde—zumindest, was sein Gewaltpotential angeht. Hatte ich mich verschätzt?
Als Alig dann finster dreinblickend zurückkehrte, warf er verächtlich ein gefaltetes Stück Papier in meine Richtung. „Ich habe die Glammies erfunden”, schnaubte Alig und ich merkte plötzlich, dass ich ein Programm für eine Preisverleihung in den Händen hielt, die am 2. September 1992 stattfinden sollte. In goldener Kursivschrift stand dort geschrieben: „Michael Alig & Kelly Cole present—The Glammies—The Club Academy Awards.”
VICE: Das Ende der Disco-Ära in New York
Als ich das Blatt dann auseinanderfaltete, überflog ich die Kategorienliste—„Best Party”, „Best DJ”, „Platinum Ho Award (Biggest Slut)”—und entdeckte Nominierte, die später Teil der Club-Elite werden sollten: DJ Junior Vasquez, Szene-Queen Suzanne Bartsch und Fotograf Patrick McMullan. Als ich später Recherchen zu den Glammys anstellte, fand ich mehrere Artikel, die lediglich Cherry Jubilee als Gründerin der neueren Version der Award-Show erwähnten, und weder in ihren Interview-Antworten, noch auf der Glammy-Webseite gibt es eine Erwähnung von Aligs Version. Die schlimmste Demütigung bestand aber vielleicht darin, dass sie ihn dieses Jahr noch nicht mal eingeladen hatten.
Auf einer gewissen Ebene ist Aligs Frustration auch durchaus gerechtfertigt. Die komplette Auslöschung seines Erbes—ob jetzt absichtlich oder unabsichtlich—schien Teil der launischen Natur des Clubgeschäfts zu sein, wo alte Konzepte regelmäßig wieder aufgewärmt werden und die Unterscheidung zwischen unverhohlener Aneignung, Hommage und bloßem Zufall oftmals schwerfällt.
Alig war aber selber nicht immun dagegen, sich ältere Ideen anzueignen. Für eine Disco 2000 Party schickte er Einladungen auf Papierzetteln raus, die sich in Röhrchen mit einer urinfarbenen Flüssigkeit befanden—ein Gimmick, der einen unweigerlich an die Einladungen zur Eröffnung des Area denken lässt: Papierzettel, die in Pillen versteckt waren, die man in Wasser auflösen musste. Andersherum ist heutzutage bei vielen Partys noch das Echo von Aligs legendären Aktionen vernehmbar. Als Modedesigner Telfar seine NYFW Afterparty im September in einem White Castle veranstaltete oder das New Yorker Musiklabel UNO für seine Weihnachtsfeier ein kleines Fried Chicken Lokal in Beschlag nahm, konnte man eigentlich gar nicht anders, als an die Club Kids zu denken, die im McDonald’s am Times Square auf einer von Aligs Outlaw Partys tanzten.
Meine Zeit mit Alig neigte sich dem Ende zu, also schlug ich vor, einen Spaziergang beim Wasser zu machen. Ich hoffte, dass mir der Szenenwechsel den nächsten Schritt erleichtern würde, der nun zwangsläufig folgen musste: Die freundschaftliche Kameraderie zwischen uns brechen, die wir über die letzten Sieben Monate hinweg aufgebaut hatten, und damit anfangen, unangenehme Fragen über den Mord und seine Zeit im Knast zu stellen. Wir zogen unsere Jacken an und traten raus auf den Sand. Die salzige Meeresluft peitschte gegen unsere tief geneigten Köpfe. Aber meine Verhörpläne wurden abrupt zunichte gemacht, als Alig sein Handy aus der Tasche zog und anfing, einen Stream über Periscope zu starten. Er hielt die Kamera auf sein Gesicht gerichtet, als er seinen Zuschauern mitteilte, dass er gerade einen Strandspaziergang mit einer VICE-Journalistin machen würde. Nach ein paar Minuten stoppte er die Übertragung aber wieder. Er sah niedergeschlagen aus. „Schau, die Retention Rate ist schlecht.” Er zeigte mir sein Handy. „Das heißt, dass die Leute aufgehört haben, zuzuschauen.”
Wieder zurück in Patricks Haus nahm mich Alig mit nach oben in sein Zimmer, bei dem es sich um eine kleine Dachkammer handelte, die sich nur über eine Leiter erreichen ließ. Zum Wohnzimmer hin war der Raum jedoch offen, was nicht gerade viel Privatsphäre ließ. Die eine Seite des Raums hatte er in ein Mini-Atelier verwandelt, wo seine Pop-Art Gemälde an der Wand lehnten. Auf der anderen Seite diente eine schwarze Couch als provisorisches Bett. Wir setzten uns hin. Wohlwissend, dass nun die Zeit für die ernste Unterhaltung gekommen war, breitete Alig ein paar Decken über uns aus und holte hinter einem Kissen einen Teddybär hervor. Er griff in eine Plastiktüte voller Schachteln Cry Baby Tears und riss eine auf. Als er sich so die Süßigkeiten in den Mund warf und den Teddybär liebevoll in seinem Arm hielt, sah Alig aus wie ein Fünfjähriger und nicht wie der beinahe fünfzig Jahre alte Mann, der er ist.
„Ich möchte dir ein paar Fragen zu dem Mord stellen”, sagte ich vorsichtig. Er zuckte leicht zusammen und schaute mich mit weit geöffneten Augen an. „Es stört mich, wenn die Leute es einen Mord nennen, denn das war es nicht—es war Totschlag”, beteuerte er. „Es war nicht vorsätzlich geplant. Wir sind nicht aufgewacht und haben uns gesagt: ‚Lass uns heute Abend Angel umbringen.’ Das macht für mich einen riesen Unterschied.”
„Und der wäre?”
„Der Unterschied besteht darin, dass die eine Sache entschuldbar ist und die andere nicht.” Stille. Leise Geräusche drangen aus dem Wohnzimmer zu uns nach oben. Patrick schaute fern.
„Du willst nicht, dass dich die Leute für einen schlechten Menschen halten”, sagte ich.
„Das bin ich auch nicht, Michelle, das bin ich wirklich nicht!” Seine Stimme hatte etwas Flehendes bekommen. Ich war überrascht, zu sehen, wie sich in seinen Augen Tränen bildeten. Die eigentliche Mission der Club Kids, so erinnerte er mich, sei es gewesen, Außenseitern dabei zu helfen, ihr wirkliches Wesen zu voller Blüte zu entfalten. „Das ist es, was ich gerne mache”, sagte er. „Ein schlechter Mensch will so etwas doch nicht.”
Alig schien fest dazu entschlossen, mich davon zu überzeugen, dass er durchaus ein moralischer Mensch sei. „Ich habe mich um die Leute gekümmert, die für mich gearbeitet haben”, sagte er. „Wenn ein Club jemanden nicht bezahlt hat, dann habe ich die Person persönlich bezahlt.” Und weiter: „Das ist alles schon ziemlich komisch, weil genau aus der Sache auch der Streit entstanden ist. Angel kam vorbei, um sein Geld abzuholen. Er hatte 1200 US-Dollar oder so angehäuft”, sagte er und verwies damit auf den Lohn, den er Melendez für seine Host-Tätigkeiten bei Aligs Partys schuldete.
Laut Alig bekam das Management des Limelight etwa in dem Zeitraum um den Mord an Melendez herum von einem Insider gesteckt, dass die Behörden eine Razzia in dem Club planten und eine Reihe Leute verhaften wollten, die sie als Dealer verdächtigten. Damit wollte man auch an mehr Informationen zu Peter Gatien, den Besitzer, gelangen, gegen den wegen Steuerhinterziehung ermittelt wurde (Gatien wurde 1999 verurteilt und in sein Heimatland Kanada deportiert, wo er heute mit seiner Familie lebt.)
Alig sagte, dass Melendez auch zu dem verdächtigten Personenkreis gehörte. Er tauchte um 2 Uhr morgens beim Club auf, wo er nach seinem Lohn verlangte. Die Türsteher ließen ihn aber auf Aligs Anweisungen hin nicht rein—etwa sechs Stunden später tauchte Melendez dann vor Aligs Appartement auf. Er fühlte sich gedemütigt und wollte, dass wir alle Hebel in Bewegung setzen, damit er sich wieder gut fühlt”, so Alig.
Dann beugte sich Michael konspirativ zu mir rüber und fragte: „Hast du schon mal Ketamin genommen?” Ich sagte: „Ja.” „Gottseidank! Es ist nämlich so schwer, das den ganzen Interviewern zu erklären, die noch nie welches genommen habe”, erklärte er mir. Durch das ganze Ketamin, das er zusammen mit den anderen Drogen in dieser Nacht genommen hatte, hatte er das Gefühl, in dem Film zu leben, den er sich währenddessen anschaute—Fassbinders abgründiges Beziehungsdrama Die bitteren Tränen der Petra Kant. Er beschrieb den Vorfall wie einen Traum: „Ich kann mich nur noch an diese eine große Masse erinnern. Wir alle fallen zusammen in Glas, überall Blut—so sah das für mich aus. Freeze hat ihn mit dem Griff des Hammers geschlagen, aber auch nicht stark genug, um seine Haut zu verletzen.”
Alig erzählte weiter, dass sie Melendez in der festen Überzeugung, dass er am nächsten Morgen wieder aufwachen würde, auf der Couch liegen ließen. Am Morgen merkten sie dann, dass er nicht atmete. „Von da an fühlte sich alles an wie in einem Film”, sagte er und bemühte damit wieder die gleiche Metapher wie davor. „Es fühlte sich einfach so irreal an.”
„Vielleicht war der Mord ja wirklich ein Unfall”, sagte ich in Bezug auf seine Andeutungen, dass das ganze Drama in einem drogeninduzierten Durcheinander geschehen war. „Ich glaube aber, dass viele Menschen viel abstoßender finden, was ihr danach gemacht habt: Melendez einfach in der Wohnung verwesen zu lassen, während ihr die Woche durchfeiert; zurück nach Hause zu kommen, sich wieder mit Drogen vollzupumpen, seinen Körper kleinzuhacken und dann damit vor euren Freunden angebt.”
„In ein paar Versionen der Geschichte, die ich im Internet gelesen habe”, ergänzte ich noch, „sollst du Melendez Rohrreiniger gespritzt haben. Solche Sachen lassen dich wie ein Monster aussehen.”
„Wir haben ihm keinen Rohrreiniger gespritzt”, protestierte Alig. „Wir haben auf seinen Körper Eis, Rohrreiniger, Backpulver und wahrscheinlich auch andere Sachen gegeben. Wir wollten damit den Geruch übertünchen. Wir wussten ja nicht, was wir machen sollen—wir haben nicht weiter als zwei Minuten im Voraus gedacht.” Dann, erzählte mir Alig, klauten er und Riggs die Drogen aus Melendez’ Rucksack und eine selten genannte vierte Person, die ebenfalls am Tatort anwesend war, Daniel Auster—Sohn des berühmten Schriftstellers Paul Auster—klaute Melendez’ Geld—insgesamt 3.000 US-Dollar. (Am 21. Januar 1998 bekannte sich Auster des Besitzes gestohlenen Eigentums schuldig und bekam dafür fünf Jahre auf Bewährung.)
„In Einzelhaft durch den Entzug zu gehen, war unvorstellbar. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich totale Hoffnungslosigkeit erfuhr—und es gab mir noch mehr Gründe, Drogen zu nehmen.“
Aus der Wohnung abzuhauen und weiter Drogen zu nehmen, sei einfach klassisches Junkie-Verhalten gewesen, erklärte Alig: Sie wollten einfach weiter drauf sein und sich nicht mit der Realität auseinandersetzen. Dass er seinen Freunden davon erzählte, hätte auch nichts mit Angeberei zu tun gehabt. „Das war eine Art Entlastung”, erklärte er. „Alle, denen ich davon erzählte, wurden Teil meiner Verschwörung. Das nahm mir etwas von meiner eigenen Schuld.”
In einer weiteren bemüht ethischen Rechtfertigung für sein Verhalten erklärte Alig, dass er und Riggs sich letztendlich dazu entschieden hatten, die Leiche verschwinden zu lassen, nicht nur um ihre eigene Haut zu retten, sondern auch um die Jobs der ganzen Menschen nicht zu gefährden, die im Club Kid Imperium arbeiteten.
„Als ich dort einstieg, sagte Peter [Gatien]: ‚Keine Drogendealer, keine Selbstmorde, keine Überdosen.’ Er sagte, dass 800 bis 1000 Menschen ihren Job los währen, wenn irgendwelche Probleme auftreten würden. Jetzt hatte ich gerade das Leben einer Familie zerstört und war kurz davor 800 weitere zu zerstören. Ich dachte mir nur: ‚Das muss ein Ende haben. Ich darf es nicht noch schlimmer machen.’”
„In dieser Nacht wollte ich wirklich sterben”, fuhr Alig fort, als er über die Nacht spricht, in der die Leiche zerstückelte. „Wir leerten Tütchen über Tütchen Heroin, bis uns einfach alles egal war. Ich sagte dann irgendwann: ‚Entweder stirbt einer von uns oder wir müssen das jetzt machen.’”
„Ich kann mir nicht vorstellen, drauf genug zu sein, um eine Leiche zu zerstückeln”, entgegnete ich.
„Wenn du mich am Tag vor der ganzen Geschichte interviewt hättest, hätte ich dir das gleiche gesagt”, antwortete er. „Wenn du dann in dieser Situation bist und so viel auf dem Spiel steht, dann ist das so wirklich wie im dritten Stock eines brennenden Gebäudes zu stehen—springst du oder springst du nicht? Du kannst einfach nicht anders, sonst stirbst du. Es ging um mein eigenes Überleben und um das der Leute im Club.”
„Ich war auch nicht der erste Veranstalter mit einer Leiche in seiner Wohnung”, fuhr er fort. „Es war nur so eine große Sache bei mir, weil ich einen Club leitete und uns die DEA auf den Fersen war. Es war einfach ausgeschlossen, dass das nicht an die große Glocke gehängt werden würde.”
Das Problem, sagte Alig, sei, dass die Menschen nicht zwischen ihm und dem satirischen Charakter unterscheiden könnten, den er kreiert hatte: „Wenn du diese Persona mit dem Verbrechen verbindest, wird daraus schnell eine unglaublich hässliche Sache.” Seine Drogenabhängigkeit, so argumentierte er weiter, hätte dieses Image-Problem nur weiter verstärkt. „Ich verfügte über alle Symptome eines Soziopathen, aber die Symptome, die man mit einem Soziopath assoziiert, sind fast identisch mit denen eines Drogensüchtigen”, argumentierte Alig.
Aber warum sollte irgendjemand denken, dass die Drogen an der Sache schuld seien und nicht einfach eine bequeme Ausrede darstellen? „Ich hasse es, Drogen als Ausrede zu benutzen”, antwortete er, auch wenn er gerade genau das zu tun schien. „Aber es ist einfach so—ich habe Drogen genommen, um nichts mehr zu spüren. Ich war sehnsüchtig nach Liebe. Heroin hat diese Gefühl ersetzt.”
Als er im Gefängnis landete, betäubte sich Alig laut eigener Aussage weiter mit Drogen wie Heroin und Percocet (ein stark wirkendes Opioid), das er von inhaftierten Mitgliedern der Bloods-Gang bekam. Sie versorgten ihn, weil sie die Clubs, in denen er Partys organisiert hatte, mit Ecstasy beliefert hatten.
„Ich konnte mein eigenes Spiegelbild nicht mehr ertragen und rasierte mich nicht”, sagte Alig während sein Blick nach draußen in den schwarzen Himmel abdriftete. „Ich wusste, dass ich unbedingt den Schmerz meiner Tat am eigenen Leib erfahren musste, damit ich dafür zumindest etwas bezahlte—auch wenn sich das durch nichts wieder gut machen lässt. Für so etwas kann man sich nicht entschuldigen. Es würde wie eine Beleidigung klingen. Das ist nichts, was ich in Worten fassen könnte.”
Alig sollte dann mehrere Perioden in Einzelhaft verbringen, weil er immer wieder bei den Drogentests durchfiel. „In Einzelhaft durch den Entzug zu gehen, war unglaublich”, sagte er. „Ich bin daran ein paar Mal regelrecht zerbrochen.” Um wieder rauszukommen, verletzte er sich vor den Wärtern: „Meine Arme waren total aufgeschnitten”, erinnerte er sich. „Ich habe Klo-Reiniger geschluckt, ich habe meinen Kopf gegen die Wand gehauen, ich habe eine Batterie geschluckt und 120 Tabletten Paracetamol genommen. Es war das erste Mal in meinem eben, dass ich totale Hoffnungslosigkeit spürte—und es gab mir nur noch mehr Gründe, Drogen zu nehmen.”
Heute ist er fest davon überzeugt, dass diese Art der Bestrafung für nicht-gewalttätige Insassen abgeschafft werden sollte. Er berichtete mir, dass er erst vor zwei Wochen eine Rede über dieses Thema vor dem Department of Corrections gehalten habe und dafür stehende Ovationen bekam.
2009, mit 43 Jahren, ging Alig durch eine Mid-Life-Crisis. „Ich dachte, ich würde nie wieder einen Freund oder einen Job haben[, wenn ich rauskomme]”, sagte er. „Ich hatte Angst vor diesen ganzen jungen, kreativen Leuten, mit denen ich nicht mehr mithalten kann. Ich dachte quasi, mein Leben sei gelaufen.” Sein Therapeut sagte ihm, dass er erst wieder nüchtern werden müsse. Alig entschied sich dann dazu, dies als eine Art Herausforderung in Angriff zu nehmen, glaubte aber nicht, dass sich dadurch irgendetwas ändern würde. „Als ich mit den Drogen aufhörte, realisierte ich, dass ich einfach wahnhaft gewesen war.” Alig wandte sich der Kunst zu, was ihm neue Hoffnung gab. „Ich habe Bilder an meiner Zellenwand aufgehängt und alle blieben plötzlich vor meiner Zelle stehen und schauten sich die Farben an. Das war die erste Sache, die mich mehr begeistert hat als Drogen.”
Jetzt, ein Jahr in Freiheit, scheint sich Alig für eine inspirierende Figur zu halten. „Ich bekomme E-Mails und Briefe von Menschen, die kurz vor dem Selbstmord standen”, berichtet er. „Sie fühlten aber, dass sie es schaffen können, weil ich es auch geschafft hatte.” Anderen zu helfen, so erklärte er weiter, sei der Grund, warum er weiterhin in der Öffentlichkeit stehen würde. „Am ersten Tag, als ich nach Hause kam, hatte ich einen existenziellen Moment”, erzählte er. „Ein Teil von mir wollte sich einfach in einer Hütte verstecken; der andere Teil sagte mir, dass ich das machen soll, was ich schon immer tuen wollte.”
„Ich will hier nicht lügen und so tun, als ob mir die Aufmerksamkeit nicht gefallen würde”, gab er zu. „Ich werde mich nicht dafür entschuldigen. Aber ich habe eine kraftvolle Message gefunden. Menschen in ihren 40ern und 50ern sitzen da und denken sich: ‚Warum soll ich mir überhaupt Mühe geben?’ Gib dir Mühe, weil es das Wert ist.”
Auch wenn er unsere Unterhaltung mit etwas Erfreulichem beendet hatte, kreisten während der Heimfahrt düstere Gedanken in meinem Kopf—ich war verloren in einem Nebel aus Ambiguitäten. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass mir die harten Fragen, die ich mir für den Schluss aufbewahrt hatte, helfen würden, etwas Ordnung in die Geschichte zu bringen, aber stattdessen überkreuzten und wanden sich meine Gedanken wie in einem unlösbaren Labyrinth.
Ich stellte alles, was mir Alig gesagt hatte, dem gegenüber, was ich selber herausgefunden hatte. Ja, ich glaube wirklich, dass er in erster Linie vor allem geliebt werden will. Auch wenn er während seinen Erzählungen über den Horror der Einzelhaft seine Fassung behielt, kam er zwei Mal den Tränen nahe, als ich andeutete, dass ihn manche für einen schlechten Menschen halten. Selbst als auf dem Weg zur Haustür raus, war alles, was er wollte, mir die süßen Jungs zu zeigen, mit denen er auf diversen Dating-Apps hin und her schrieb. Ich glaube auch, dass seine Drogenabhängigkeit zum Ende von Melendez Leben und der Zerstörung seines eigenen beigetragen hatte.
Seine inspirierende Message, die er so in der Welt verbreitet, hat allerdings mehr von Eigenwerbung als Altruismus und wird von ihm in der schmierigen Art eines Gebrauchtwagenhändlers verbreitet. Ich habe durchaus meine Probleme damit, Alig abzukaufen, dass er Partys veranstalten will, um ein gutes Vorbild zu sein—genau so wie ich seine Behauptung, Melendez Körper zerstückelt zu haben, um die Jobs seiner Angestellten zu retten, ziemlich absurd finde. Ich bekam auch mit, wie sich Alig in einen Tyrann verwandelte, als er sich von Dream bedroht sah, und ihr Erpressung und journalistisches Fehlverhalten vorwarf, anstatt irgendwie zu verstehen zu versuchen, warum ihn ein paar Leute vielleicht nicht in ihrer Nähe haben wollen.
Soweit ich das sehen konnte, dreht sich alles, was Alig macht und tut—von seinem Interview mit Megyn Kelly bis hin zu seiner Beziehung mit Patrick—am Ende immer nur um ihn. Selbst wenn er anderen hilft, dann ist Aligs Hauptantrieb hinter allem immer noch sein Eigeninteresse. Und auch wenn ihn das nicht direkt zu einem gefährlichen Psychopathen macht, qualifiziert ihn das als einen gerissenen Opportunisten, für den Macht eine sehr gefährliche Waffe sein kann.
Dieser Solipsismus erklärt vielleicht auch Aligs Tendenz, die Wahrheit bis zu einem Punkt zu übertreiben, an dem sie zu einer Lüge wird. Er erzählte mir, dass der Gefängnistherapeut bei ihm eine histrionische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert hatte. Diese wird von der American Psychiatric Association als „ein Muster aus exzessiven aufmerksamkeitsheischenden Emotionen, unangemessen verführerischem Verhalten und einem übertriebenen Verlangen nach Anerkennung” beschrieben. „Mein Therapeut meinte, dass ich der extremste Fall bin, der ihm je untergekommen sei”, sagte er, was an sich schon ein wenig lustig ist. Natürlich würde jemand mit einer histrionischen Persönlichkeitsstörung von sich behaupten, der extremste Fall von allen zu sein.
Wenn sich Alig wirklich vor den Augen seiner Kritiker rehabilitieren und die moralische Schuld tilgen wollen würde, die er in den Augen mancher Menschen noch immer gegenüber der Gesellschaft trägt, scheint irgendein wohltätiges Engagement oder irgendein anderer Einsatz für eine guten Zweck der wohl offensichtlichste Weg. Abgesehen von der Rede über Einzelhaft oder dem Spenden eines Teils seiner Ausstellung konnte mir Alig jedoch keine weiteren Beispiele nennen, die seine Antidrogen-Wiedergutmachungsnarrative weiter untermauerten, die er einem ständig versucht zu verkaufen.
Mehr als der geläutete Drogenabhängiger, Motivationsheld oder irgendeine der anderen neuen Persönlichkeiten, die er für sich erschaffen hat, erscheint mir Alig als geborener Spieler—jemand, der aus einer rückständigen Stadt in Indiana nach New York gezogen und innerhalb weniger Jahre zum König des Nachtlebens aufgestiegen war. Ganz ähnlich verließ er das Gefängnis mit einem Kapitalverbrechen in seiner Akte und ohne Geld oder Jobaussichten; 18 Monate später hat er eine YouTube-Show, eine Partyreihe in Brooklyn, eine Merchandise-Kollektion und eine noch junge Karriere als Maler gestartet—all das, während er noch eine große Fanbasis im Internet aufbaute und durchgängig mietfrei bei anderen Wohnte wohnte.
Als ich anfing, Zeit mit Alig zu verbringen, waren die Diskussionen um seine Partys unglaublich spannend, weil sie komplexe Fragen über Verbrechen und Bestrafung aufwarfen und über die selbstregulierenden Mechanismen des Nachtlebens. Je mehr ich mich aber mit seiner Psyche auseinandersetzte, desto mehr realisierte ich, dass das größte Dilemma an dieser Geschichte gleichzeitig auch mein eigenes war.
Jeder, der regelmäßig seinen wohlverdienten Schlaf für die Götter des Rave opfert, weiß, dass der grenzenlose Spaß auch seine Schattenseiten hat. Das Nachtleben zieht Menschen an, die Extreme mögen, und der ausgelassene Hedonismus kann einen ebenso leicht zu Augenblicken der Transzendenz wie auch in eine Spirale der Drogenabhängigkeit und irreparabler körperlicher Schäden führen. Ich weiß, dass es diese Dunkelheit gibt, weil ich selbst schon mit ihr in Berührung gekommen bin—eingepfercht in Toilettenkabinen auf abgefuckten Afterpartys, wo Line über Line auf Handybildschirmen rumgereicht wird. Ich habe diese Story wahrscheinlich auch deswegen so aufmerksam verfolgt, weil ich sehen wollte, ob das, was mit Alig geschehen war, auch mit mir geschehen könnte. Vielleicht liegt genau darin auch die Faszination, die er auf unsere kollektive Vorstellungskraft ausübt. Er ist die Verkörperung dieser Gefahr, dass Dinge zu weit gehen, dass der Punkt überschritten wird, von dem an es kein Zurück mehr gibt. Das, was Michael Aligs Fall besonders traurig macht—was manche auch als seine eigentliche Strafe ansehen—ist, dass nur er weiß, wie es sich auf der anderen Seite anfühlt, allein, ständig mit der Frage im Hinterkopf, was wohl als nächstes kommt.
Im Herbst 2015 schloss das Lovegun für immer seine Pforten. Seitdem hat Peeew! kein Zuhause mehr. Alig spielt in mehreren Filmen mit, die bald erscheinen werden—darunter auch der Club Kid Zombie Film ZomBikers.
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Dieser Artikel ist zuerst auf THUMP erschienen.
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